Feindliche Pläne und Absichten anlässlich des VI. SED-Parteitags (1)
18. Januar 1963
Bericht Nr. 40/63 über feindliche Pläne und Absichten und feindliche Handlungen auf dem Gebiet der DDR anlässlich des VI. Parteitages der SED
Aus den bisher vorliegenden Informationen über die von feindlichen Geheimdiensten getroffenen Maßnahmen anlässlich des VI. Parteitages1 der SED geht hervor, dass die Geheimdienstzentralen ihre Agenten bis jetzt nur in einem verhältnismäßig geringen Umfang unmittelbar auf den Parteitag oder damit zusammenhängende Fragen orientierten und im Wesentlichen nur allgemein gehaltene Aufträge erteilten.
Neben der allgemeinen Aufforderung, »alles« über den VI. Parteitag zu berichten, wies der US-Geheimdienst seine Agenten an, besonders auf den Besuch bzw. auf die Rolle des Genossen Chruschtschow2 auf dem Parteitag sowie auf eventuelle Anzeichen einer Veränderung der bisherigen Linie der Partei zu achten. In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass – nach einer internen Information – die amerikanische Nachrichtenagentur UPI ihr Nachrichtenbüro in Westberlin um 25 nach Westberlin beorderte Journalisten verstärkt habe. Diesen Journalisten sei der Auftrag erteilt worden, im demokratischen Berlin3 sogenanntes Hintergrundmaterial zu beschaffen, über die Reaktion auf den Parteitag, über die Haltung und Stimmung der Bevölkerung usw. zu berichten.
Aus mehreren dem MfS bekannt gewordenen Aufträgen des Bundesnachrichtendienstes (BND) an seine Agenten geht hervor, dass keine spezielle Orientierung auf den VI. Parteitag erfolgte. Allgemein gehaltene Aufträge des BND, über den Besuch des Genossen Chruschtschow zu berichten, wurden nur in Einzelfällen erteilt.
Wie weiter bekannt wurde, orientiert die Westberliner Dienststelle des Bundesamtes für Verfassungsschutz in ihren Aufträgen zur Einholung von Informationen und Stimmungsberichten im Zusammenhang mit dem VI. Parteitag besonders darauf, welche Vorstellungen die Bevölkerung der DDR über den Besuch des Genossen Chruschtschow hat und ob sie mit bestimmten Ereignissen in der Westberlinfrage rechnet.
An der Staatsgrenze ist bis jetzt keine Zunahme der Provokationstätigkeit festzustellen. Mit Ausnahme des verhinderten Grenzdurchbruchs unter Anwendung der Schusswaffe am 15.1.19634 kam es zu keinen größeren Grenzzwischenfällen. Neben den üblichen Kontaktaufnahmeversuchen wurden in vier Fällen unsere Grenzsicherungsanlagen – ausschließlich durch Westberliner Polizisten – teilweise beschädigt.
Nach längerer Pause traten am 15. und 16.1.1963 die Hetzlautsprecherwagen des Westberliner Senats entlang der Staatsgrenze innerhalb des Stadtgebietes von Berlin wieder in Erscheinung. Die Sendungen beinhalteten im Wesentlichen Hetze gegen den VI. Parteitag und führende Repräsentanten des sozialistischen Lagers, u. a.:
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Brandt5 habe Genosse Chruschtschow eingeladen, um mit ihm über die Westberlinfrage zu sprechen;
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Gen. Chruschtschow befürchte, dass die chinesische Delegation auf dem Parteitag gegen die Sowjetunion auftritt;
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Auf dem V. Parteitag6 sei die ökonomische Hauptaufgabe beschlossen worden – die Bundesrepublik bis 1961 im Lebensstandard einzuholen – dieses Ziel sei jedoch nicht erreicht worden. Jetzt sei man gespannt, was auf dem VI. Parteitag zur »Wirtschafts- und Versorgungskrise« gesagt werde;
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Gen. Chruschtschow wisse, dass Westberlin eine Stadt des Westens bleiben werde.
Außerdem wurde über die Abberufung des Ministers Mewis7 gehetzt.
Im Zusammenhang mit dem Besuch der Parteitagsdelegationen an der Staatsgrenze wurden erstmalig am 14.1.1963 auf Westberliner Seite des Brandenburger Tores, am Potsdamer Platz, in der Invalidenstraße, Wilhelm-/Kochstraße und Charlottenstraße durch die Westberliner Polizei Schilder mit folgender Beschriftung aufgestellt:
»Bleibt nicht an der Mauer stehen, besucht das freie Berlin.«
(Der Text ist in deutscher, russischer, tschechischer, polnischer, bulgarischer, kroatischer und chinesischer Sprache abgefasst.)
Weiter wurde am 14.1.1963 gegenüber dem Brandenburger Tor auf Westberliner Gebiet, ca. 20 m von der Staatsgrenze entfernt, eine Tribüne errichtet, auf der sich ständig mehrere Kameramänner aufhalten, die Aufnahmen von den sich an der Staatsgrenze aufhaltenden Parteitagsdelegationen fertigen. Am 15.1.1963, gegen 8.40 Uhr, erschienen an der Tribüne mehrere Fahrzeuge des Westfernsehens, denen fünf Personen entstiegen, die auf der Tribüne zwölf Filmkameras aufstellten.
In den Seitenstraßen an den KPP wurden verstärkt Westberliner Polizeiposten mit MTW und Funkwagen stationiert. Die Westberliner Besatzer haben ebenfalls Funkstreifenwagen in der Nähe der Übergangsstellen postiert. Nach vorliegenden Informationen wurden die Kräfte an den West-KPP angewiesen, bei einem plötzlichen Auftauchen des Genossen Chruschtschow die Westmächte sofort zu informieren, damit sie bei einem eventuellen Besuch Westberlins den Schutz übernehmen könnten. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass auch von einem Teil der Westberliner Bevölkerung vermutet wird, Genosse Chruschtschow würde eine Fahrt durch Westberlin unternehmen. Die Westberliner Bereitschaftspolizei und Einsatzkommandos wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Außerdem haben die Polizeiinspektionen Einsatzgruppen an die Grenz-Reviere zur verstärkten Grenzsicherung abkommandiert. Entlang der Grenze – vor allem im Stadtgebiet Berlin – wurden in verstärktem Maße Streifen der Westberliner Polizei eingesetzt. Gleiche Feststellungen treffen auch auf die in Westberlin stationierten Besatzer zu. Die Aufklärungstätigkeit der westlichen Militärfahrzeuge im demokratischen Berlin hat sich nicht erhöht. Schwerpunkt bilden die Bezirke Mitte, Treptow, Karlshorst, Köpenick sowie das Gebiet Erkner, wobei zumeist militärische oder Regierungsobjekte beobachtet wurden. In Einzelfällen wurde festgestellt, dass die Fahrzeuginsassen die Werner-Seelenbinder-Halle8 bzw. Objekte beobachteten, in denen Delegierte des VI. Parteitages untergebracht sind. Kontaktaufnahmen mit Bürgern im demokratischen Berlin konnten nicht festgestellt werden.
Die in der Zeit vom 13. bis 16.1.1963 in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem VI. Parteitag der SED erfolgten feindlichen Handlungen in der DDR bestanden hauptsächlich im Anschmieren von Hetzlosungen (20 Fälle), im Verbreiten selbstangefertigter Hetzschriften (drei Fälle mit über 300 Exemplaren) und im Beschädigen oder Abreißen von Fahnen, Plakaten u. Ä. (19 Fälle). Circa 75 % dieser feindlichen Handlungen wurden in Berlin, besonders in den Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Treptow, Weißensee und Mitte, begangen, das damit den absoluten Schwerpunkt darstellt. Andere bezirkliche Schwerpunkte traten – außer Karl-Marx-Stadt beim Beschädigen von Fahnen und Plakaten – nicht auf.
In der Nacht vom 14. auf den 15.1.1963 wurden in den Stadtbezirken Prenzlauer Berg und Weißensee über 300 selbstangefertigte Hetzschriften in der Größe 7 × 10 cm verbreitet. Die Hetzschriften, die gegen führende Funktionäre von Partei und Regierung gerichtet sind, wurden hauptsächlich auf Straßen (Ostseestraße, Hosemannstraße, Erich-Weinert-Straße, Greifswalder Straße, Grellstraße, Schieritzstraße, Paul-Grasse-Straße,9 Lehderstraße, Langhansstraße, Klement-Gottwald-Allee, Behaimstraße und Antonplatz) verstreut, aber auch auf Grundstücke geworfen und in Briefkästen gesteckt.
Ein weiteres mit Druckkasten hergestelltes Hetzflugblatt in der Größe 4 × 10 cm wurde im Werk für Fernsehelektronik in Berlin-Köpenick sichergestellt. Es richtete sich ebenfalls gegen führende Funktionäre und gegen den antifaschistischen Schutzwall.10
Auch die angeschmierten Hetzlosungen hatten in der Mehrzahl diesen Inhalt. Zum Teil wurden sie auf Plakaten zum VI. Parteitag angebracht und mit Hakenkreuzschmierereien versehen. Schwerpunkt war hier ebenfalls Berlin mit 14 derartigen Schmierereien, während aus den Bezirken sechs (Halle, Potsdam, Dresden, Karl-Marx-Stadt je eine, Magdeburg zwei) festgestellt wurden.
An einer Litfaßsäule in der Oranienburger Straße wurden am 10. und nach Entfernung der Schmierereien am 14. und 16.1.1963 jeweils erneut Mordhetze und Hakenkreuze angebracht.
Im VEB Berlin-Projekt (Berlin-Mitte) wurde am 16.1. in der Männertoilette die Hetzlosung »DDR – KZ« in der Größe 37 × 9 cm eingeritzt. Die gleiche Hetze war dort bereits einmal am 14.1.1963 angebracht worden.
Im VEB EAW Treptow wurde am 15.1.1963 eine gegen führende Funktionäre gerichtete Hetzlosung angeschmiert und am 16.1.1963 das Bild eines führenden Funktionärs beschädigt.
Im Zweigwerk Lichtenberg des gleichen Betriebes wurde eine ähnliche Hetzlosung angebracht.
Die Täter für diese feindlichen Handlungen konnten bisher noch nicht ermittelt werden.
Von den insgesamt 19 Fällen des Abreißens und Beschädigens von Fahnen und Plakaten wurden elf in Berlin, sieben im Bezirk Karl-Marx-Stadt und einer im Bezirk Dresden verübt. In Berlin wurden drei Täter festgenommen. (Ein Oberschüler und ein Lehrling, die in der Koppenstraße eine Fahne abrissen, und ein 73-jähriger Wächter, der in der Chausseestraße eine Fahne abriss.)
Im Institut für Strukturforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften z. B. wurden am 13.1.1963 sämtliche auf den VI. Parteitag hinweisende Plakate abgerissen.
Auf dem Bahnhof Lichtenhain11/Karl-Marx-Stadt wurden am 16.1.1963 von Bildnissen führender Funktionäre die Augen ausgestochen.
Neben diesen feindlichen Handlungen wurden zahlreiche anonyme Hetzbriefe festgestellt, in denen außer der üblichen Hetze und Verleumdung in Einzelfällen (z. B. an die SED-Kreisleitung Arnstadt, [Bezirk] Erfurt, und an das MfS – abgestempelt in Westberlin –) auch auf angeblich geplante Attentate gegen Genosse Chruschtschow und Genosse Walter Ulbricht12 »aufmerksam« gemacht wurde.
Am 16.1.1963 wurde in Berlin-Treptow ein 11-jähriger Schüler von einem unbekannten männlichen Täter umgerempelt und ihm mit einem Messer das Pioniertuch abgeschnitten.
Am 17.1.1963, um 15.27 Uhr, entgleisten beim Umsetzen des unbesetzten sowjetischen Regierungszuges auf dem Bahnhof Lichtenberg sechs Waggons. Nach bisherigen Überprüfungen hatten sich ca. 30 m Gleis gelockert. Die Umsetzung erfolgte auf Anweisung des Büros des Reichsbahnpräsidenten Berlin.
Wie bei allen anderen feindlichen Handlungen wurden auch hier die notwendigen Maßnahmen zur Untersuchung und Aufklärung sofort eingeleitet.
Die seit dem 13.1.1963 in der Volkswirtschaft aufgetretenen Brände und Störungen bewegen sich im normalen Ausmaß. Es ist weder von einer Zu- noch Abnahme zu sprechen.
Die bisherigen Untersuchungen dieser Vorkommnisse durch unser Organ ergaben – bis auf einen Fall – keine Hinweise auf feindlich tätige Personen.
Einen gewissen Einfluss auf viele Vorkommnisse übt das lang anhaltende Frostwetter aus (z. B. durch starkes Heizen bestimmter Räume, Überlastungen von Trafos durch Umschalten).
Einige der wichtigsten Vorkommnisse:
Im Zweigbetrieb Schwerin des VEB Kabelwerk Oberspree wurde am 14.1.1963 eine Kabelspritzmaschine durch das Einwerfen einer Wälzlagerstahlrolle in das Innere der Maschine beschädigt.
Die gleiche Maschine, die 1961 aus Westdeutschland importiert wurde, war bereits im Jahre 1962 das Ziel eines Diversionsaktes. (Der damalige Täter wurde inhaftiert.) Alle Anzeichen deuten auf eine erneute Diversion hin. Der entstandene Schaden beträgt ca. 15 TDM,13 der vermutliche Täter wurde bisher nicht ermittelt (operative Maßnahmen wurden eingeleitet).
Am 15.1.1963 entstand im Umspannwerk Halle S 11 ein Trafo-Brand. (Das Umspannwerk versorgt den Stadtteil Halle-Süd sowie einige Betriebe, u. a. den Waggonbau Ammendorf.)
In einem Ölendverschlusskabel trat ein Erdkurzschluss ein. Die bisherigen Untersuchungen ergaben kein Personenverschulden. Der Schaden beträgt ca. 100 TDM. Die Stromversorgung wurde noch am gleichen Tage durch einen Reserveumspanner wieder normalisiert.
Beim Umschalten großer Strommengen auf einen überalterten Trafo entstand am 16.1.1963 ein Trafo-Brand in den Buna-Werken. Die Umschaltung wurde aufgrund des Ausfallens eines anderen Trafos vorgenommen. Der entstandene Schaden beträgt ca. 500 TDM, der Produktionsausfall war nur gering. Untersuchungen durch die zuständige operative Abteilung wurden eingeleitet.
Am 15.1.1963 verbrannte eine Baracke des VEB Marmorwerk Ilmenau, [Bezirk] Suhl.14 Der Brand ist vermutlich durch Schweißarbeiten entstanden, die am 15.1.1963 bis gegen 15.00 Uhr in der Zwischendecke des Gebäudes vorgenommen wurden (Pappverschalung). Der bisherige Schaden beträgt 150 TDM, ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.
Am 14.1.1963 brannte der hölzerne Aufbau eines Ringofens im VEB Ziegelei Brandenburg,15 [Bezirk] Potsdam. Die Ursache ist vermutlich im Funkenflug des Ringofens zu suchen. Es entstand ein Schaden von ca. 35 TDM.
Durch einen Brand wurden am 14.1.1963 vier Brutapparate mit 25 000 Eiern im VEB Elmenhorst, [Kreis Rostock-Land, Bezirk] Rostock vernichtet.16 Der Brand ist durch einen Kurzschluss entstanden. Der entstandene Schaden beträgt 10 TDM.
Am 13.1.1963, gegen 7.00 Uhr, wurde in einem Blindschacht des VEB Steinkohlenwerkes Oelsnitz Erzgebirge, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, Brandentwicklung festgestellt. Schaden und Produktionsausfall entstanden nicht. Der Brandherd hatte sich durch Selbstentzündung von Kohlenresten im Vorsatz gebildet. Die Grubenwehr bekämpfte den Brand erfolgreich und errichtete einen Branddamm. Die Strecke wird zugeschlämmt. Hinweise auf Feindtätigkeit liegen nicht vor.
Außer diesen genannten Vorkommnissen gab es noch einige kleinere Havarien vor allem in Braunkohletagebauen (Kettenrisse, Wagenentgleisungen), die auf Frostschäden zurückgeführt werden müssen.
Durch fahrlässigen Umgang mit offenem Feuer entstanden beim Auftauen eingefrorener Wasserleitungen kleinere Brände vorwiegend in der Landwirtschaft, desgleichen durch überhitzte Schornsteine und übermäßig heiße Infrarotstrahler. Bis auf ein Vorkommnis im Staatlichen Rundfunkkomitee17 (im 5. Stock hatten sich einige Putzlappen entzündet, die sofort wieder gelöscht wurden) traten keine Störungen in Gebäuden auf, die gerade hinsichtlich des VI. Parteitages von Bedeutung sind.