Festnahme einer jugendlichen Untergrundgruppe in Leipzig
22. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 116/63 über die Festnahme einer jugendlichen Untergrundgruppe in Leipzig
Vom MfS wurde am 19.2.1963 eine jugendliche Untergrundgruppe in Leipzig liquidiert und die Jugendlichen [Name 43, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943, Elektroinstallateur, zuletzt Monteur für Mess- und Regeltechnik im VEB Fernmeldeanlagenbau Leipzig, [Name 44, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943, Tischler im VEB Leipziger Werkstätten für Möbel- und Innenausbau, [Name 45, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Packer im Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel, [Name 46, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Elektroinstallateur im Handwerksbetrieb Bretschneider in Leipzig, inhaftiert, während der Rädelsführer [Name 47, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943, Elektromonteur bei der Fa. Henning-Elektroanlagen Leipzig, und das weitere Mitglied der Untergrundgruppe [Name 48, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943, Elektriker im VEB Druckhaus »Einheit« Leipzig (alle wohnhaft in Leipzig) bereits am 15.2.1963 bei der Vorbereitung eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs im Kreis Wismar festgenommen wurden.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben:
Nachdem [Name 47] und [Name 48] bereits in der Nacht vom 26. zum 27.5.1962 in Leipzig N 24, Kohlweg, an eine Garage mit schwarzem Nitrolack die Hetzlosung »Lieber tot als rot«, zwei Hakenkreuze und zwei SS-Runen anbrachten, bildete [Name 47] aufgrund seiner feindlichen Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR im Juli 1962 die illegale Gruppe »Organisation Freies Deutschland – OFD«, der die vorgenannten Jugendlichen angehörten. Die Gruppe stellte sich das Ziel, durch Verbreiten von Hetzflugblättern und Anbringen von Hetzlosungen die Bevölkerung der Stadt Leipzig gegen die Regierung der DDR aufzuwiegeln. Die illegale Gruppe führte insgesamt ca. zehn Zusammenkünfte meist in der Wohnung des [Name 47] durch. Dabei wurde über die Ziele der »Organisation Freies Deutschland« und die durchzuführenden Aktionen beraten. In einer dieser Besprechungen im Juli 1962 forderte [Name 47] die anderen Gruppenmitglieder auf, dass jeder von ihnen eine derartige Gruppe bilden, Aktionen durchführen und ihm Bericht erstatten soll.
Von Juli bis September 1962 wurden im Zimmer des [Name 47] während der Abwesenheit seiner Eltern insgesamt 800 bis 900 Flugblätter hergestellt, die sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und gegen führende Funktionäre richteten. Die Flugblätter wurden mit Kinderdruckkästen angefertigt.
Im Einzelnen wurde von den Mitgliedern dieser Untergrundgruppe am 15.7.1962 mit hellbrauner Ölfarbe in Leipzig C 1, Thomasiusstraße 21 an eine Hauswand die Hetzlosung »Lieber tot als rot – OFD« angebracht.
In der Nacht vom 18. zum 19.7.1962 verbreiteten sie ca. 150 Hetzzettel im Clara-Zetkin-Park in Leipzig C 1 und schmierten mit weißer Ölfarbe an die Brücke im Palmengarten die Hetzlosung »Nieder mit der Diktatur« und in Leipzig C 1, Ferdinand-Lassalle-Straße die Hetzlosung »DDR – KZ«.
In der Nacht vom 26. zum 27.7.1962 brachten sie gleichfalls mit weißer Ölfarbe die Hetzlosung »Mehr essen – OFD« an dem Giebel eines Gebäudes im Naturbad »Bagger« in Leipzig-Thekla an.
Am 9.9.1962 verbreiteten sie ca. 100 Hetzflugblätter in Leipzig C 1 in der Sternwarten-, Seeburg- und Nürnberger Straße.
Für den 7.10.19621 war das Vernichten von Plakaten und das Verbreiten von Hetzflugblättern geplant. So sollten Transparente in Leipzig S 3, Karl-Liebknecht-Straße, Leipzig O 27, Leninstraße und Leipzig O 5, Ernst-Thälmann-Straße mittels von [Name 47] beschaffter Zündschnüre in Brand gesetzt werden. Diese Aktion wurde jedoch nicht durchgeführt, weil die Gruppenmitglieder dadurch eine eventuelle Entlarvung befürchteten. In anderen Besprechungen wurde erwogen, Hetzflugblätter in Hausbriefkästen einzuwerfen und Flugblattaktionen auch in anderen Städten der DDR durchzuführen. Ferner sollte ein von [Name 47] besprochenes Tonband über Stadtfunk abgespielt werden. Dieses sichergestellte Tonband enthält einen Aufruf des [Name 47] an die Bevölkerung der DDR, sich gegen die Regierung der DDR aufzulehnen und passiven Widerstand zu leisten. Außerdem wurde erwogen, Hetzflugblätter mittels Ballons oder Raketen zu verbreiten. Zu diesem Zweck führte [Name 47] verschiedene Experimente durch, um eine entsprechende Raketentreibladung zu erhalten.
Bei den Hausdurchsuchungen wurden beim festgenommenen [Name 47] 432 Hetzflugblätter, zwei Kinderdruckkästen mit drei noch zusammengesetzten Hetzlosungen, zwei Tonbänder, eine schriftliche Konzeption über die »Bekämpfung einer Diktatur«, aus Westdeutschland stammende Hetzschriften, faschistische Literatur und Auszeichnungen der ehemaligen faschistischen Wehrmacht gefunden und beschlagnahmt. Bei fast allen Gruppenmitgliedern wurden westdeutsche Schundliteratur und Farbreste gefunden.
Neben dieser feindlichen Tätigkeit beabsichtigten [Name 47] und [Name 48] bereits seit Mitte 1962, illegal die DDR zu verlassen, um sich der Wehrpflicht2 zu entziehen. Nachdem sie schon im Juli 1962 während eines Besuches in Berlin an der Staatsgrenze Möglichkeiten für einen Grenzdurchbruch auskundschafteten, aber aufgrund der Absicherung von ihrem Vorhaben abgingen, fassten sie nach dem Aufruf zur Musterung des Jahrganges 1943 im Februar 1963 erneut den Beschluss, illegal die DDR zu verlassen. Sie beschlossen, am 14.2.1963 die DDR über das Eis der Ostsee nach Westdeutschland zu verlassen. Sie fuhren mit einem Leihwagen des VEB Taxi Leipzig in den Kreis Wismar und wollten im Raum Boltenhagen ihr Vorhaben verwirklichen. Bei genügender Eisstärke beabsichtigten sie mit dem Leihwagen die Staatsgrenze zu durchbrechen. Sollte das Eis die erforderliche Festigkeit nicht aufweisen, planten sie, unter Ausnutzung der Dunkelheit zu Fuß über das Eis zu flüchten. Aus Sicherheitsgründen hatten sie sich zwei blaue Arbeitskombinationen mit weißer Farbe bemalt, ein Perlonseil gekauft und einen Feldstecher besorgt. Im Wagen führten sie außerdem eine Pistole FN Nr. 4048,3 einen Tesching,4 einen Dolch und 64 Schuss Munition verschiedenen Kalibers mit sich. Den Tesching hatten beide am 12.2.1963 in beschussfähigen Zustand versetzt und in einem Keller in Markkleeberg ausprobiert. Wie [Name 48] dazu aussagte, wollte [Name 47] die Waffen gegen Grenzsicherungskräfte anwenden, falls sie gestellt werden sollten. Beide hatten außerdem in Vorbereitung des Grenzdurchbruches versucht, Handgranaten aus Schwarzpulver herzustellen. Dies gelang jedoch nicht, weil sei keine entsprechende Zündvorrichtung besaßen.
Den Tesching hatte [Name 47] im Januar 1963 von dem [Name 49, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Tapezierer, wohnhaft Leipzig, für 30,00 DM5 gekauft. Gegen [Name 49] wurde ein Ermittlungsverfahren wegen illegalen Waffenbesitzes eingeleitet und [Name 49] festgenommen. [Name 49] bestätigte den Verkauf eines Teschings und gab zu, diese Waffe im Sommer 1962 in einem Schuppen gefunden und nach Säuberung in seinem Zimmer aufbewahrt zu haben. Von der Existenz der illegalen Gruppe will er nichts gewusst haben.
Die Pistole FN Nr. 4048 erhielt [Name 47] im Herbst 1962 von dem 15-jährigen Oberschüler [Name 50, Vorname], wohnhaft in Leipzig W 35, [Straße, Nr.]. Auch gegen [Name 50] wurde ein Ermittlungsverfahren wegen illegalen Waffenbesitzes eingeleitet, ohne ihn, aufgrund seines jugendlichen Alters, zu inhaftieren. In seiner Vernehmung, die in Anwesenheit der Mutter durchgeführt wurde, gab er an, gemeinsam mit seinen Freunden [Name 51], [Name 52], [Name 53] und [Name 54] in der Umgebung von Klinga/Grimma verschiedene Pistolen – darunter auch die Pistole FN – gefunden und damit gespielt zu haben. Die Pistole hatte nach dem Verzug [Name 50] nach Leipzig [Name 54] versteckt. Aus diesem Versteck holte [Name 50] im August 1962 die Pistole und verkaufte sie an [Name 47].
An der weiteren Aufklärung besonders der Beschaffung von Waffen und an der Ermittlung des Gesamtumfangs der feindlichen Tätigkeit und ihrer Ursachen wird gearbeitet.