Festnahme einer jugendlichen Untergrundgruppe in Luckenwalde
3. April 1963
Einzelinformation Nr. 223/63 über die Festnahme von Jugendlichen wegen Untergrundtätigkeit in Luckenwalde, Bezirk Potsdam
Am 13.3.1963 wurden durch das VPKA Luckenwalde aufgrund eigener Ermittlungsergebnisse folgende Personen festgenommen:
[Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1939 in [Ort 1], wohnhaft Luckenwalde, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Lagerarbeiter beim VEB Luwal, Schuhfabrik Luckenwalde; [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1940 in [Ort 2, Staat], wohnhaft Luckenwalde, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Spezialhandwerker beim VEB Erdgas, Erdöl Luckenwalde.1
Da Hinweise auf eine organisierte feindliche Tätigkeit vorlagen, wurde die Weiterbearbeitung des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens vom MfS übernommen.
Weil die Untersuchung der staatsfeindlichen Handlungen von [Name 1] und [Name 2] Hinweise auf weitere Täter ergab, wurden am 21. bzw. 22.3.1963 noch [Name 3, Vorname], geb. 1943, wohnhaft Jüterbog, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Maurer beim VEB Erdgas Erdöl Luckenwalde und [Name 4, Vorname], geb. 1939, wohnhaft Luckenwalde, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Rundfunkmechaniker, inhaftiert.
[Name 3] wurde jedoch am 28.3.1963 unter Anwendung des § 9 Abs. 2 des StEG2 wieder aus der Untersuchungshaft entlassen, weil er wesentlich zur Aufklärung der staatsfeindlichen Handlungen beitrug.
Die bisherige Untersuchung ergab:
Die Beschuldigten gehörten einer in Luckenwalde bestehenden Gruppe von ca. 15 Jugendlichen an, die sich etwa im Jahre 1960 aufgrund gemeinsamer Motorrad-Interessen herausbildete.
Die Gruppe führte zunächst – ohne eine nachweisbare organisatorische Bindung zu haben – gemeinsame Motorradfahrten durch, veranstaltete Trinkgelage in Gaststätten und zettelte verschiedene Schlägereien an. Von einem Teil der Gruppe wurden sexuelle Ausschweifungen unternommen.
Die meisten der zu dieser Gruppe gehörenden Jugendlichen verkehrten vor dem 13.8.1961 – hauptsächlich zu Kinobesuchen – häufig in Westberlin. Nach der Einleitung der Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.19613 wurde innerhalb der Gruppe gegen diese Stellung genommen. Vor allen Dingen wurde Unzufriedenheit darüber geäußert, nicht mehr ungehindert nach Westberlin fahren zu können.
In erster Linie gingen derartige Diskussionen von den Beschuldigten [Name 1] und [Name 2] aus, die auch allgemeine Gespräche über eine mögliche Republikflucht führten. Konkrete Maßnahmen hierzu leiteten jedoch nur [Name 1] und ein gewisser [Name 5] ein, die beide im Herbst 1961 über die Ostsee republikflüchtig werden wollten. Auf dem Wege dorthin erfolgte aber bereits ihre Festnahme. (Gegen [Name 1] wurde eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten, gegen [Name 5] eine solche von vier Monaten verhängt.)
Nach seiner Haftentlassung im Frühjahr 1962 begann der Beschuldigte [Name 1] bei Zusammenkünften der Gruppe staatsgefährdende Propaganda und Hetze zu betreiben. Er verherrlichte den Faschismus, indem er fortgesetzt die faschistische Wehrmacht, die SA, die SS und die Person Hitlers4 als Vorbilder propagierte. Zu diesem Zweck zeigte er den Gruppenmitgliedern unter anderem auch Bilder Hitlers und Mussolinis5 sowie Fotografien faschistischer Offiziere, die er aus westlichen Zeitschriften herausgeschnitten hatte.
Er äußerte wiederholt, in der DDR würde bald eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eintreten und erläuterte auch seine Vorstellungen über das von ihm erwünschte Eintreten derartiger Veränderungen. Zum Beispiel war er der Auffassung, es müssten dann wieder Konzentrationslager eingerichtet werden, wo die jetzigen Funktionäre – hauptsächlich meinte er solche im örtlichen Maßstab von Luckenwalde und VP-Angehörige – nach faschistischem Vorbild gequält werden sollten. Er schilderte sogar Methoden, die er selbst in einem solchen Falle anwenden würde.
Diese feindlichen Vorstellungen und Absichten, als Ausdruck seiner insgesamt ablehnenden Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR, sind vor allem unter dem Einfluss der westlichen Propaganda entstanden.
[Name 1] hat sich vor dem 13.8.1961 viel mit aus Westberlin eingeschleuster faschistischer und militaristischer Literatur, in der Hauptsache »Landserheften«, beschäftigt, die wesentlich zur Herausbildung seiner faschistischen Ideologie beitrug.
Eine bedeutende Rolle spielten ferner ein bei [Name 1] vorhandener Widerspruchsgeist und sein ausgeprägtes Prahl- und Geltungsbedürfnis. Er sagt aus, mit seiner Hetze hätte er bei den Gruppenmitgliedern ein hohes Ansehen gewinnen wollen.
Einen bestimmten Einfluss hatte auch seine negative Haltung gegenüber der Volkspolizei, da er außer seiner Inhaftierung wiederholt mit dieser in Konflikt geraten war (Verkehrsdelikte) und sich von der VP sowie von örtlichen und betrieblichen Funktionären ungerecht behandelt glaubte.
Nach Angaben anderer Beschuldigter schätzten die übrigen Gruppenmitglieder seine hetzerischen Äußerungen als Wichtigtuerei und Geltungssucht ein und machten sich in seiner Abwesenheit besonders über die von [Name 1] betriebene Verherrlichung des Faschismus lustig. Da er aber als ausgezeichneter Motorradfachmann galt, hätten sie sich mit ihm nicht überwerfen wollen und deshalb seinen hetzerischen Äußerungen zugestimmt, ohne selbst derartige Äußerungen zu machen.
Etwa im Juni oder Juli 1962 erklärte [Name 1] mehreren Gruppenmitgliedern, bei Beginn des »Umsturzes« in der DDR müsse man das VPKA Luckenwalde besetzen und den Volkspolizisten die Waffen abnehmen. Die Mitglieder der Gruppe sollten sich in diesem Falle unter Vorwänden nacheinander zur Wache des VPKA begeben und dann geschlossen die diensthabenden Volkspolizisten entwaffnen. Er forderte in diesem Zusammenhang die Gruppenmitglieder auf, sich bei ihm zu versammeln, sobald sie von »Unruhen« in der DDR hörten. Konkrete Erörterungen zu diesem Problem fanden nicht statt. [Name 1] gibt bisher an, keine genaueren Vorstellungen darüber gehabt zu haben.
Ferner erklärte [Name 1] den Gruppenmitgliedern, sie müssten nach der Besetzung des VPKA die führenden Positionen in Luckenwalde einnehmen und die jetzigen Funktionäre für sich arbeiten lassen. An diesen Erörterungen beteiligten sich auch die anderen Anwesenden, indem sie zum Ausdruck brachten, welche Funktionen sie nach dem »Umsturz« einnehmen müssten.
[Name 3] sagte dazu aus, den Jugendlichen habe der Gedanke, nicht mehr arbeiten zu müssen, imponiert, sie seien aber niemals ernsthaft zur Realisierung der von [Name 1] dargelegten Pläne bereit gewesen.
Seit etwa Ende Mai 1962 beschäftigten sich die Beschuldigten mit Plänen zur Vorbereitung eines illegalen Grenzübertritts. Zunächst war diese Absicht bei [Name 1] und [Name 2] vorhanden, die nach einer gemeinsamen Besichtigung der Grenzsicherungsanlagen in Berlin übereinkamen, die Staatsgrenze unter Verwendung von Tauchgeräten zu passieren.
[Name 1] erhielt durch Tausch gegen Sauerstoffflaschen von dem Angehörigen der GST in Luckenwalde [Name 6] ein Tauchgerät westdeutschen Fabrikats. (Über die genaue Herkunft werden noch Untersuchungen geführt.)
Da sich bei Tauchversuchen die Unfähigkeit der Beschuldigten herausstellte, mit diesem Gerät sachgemäß umzugehen, gaben sie ihr Vorhaben, damit die DDR zu verlassen, auf. (Der Beschuldigte [Name 2] hat nach bisherigen Feststellungen keine weitere Vorbereitung zur Republikflucht getroffen.)
Der Beschuldigte [Name 1] suchte mit [Name 3] nach anderen Möglichkeiten des illegalen Grenzübertritts. Er äußerte dabei, eine Ergreifung durch die Grenzpolizei müsse man mit Schusswaffen verhindern. Mehrere der Beschuldigten unternahmen daraufhin Tauchversuche im Schulzensee nach angeblich dort gegen Ende des Zweiten Weltkrieges versenkten Waffen, die ergebnislos verliefen.
Auch der Versuch von [Name 1] und [Name 3], von einem Angehörigen der sowjetischen Armee für 500 DM6 eine Maschinenpistole zu kaufen, scheiterte, da die angesprochenen sowjetischen Soldaten ein derartiges Ansinnen ablehnten.
Daraufhin forderten beide einen Jugendlichen auf, der früher in einem sowjetischen Objekt als Zivilangestellter tätig war und nach ihrer Meinung noch über entsprechende Verbindungen dorthin verfügte, ihnen eine Maschinenpistole zu beschaffen. Nach anfänglicher Zusage erklärte dieser jedoch, keine solchen Möglichkeiten zu haben.
Nach bisherigen Ergebnissen wurden zur Realisierung eines bewaffneten Grenzdurchbruchs, für den noch keine konkreteren Pläne vorlagen, keine weiteren Schritte unternommen.
Etwa im September 1962 begaben sich [Name 1] und [Name 3] mit dem Motorrad nach [Ort 3], Bezirk Magdeburg, zu einem gewissen [Name 7]. (Dieser war [Name 1] bekannt, weil er selbst zeitweise in [Ort 3] wohnte.) [Name 7] sollte für 2 000 DM (Erlös aus dem Motorradverkauf, der zu diesem Zweck von [Name 3] vorgesehen war) eine Grenzschleusung durchführen. [Name 7] sicherte ihnen zu, sich sofort postalisch zu melden, wenn er eine Möglichkeit dazu fände. Eine solche Benachrichtigung war bis zur Inhaftierung der Beschuldigten nicht eingetroffen.
Die Beschuldigten [Name 1], [Name 4] und [Name 3] stellten im Sommer 1962 Sprengkörper aus Schwarzpulver her, das sie sich aus ehemaligen Munitionsbeständen der faschistischen Wehrmacht beschafften. Diese Sprengkörper – insgesamt sechs Stück – brachten sie in der Umgebung von Luckenwalde an Bäumen zur Explosion.
Über Motiv und Zweck dieser Sprengungen sagen die Beschuldigten übereinstimmend aus, sie hätten diese lediglich aus Interesse am Sprengstoff und aus Freude am Explosionsknall durchgeführt.
Im Sommer 1962 äußerte [Name 1], man müsse einmal am VPKA einen solchen Sprengkörper anbringen, unternahm jedoch nach bisherigen Feststellungen keine Schritte zur Ausführung dieses Gedankens.
Im Besitz des Beschuldigten [Name 2] befand sich seit 1959 eine beschussfähige Pistole Kaliber 6,55 mm, die bis zu diesem Zeitpunkt vom verstorbenen Pflegevater [des Name 2] aufbewahrt wurde. [Name 2] überließ diese Pistole mit Munition in den Jahren 1961/62 dem Beschuldigten [Name 1], der gemeinsam mit [Name 4] und [Name 3] wiederholt mit derselben geschossen hat.
Zum Motiv der durchgeführten Schießübungen sagen die Beschuldigten aus, sie hätten diese nur aus Freude am Schießen unternommen.
Bei der Haussuchung wurden bei [Name 1] ein im Schuppen vergrabenes KK-Gewehr ohne Munition, eine Luftdruckpistole, ein Projektil von Bord-MG-Patronen und das bereits genannte Tauchgerät gefunden. (Die Herkunft des KK-Gewehres wird noch aufgeklärt.)
Wie die bisherigen Untersuchungsergebnisse beweisen, trug nicht die gesamte Gruppe staatsfeindlichen Charakter. Die staatsgefährdende Propaganda und Hetze ging von [Name 1] aus, wurde aber von den anderen Gruppenmitgliedern geduldet.
An den übrigen strafbaren Handlungen waren nur die jeweils aufgeführten Personen beteiligt, andere Gruppenmitglieder hatten davon jedoch teilweise Kenntnis.
Es wird noch eingehend geprüft, in welchem Umfang die Hetze die gesamte Gruppe beeinflusste.
Die von den Beschuldigten begangenen Straftaten liegen sämtlich im Zeitraum bis Herbst 1962. Seitdem hatte [Name 1] zu den übrigen Gruppenmitgliedern nur noch lose Verbindung, da er fest mit einem Mädchen verkehrte. Aus ähnlichen oder teilweise beruflichen Gründen lockerten sich auch die Kontakte der Gruppenmitglieder zueinander. Bei den von Gruppenmitgliedern gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit begangenen Handlungen (Verkehrsdelikte, Schlägereien) trat keine Person als besonderer »Anführer« in Erscheinung. Lediglich der Beschuldigte [Name 2] hat wiederholt Schlägereien provoziert.
Die weiteren Untersuchungen werden besonders dahingehend geführt, das Verhalten der anderen Jugendlichen eingehend aufzuklären, um zu entscheiden, in welcher Form eine Auswertung ihres Verhaltens erfolgen muss.
Auch die Verbindungen nach Westberlin – insbesondere vor dem 13.8.1961 – werden noch untersucht, um festzustellen, ob neben der ideologischen Übereinstimmung mit feindlichen Zentren auch direkte, organisierte Verbindungen bestanden.
Ferner werden zur näheren Aufklärung der Personen [Name 6] und [Name 7] entsprechende operative Maßnahmen eingeleitet.