Flucht nach Westberlin mittels Lkw der NVA
30. April 1963
Einzelinformation Nr. 270/63 über einen schweren Grenzdurchbruch mittels Lkw der NVA in Berlin-Mitte, Leuschner-Damm am 29. April 1963
Am 29.4.1963, gegen 0.10 Uhr, erfolgte in Berlin-Mitte, am Leuschner-Damm (gegenüber dem Zentralvorstand des FDGB) ein schwerer Grenzdurchbruch von vermutlich vier Personen mittels eines NVA-eigenen Werkstatt-Wagens G 5,1 polizeiliches Kennzeichen VA 7–7832.
Zum angegebenen Zeitpunkt stellten die in diesem Abschnitt eingesetzten Posten Gefreiter [Name 1] und Soldat [Name 2] fest, dass sich der erwähnte Lkw mit ca. 50 km/h, aus Richtung Michaelkirchplatz kommend, der Staatsgrenze näherte. In Höhe der Fritz-Heckert-Straße wurde durch den Lkw eine Veränderung der Fahrt in Richtung Heinrich-Heine-Straße angezeigt.
Da zur gleichen Zeit wegen der Generalprobe zur Mai-Parade der gesamte Fahrzeugverkehr über diese Fahrtstrecke geleitet wurde, widmeten die Posten dem Lkw keine besondere Beachtung. Das Fahrzeug behielt jedoch die Geschwindigkeit bei und fuhr geradeaus in Richtung Grenze weiter, wo es die Sichtblende und die erste und zweite Drahtsperre durchbrach. Anschließend fuhr der Lkw noch ca. 60 m im 10-m-Kontrollstreifen an der Staatsgrenze entlang und durchbrach in Höhe des Grundstückes Leuschner-Damm 7 die Grenzmauer.
Erst als das Fahrzeug die Sichtblende und eine in der ersten Drahtsicherung eingebaute Eisentür durchbrach, eröffneten die Posten das Feuer und gaben insgesamt fünf Schuss ab. (Als Schusswirkung konnte lediglich ein Einschussloch in der Windschutzscheibe festgestellt werden.)
Der Lkw durchbrach bis zum Aufbau die Mauer und wurde nur durch herabstürzende Mauerplatten und deren Ringverankerung am völligen Durchbruch gehindert. Das Vorderteil des Kfz befand sich jedoch noch auf unserem Gebiet, da erst die Bordsteinkante die unmittelbare Grenze bildet.
Begünstigt wurde der Grenzdurchbruch vor allem durch das späte Reagieren der Posten, die der gegebenen Situation – Verkehrsumleitung – nicht im genügenden Maße Rechnung trugen und weiter durch eine Lücke in der Fahrzeugsperre zwischen der ersten und zweiten Drahtsicherung.
In der ersten Drahtsicherung befindet sich an der Durchbruchstelle ein Eisentor, das von Fahrzeugen der Grenzabteilung2 und der Bewag zu Arbeiten im Gebiet des 10-m-Kontrollstreifens passiert wird. In der Fahrzeugsperre zwischen der ersten und zweiten Drahtsicherung wurde deshalb an dieser Stelle eine Gasse von ca. 3 m Breite freigelassen. Diese Schneise war bis zum 26.4.1963 in einer Art Slalomstrecke angelegt.
Am 26.4.1963 wurde die Kfz-Sperre um zwei Betonplatten erhöht und die Gasse so umgebaut, dass sie vom Eisentor aus in gerader Richtung längs der Staatsgrenze durchfahren werden konnte. Dieser Umbau erfolgte entgegen der Anweisung der Stadtkommandantur und des Kommandeurs der 1. Grenzbrigade, wonach alle Fahrzeugsperren so anzulegen und auszubauen sind, dass kein Durchbruch mittels Kfz erfolgen kann.
Verantwortlich für die pioniertechnischen Maßnahmen in diesem Abschnitt ist der Stabschef der IV. Grenzabteilung, Hauptmann [Name 3]. Der Abschluss der pioniertechnischen Maßnahmen wurde am 27.4.1963 durch den Kommandeur der IV. Grenzabteilung gemeldet.
Nach Aussagen des Hauptmann [Name 3] wird die Gasse in der Kfz-Sperre nur bei Bedarf geöffnet. Durch die in diesem Abschnitt eingesetzten Posten und Kontrollstreifen wurde jedoch bestätigt, dass die Gasse seit dem 26.4.1963 in der angegebenen Breite bestand und nicht geschlossen war.
In der weiteren Untersuchung sowie durch umfassende Fahndungsmaßnahmen nach den Insassen bzw. dem Standort des Lkw wurde Folgendes bekannt:
Der Lkw wurde am 28.4.1963 durch die Flieger [Name 4, Vorname], wohnhaft Berlin C 2, [Straße, Nr.], und [Name 5, Vorname], wohnhaft Berlin C 2, [Straße, Nr.], in einer Garage in der [Straße, Nr.] abgestellt. Beide erhielten am 6.4.1963 von ihrer Einheit – Fliegertechnisches Bataillon 9 in Karlshagen/Peenemünde – den Auftrag, mit dem o. g. Lkw einen Motor in die Kfz-Werkstatt des Vaters von [Name 5] nach Berlin C 2, [Straße, Nr.], zu bringen.
Bei Einfahrt nach Berlin hatte der Lkw jedoch einen Getriebeschaden, sodass er nicht mehr zurückfahren konnte. Mit Genehmigung der Dienststelle wurde in der Werkstatt des [Name 5] das Getriebe ausgebaut und das Fahrzeug abgestellt. Das Getriebe wurde zum VEB OLW in Berlin-Treptow in Reparatur gegeben. Anschließend kehrten [Name 4] und [Name 5] zur Dienststelle zurück.
Am 27.4.1963 wurden [Name 4] und [Name 5] vom Stabsfeldwebel [Name 6], gleiche Dienststelle, mit einem Pkw nach Berlin gebracht, um das Getriebe wieder einzubauen.
Obwohl der Lkw noch nicht fahrbereit war, fuhr Stabsfeldwebel [Name 6] zur Dienststelle zurück und gestattete den Fliegern [Name 4] und [Name 5], das Wochenende in Berlin zu verbringen und sich erst am 29.4.1963 zum Dienstbeginn in der Dienststelle zu melden.
In den Abendstunden des 27.4.1963 hatten [Name 5] und [Name 4] den Einbau des Getriebes beendet, wobei sie von dem im väterlichen Betrieb des [Name 5] beschäftigten [Name 7, Vorname], wohnhaft Berlin C 2, [Straße, Nr.], unterstützt wurden. [Name 5] verschloss den Lkw mit Sicherungsschlüssel und schaltete zur weiteren Sicherung die Batterie ab. [Name 4] – Fahrer des Lkw – erklärte sich damit einverstanden, das Fahrzeug in der zweiten Garage des [Name 5] in der [Straße, Nr.] (gegenüber der Wohnung des [Name 5] [Straße, Nr.]) abzustellen.
Er überließ [Name 5] auch die Schlüssel und Fahrzeugpapiere und vereinbarte, dass [Name 5] ihn am 29.4.1963 gegen 3.00 Uhr abholen soll, um gemeinsam die Rückfahrt anzutreten.
Während sich [Name 4] in seiner Wohnung in der [Straße] aufhielt, schlief [Name 5] am 28.4.1963 in der elterlichen Wohnung in der [Straße, Nr.].
Als [Name 5] am 29.4.1963 gegen 3.00 Uhr das Haus verließ, stellte er fest, dass sich der Lkw nicht mehr in der Garage befand. Nachdem [Name 5] seinen Vater unterrichtet hatte, setzte er [Name 4] vom Fehlen des Lkw in Kenntnis und beide erstatteten am 29.4.1963 gegen 3.15 Uhr im VPR 12 (Inselstraße) Meldung.
Durch die eingeleiteten Maßnahmen wurde ermittelt, dass es sich bei den Tätern um den bereits erwähnten [Name 7, Vorname], wohnhaft Berlin C 2, [Straße, Nr.], sowie um [Name 8, Vorname], [Name 9, Vorname] und [Name 10, Vorname], alle in Berlin C2, [Straße] wohnhaft, handelt. Die Genannten hatten sich am 28.4.1963 gegen 21.00 Uhr in der Wohnung des [Name 9] getroffen und anschließend gemeinsam eine Gaststätte aufgesucht, wo sie größere Mengen Alkohol zu sich nahmen. Nach Verlassen der Gaststätte stahlen sie den Lkw und verübten damit den Grenzdurchbruch.
Die Untersuchung der genauen Ursachen und Umstände des schweren Grenzdurchbruchs sowie die Ermittlung zur Feststellung der Verbindungen der Beteiligten sind noch nicht abgeschlossen.