Flucht nach Westberlin mittels Schützenpanzerwagen der NVA
18. April 1963
Einzelinformation Nr. 250/63 über einen schweren Grenzdurchbruch mittels Schützenpanzerwagen der NVA am 17. April 1963 um 19.42 Uhr in Berlin-Treptow, Elsenstraße, nach Westberlin
Am 17.4.1963, gegen 19.40 Uhr, bemerkte der an der Elsenstraße eingesetzte Postenführer der 5. Grenzabteilung, Gefreiter [Name 1, Vorname], wie sich aus dem eigenen Hinterland ein SPW mit hoher Geschwindigkeit (ca. 60–70 km/h) näherte und anhaltende Hupsignale gab. Der Postenführer nahm an, dass es sich um einen zur Verstärkung der Grenzsicherung eingesetzten SPW handelt. Der SPW durchbrach jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit die aus drei übereinandergelegten Straßenbauplatten bestehende Vorsperre, die Drahtsperre, die Sichtblende und die Grenzmauer. Beim Durchbrechen der Grenzmauer kam der SPW zum Stehen und ragte ca. 50 cm durch die Grenzmauer in Richtung Westberliner Gebiet.
Als der Postenführer bemerkte, dass eine Person aus dem SPW ausstieg, forderte er diese zum Stehenbleiben auf. Nachdem diese Aufforderung nicht beachtet wurde, gab er acht Schuss Einzelfeuer auf diese Person ab.
Zum gleichen Zeitpunkt wurden nach Feststellung des Postenführers von [der] Westberliner Polizei ca. fünf bis sechs Schuss abgegeben. Die flüchtige Person wurde durch die Schüsse verletzt (nach Angaben der Westberliner Presse durch einen Brustschuss und Handdurchschuss), konnte jedoch nach Westberlin entkommen. Im und auf dem SPW wurden Blutspuren festgestellt. Grenzsicherungskräfte der DDR wurden nicht verletzt. Durch die Feuerführung kann es möglich sein, dass eventuell Querschläger auf Westberliner Gebiet flogen und dort Spuren hinterließen.
Auf Westberliner Seite bildete sich nach dem Durchbruch sofort eine größere Menschenansammlung. Außerdem erschien die Westberliner Polizei mit mehreren Funkstreifen/Einsatzwagen und mit Gewehren bewaffnet sowie eine Vielzahl von Zeitungsbildreportern, die Fotoaufnahmen machten.1 Zur Verhinderung von Provokationen wurde von unseren Grenzsicherungskräften ein Wasserwerfer eingesetzt.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass es sich um einen SPW der 1. MSD handelt. Ein Vorkommando der 1. MSD bezog am 16.4.1963 zur Vorbereitung und Durchführung der Mai-Parade das Objekt Magerviehhof/Friedrichsfelde. Sechs SPW dieser Einheit waren in diesem Objekt abgestellt. Gleichzeitig befinden sich im Objekt Magerviehhof die Unterkunftsabteilung Berlin, Teile des zentralen Objektes des MfNV und der Zivilbetriebsschutz.
Der Zivilangestellte und Kraftfahrer der Unterkunftsabteilung Berlin [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1943 in Düsseldorf, wohnhaft Berlin-Karlshorst, [Straße, Nr.], Schulbildung acht Klassen, ein Jahr ABF, Beruf: Wasserwerksfacharbeiter, NVA vom 5.4.1961 bis 1.5.1962, Mitglied der FDJ, ließ sich bereits in den Nachmittagsstunden des 17.4.1963 von dem SPW-Fahrer Soldat [Name 3] in Anwesenheit des G-52-Fahrers Soldat [Name 4] mit dem Hinweis, er sei ebenfalls bei der NVA gewesen, die technischen Daten, das Anlassen und die Fahrweise des SPW erklären.
Gegen 19.00 Uhr hielt sich [Name 2] bei den abgestellten SPW auf und bat den vom Essen zurückkehrenden Soldaten [Name 4], seinen ([Name 2]) Pkw in die Garage zu fahren, offensichtlich, um ihn als einzige in der Nähe befindliche Person von den SPW wegzulocken. Als [Name 4] dies auch nach einer zweiten Aufforderung ablehnte, bestieg [Name 2] den SPW, rief [Name 4] zu, er würde mit dem SPW nach dem Westen flüchten und ließ den Motor an.
Daraufhin begab sich [Name 4] sofort zu seinem Polit-Stellvertreter Oberleutnant [Name 5] und meldete den Vorfall. Danach versuchten beide, [Name 2] die Ausfahrt mit dem SPW aus dem Objekt zu versperren. [Name 2] näherte sich jedoch bereits mit 60 km/h dem Torposten, durchbrach dort die Absperrkette und verließ das Objekt in Richtung Stadt.
Soldat [Name 4] schlug deshalb vor, mit dem Pkw des [Name 2] dem SPW nachzufahren. Oberleutnant [Name 5] erklärte jedoch, dass dies nicht möglich sei, weil es sich um ein fremdes Fahrzeug handelt.
Sofort nach dem gewaltsamen Verlassen des Objektes wurden alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen (VP-Funkstreifeneinsatz, entsprechende Grenzabteilungen) eingeleitet, die aber wegen der Kürze der Zeit erfolglos blieben.
Zur Person des [Name 2]:
[Name 2] weilte bis 1953 in Westdeutschland und kam mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in die DDR. Die Eltern sind alte KPD-Mitglieder und erhielten vom ZK der SED den Auftrag, in die DDR überzusiedeln.
Der Stiefvater [Vorname 1 Name 6] ist als Major im MdI, Abteilung Luftschutz, tätig, und die Mutter, [Vorname 2 Name 6], ist Mitarbeiterin des MfS seit der Übernahme der XV. Verwaltung3 der NVA des MfNV, in der sie tätig war, durch das MfS.
Nach unseren Feststellungen haben sich die Eltern intensiv um die Erziehung des [Name 2] gekümmert. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
Obwohl [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.], nahm er beim UKA Berlin eine Tätigkeit als Kraftfahrer auf. Er fuhr zuletzt den Leiter der UKA Major [Name 7]. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
Auf seiner Arbeitsstelle leistete [Name 2] als Leitungsmitglied der FDJ eine aktive gesellschaftliche Arbeit. Auch in seinem sonstigen Verhalten gab es keine wesentlichen politisch negativen Erscheinungen. Auf vereinzelt vorgebrachte unklare politische Auffassungen haben seine Eltern ständig reagiert, wobei es jedoch auch – [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.] – zu Auseinandersetzungen kam.
Eine derartige Auseinandersetzung gab es letztmalig am 13.4.1963, wobei [Name 2] seinen Stiefvater beschimpfte und die Bemerkung machte, zu seinem leiblichen Vater, einem Opernsänger in Westdeutschland (zu dem aber kein Kontakt bestand) zu wollen. Da er diesen Hinweis in seiner Erregung machte, wurde er von den Eltern nur als belanglose Drohung aufgefasst.
Am 16.4.1963 hat [Name 2] in einer erneuten Aussprache mit seinen Eltern sein Verhalten bei der vorangegangenen Auseinandersetzung bereut, sodass sich bei den Eltern der Eindruck verstärkte, dass es keine ernsthaften Bestrebungen und Ursachen für eventuell erneute [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.] »Kurzschlusshandlungen« gibt.
Weitere Maßnahmen zur Aufklärung möglicher Ursachen und Motive für den gewaltsamen Grenzdurchbruch des [Name 2] wurden eingeleitet.