Flucht von 13 Personen aus dem Eichsfeld in den Westen
25. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 118/63 über einen schweren Grenzdurchbruch von 13 Personen aus der Gemeinde Böseckendorf, [Kreis] Worbis, [Bezirk] Erfurt, am 23. Februar 1963 nach Westdeutschland
Am 23.2.1963, in der Zeit von 1.30 bis 3.00 Uhr, wurden aus der Grenzgemeinde Böseckendorf, [Kreis] Worbis, die Familien [Name 1, Vorname 1] (sieben Personen) und [Name 2, Vorname] (fünf Personen) unter aktiver Beteiligung des Unteroffiziers [Name 3, Vorname], Gruppenführer in der Kompanie Neuendorf, im Bereich der Grenzkompanie Neuendorf/GR Heiligenstadt nach Westdeutschland flüchtig.
Zwischen beiden Familien bestehen enge verwandtschaftliche Bindungen, und Unteroffizier [Name 3] unterhielt ein intimes Verhältnis zu der [Name 1, Vorname 2] und verkehrte in der Wohnung der Eltern der [Name 1].
Die Durchbruchstelle befindet sich ca. 500 m südostwärts der Straße Böseckendorf-Immingerode. Die Flucht aller Personen erfolgte mittels eines Pferdegespanns und eines Pferdeschlittens aus dem Grundstück des [Vorname Name 2], welches am Nordwestrand der Gemeinde Böseckendorf liegt. Der Fluchtweg verläuft aus der Scheune des [Name 2] ca. 300 m parallel zur Straße Böseckendorf – Bleckenrode und von dort in nordostwärtiger Richtung bis zur Durchbruchstelle. Zur Annäherung an die Grenze wurde von den Flüchtigen ein Hohlweg genutzt, der vom Grundstück des [Name 2] zur Straße Böseckendorf – Bleckenrode führt.
Die Überprüfung der Spuren ergab, dass drei Personen dem Schlittengespann vorausgingen, an der Übertrittsstelle drei Felder der Grenzsicherungsanlagen durchschnitten und drei Gassen von insgesamt ca. 30 m Breite schufen. Die an der Sperre verlegten Minen sind zum größten Teil nicht mehr vorhanden, da sie bereits kurze Zeit nach der Verlegung durch Wildwechsel usw. explodierten und in der Folgezeit nicht erneuert wurden.
Wie die Untersuchungen ergaben, wurde die Flucht gewissenhaft vorbereitet. Von den Flüchtigen wurde ein beträchtlicher Teil an Wäsche, Kleidungsstücken, Federbetten und Lebensmitteln in Säcken verpackt und verschnürt mitgenommen. Nach den festgestellten Spuren ist der Pferdeschlitten noch vor Überschreiten der Straße Böseckendorf – Bleckenrode umgefallen. An dieser Stelle wurde neben der teilweise zerstörten Zugeinrichtung des Schlittens auch ein großer Teil von den mitgeführten Gegenständen und mit Hausrat gefüllten Säcken aufgefunden.
Die aktive Mitwirkung des Unteroffiziers [Name 3] bei der Vorbereitung und Durchführung des Grenzdurchbruchs geht aus Folgendem hervor: [Name 3] kannte aufgrund seiner Tätigkeit und Dienststellung das Grenzsicherungssystem und die Postengestellung im Durchbruchsraum. Er war am 22.2.1963 von 12.00 bis 21.00 Uhr im Abschnitt Böseckendorf als Postenführer mit dem Gefreiten [Name 4] eingesetzt und erkundigte sich während dieser Zeit eingehend über den Standort der Signalgeräte, insbesondere, ob das Gebiet, in dem später der Grenzdurchbruch erfolgte, durch ein Signalgerät gesichert sei. Dies wurde von dem Gefreiten [Name 4] verneint. Gegen 13.30 Uhr traf sich [Name 3] im Postenbereich mit dem [Vorname 1 Name 1], mit dem er ca. fünf Minuten sprach.
In der Zeit von 19.30 bis 20.15 Uhr verließ [Name 3] zweimal seinen Postenbereich und traf sich mit seiner Freundin [Vorname 2 Name 1] auf dem Hof des Grundstückes der Familie [Name 1]. Nach seinem Dienst erhielt [Name 3] ab 21.00 Uhr bis zum Wecken Ausgang.
Als er am nächsten Morgen um 8.00 Uhr nicht zum Dienst erschien, wurde bei der Überprüfung festgestellt, dass sich Teile der Uniform des [Name 3] in den verschlossenen Wohnungen der Familien [Name 1] und [Name 2] befanden und beide Familien und [Name 3] nach Westdeutschland flüchtig geworden waren.
Neben der Mitwirkung des Unteroffiziers [Name 3] wurde der Grenzdurchbruch durch folgende Umstände begünstigt:
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Schematische Grenzsicherung im Bereich der Kompanie Neuendorf. Im Abschnitt des Grenzdurchbruches waren keine Posten und Signalgeräte eingesetzt. Die Durchbruchstelle war beiderseitig bis zu einem Kilometer ohne Sicherung und konnte von den eingesetzten Posten nicht beobachtet werden.
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Zum Zeitpunkt des Grenzdurchbruches herrschte starker Nebel, der nur eine Sicht bis ca. 50 m ermöglichte.
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Es gab keine Hinweise über eventuelle Fluchtvorbereitungen. Nach den bisherigen Feststellungen sind die Fluchtvorbereitungen selbst nahen Verwandten unbekannt geblieben.
Im Zusammenhang mit dem schweren Grenzdurchbruch ist zu erwähnen, dass es sich bei [Name 1] und [Name 2] um ehemalige Großbauern handelt, die nach dem Grenzdurchbruch von 53 Personen aus Böseckendorf am 2. Oktober 19611 mit an den damals unternommenen Versuchen zur Zurückgewinnung der flüchtigen Personen teilnahmen.
[Name 2] war seit Gründung stellvertretender Vorsitzender der LPG Böseckendorf; [Name 1] war Viehzuchtbrigadier in der LPG.
Wie erst nachträglich bekannt wurde, verkehrte Unteroffizier [Name 3] vor dem 13.8.19612 des Öfteren in Westberlin, wo er auch Kinoveranstaltungen besuchte. Vor seiner Einstellung in die NVA erhielt er von der Kirche aus Westdeutschland Geschenkpakete. Am 21.2.1963 führte der Kompanie-Chef Hauptmann [Name 5] mit [Name 3] eine Aussprache mit dem Ziel, ihn zur Lösung seiner Verbindung zu der [Name 1, Vorname 2] zu bewegen. Als Begründung wurde von Hauptmann [Name 5] angeführt, dass diese Familie nicht der richtige Umgang für ihn sei. [Name 3] versuchte diese Bedenken zu entkräften und äußerte, dass er schon seinem Vater gegenüber verpflichtet sei, einen gewissenhaften Dienst zu versehen. (Der Vater ist von Beruf Mechaniker und hat eine Ing[enieur]-Planstelle im Rat des Bezirkes Potsdam inne; er ist Mitglied der SED.)
Durch das MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Ursachen und Umstände des schweren Grenzdurchbruches sowie zur verstärkten Grenzsicherung eingeleitet. Die Ortschaft sowie eventuelle Verbindungen zu den flüchtigen Personen werden verstärkt abgesichert.