Fluchtversuch mit tödlichem Ausgang in Berlin, Bezirk Mitte (2)
28. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 809/63 über den gewaltsamen Grenzdurchbruch am 25. Dezember 1963 vom demokratischen Berlin nach Westberlin
Ergänzend zur Einzelinformation Nr. 801/63 vom 26.12. wird mitgeteilt:
Bei den am gewaltsamen Grenzdurchbruch am 25.12. vom demokratischen Berlin1 nach Westberlin beteiligten Personen handelt es sich um die Jugendlichen Schultz, Paul,2 geb. 22.10.1945, Elektrolehrling, wohnhaft Neubrandenburg, [Straße, Nr.], und [Name 1, Vorname 1], geb. [Tag, Monat] 1945, Elektrolehrling, wohnhaft Neubrandenburg, [Straße, Nr.]. Schultz, der bekanntlich in Westberlin an seinen Verletzungen verstorben war, wurde auf Wunsch seiner Angehörigen am 28.12.1963 von Westberlin nach Neubrandenburg überführt und am 30.12.1963 beigesetzt. Die Überführung und Beisetzung verliefen ohne Komplikationen.
Den Angehörigen des Schultz ist dieses Vorkommnis am 26.12.1963 durch Abhören des Westrundfunks bekannt geworden. (Von der gesamten Familie Schultz, insbesondere bei [Vorname 1 Name 2], wohnhaft Neubrandenburg, [Straße, Nr.], wird gemeinschaftlich intensiv Westrundfunk gehört.) Am 26.12.1963, gegen 20.50 Uhr, erschien ein Bruder des Schultz im VPKA Neubrandenburg und teilte mit, dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau und seiner Mutter um 20.00 Uhr über den Sender »Freies Berlin«3 gehört habe, dass ein gewisser Schultz, Paul an einem Grenzdurchbruch in Berlin beteiligt gewesen sei. Da der Name und das genannte Geburtsdatum auf seinen Bruder zutreffen würden, wollte er wissen, ob es sich um seinen Bruder handeln könne. Seine Frage begründete er damit, dass sein Bruder Paul Schultz bereits am 25.12.1963 das Elternhaus verlassen habe und noch nicht zurückgekehrt sei. Über die Absicht seines Bruders, gewaltsam die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen, sei er – nach seinen Angaben – nicht informiert gewesen.
Im Ergebnis durchgeführter Ermittlungen und Befragungen wurden bisher folgende Hinweise auf die Organisierung des gewaltsamen Grenzdurchbruchs bekannt:
Paul Schultz und [Vorname 1 Name 1] verließen nach übereinstimmenden Aussagen ihrer Eltern am 25.12.1963 gegen 5.45 Uhr die elterliche Wohnung. Den Eltern gegenüber erklärten beide, sie wollten mit dem Zug um 6.30 Uhr nach Stavenhagen zur Familie [Name 3], wohnhaft in der [Straße], fahren und in Stavenhagen mit einem Schulkameraden zum Tanz gehen. Diese Begründung erschien den Eltern nicht verdächtig, da in der Vergangenheit zu Feiertagen und anderen Anlässen oft solche Fahrten stattfanden.
Da Schultz und [Name 1] jedoch nicht in Stavenhagen eingetroffen sind, gilt es als sicher, dass beide um 6.36 Uhr mit dem Zug nach Berlin reisten, um hier gewaltsam die Staatsgrenze nach Westberlin zu durchbrechen. Neben dieser Tarnung ihres wahren Vorhabens ergaben sich im Verlaufe der Ermittlungen noch folgende Anhaltspunkte, die auf die Planung und den eventuellen Grund des Grenzdurchbruchs hindeuten.
Am 23.12.1963 bat der Schultz den Elektromeister [Name 4] in Neubrandenburg, bei dem er als Elektrolehrling tätig war, ihm den Lohn für Dezember 1963 schon vor Weihnachten auszuzahlen, da er noch Weihnachtsgeschenke einkaufen wolle. [Name 4] zahlte dem Schultz daraufhin am 24.12.1963 seine 110 DM4 Lohn aus. Von diesem Geld gab der Schultz am 24.12.1963 seiner Mutter [Vorname 2 Name 2], geb. [Name 5], 20,00 DM als Weihnachtsgeschenk. Für [Vorname 3 Name 2], wohnhaft Neubrandenburg, [Straße] und [Vorname 1 Name 2], wohnhaft Neubrandenburg, [Straße, Nr.] hatte er Geschenke gekauft und diese ebenfalls übergeben. Nach Angaben der Mutter war er bei Verlassen der Wohnung noch im Besitz von etwa 40,00 bis 60,00 DM.
[Name 1] hatte vom Elektromeister [Name 6] in Neubrandenburg, bei dem er als Elektrolehrling tätig war, die letzte Lohnzahlung ebenfalls bereits vor Weihnachten erhalten. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hatte er davon seiner Mutter jedoch noch kein Wirtschaftsgeld abgegeben.
Schultz, Paul lebte bei seiner Mutter. Zwischen beiden bestand jedoch ein gespanntes Verhältnis, da der Schultz weitgehend eigene Wege ging, Ratschläge der Mutter nicht respektierte und sie sonst auch nicht sonderlich unterstützte. Gleiche Spannungen bestanden auch zwischen ihm und [Vorname 3 Name 2], da dieser versuchte, die Mutter in der Erziehung des Paul Schultz zu unterstützen. Schultz hat die 10-Klassenschule absolviert und im September 1962 die Lehre bei dem privaten, in seiner politischen Haltung negativ eingestellten Elektromeister [Name 4], aufgenommen. Seine Leistungen waren durchschnittlich. In der letzten Zeit häuften sich Klagen, dass der Schultz der Berufsschule fernblieb, seine schulischen Leistungen nachließen und er in der Schule undiszipliniert auftrat. Sein Berufsschullehrer [Name 7] hatte sich darüber erst Anfang Dezember 1963 bei Elektromeister [Name 4] persönlich beklagt. Bedingt dadurch kam es in der Schule und im Betrieb zu Auseinandersetzungen mit dem Schultz, der außerdem durch das ständige Hören des Westrundfunks negativ beeinflusst war.
In der Familie des Schultz war bekannt, dass der Paul Schultz in der Schule große Schwierigkeiten hatte und er deshalb wiederholt äußerte, dass er in die Fremde, eventuell zum Kombinat »Schwarze Pumpe« gehen wolle, um dort zu arbeiten. Das Nachlassen der schulischen Leistungen und das undisziplinierte Verhalten des Schultz an der Schule war von dem Zeitpunkt an festzustellen, seitdem er mit dem [Vorname 1 Name 1] verkehrte.
Der [Name 1, Vorname 1] ist der Sohn des Genossen [Name 1, Vorname 2], wohnhaft Neubrandenburg, [Straße, Nr.], beschäftigt im VEB Reparaturwerk Neubrandenburg, Mitglied der KPD seit 1924. [Name 1] absolvierte ebenfalls die 10-Klassenschule und begann im September 1962 seine Lehre als Elektriker bei der Firma [Name 6] in Neubrandenburg, [Straße, Nr.]. Er zeigte hier befriedigende Lernergebnisse. [Name 1] war unzufrieden mit seiner Arbeitsstelle, weil er täglich, um den freien Sonnabend herauszuarbeiten, neun Stunden arbeiten musste. [Name 1] zeigte ebenfalls ernsthafte Erscheinungen von Disziplinlosigkeit in der Berufsschule. Nach der letzten Beschwerde des Elektromeisters [Name 6] bei seinem Vater erhielt er von diesem Prügel. Obwohl im allgemeinen Einvernehmen in der Familie [Name 1] herrschte, hat sich der Vater jedoch wenig um seinen Sohn [Vorname 1] gekümmert und zu wenig Einfluss auf ihn ausgeübt. Der Bruder des [Name 1] [Vorname 3 Name 1], war bereits 1958 aus Abenteuerlust und mangelnder politischer Erziehung republikflüchtig geworden; kehrte jedoch 1961 in die DDR zurück, trat positiv auf und verurteilte sein Verhalten von 1958. Er ist verheiratet und arbeitet in Malchin. Ihm gegenüber hat der [Name 1, Vorname 1] bereits vor ca. zwei Jahren zum Ausdruck gebracht, »wenn ich nach Lehrabschluss keinen ordentlichen Arbeitsplatz erhalte, flüchte ich nach dem Westen«.
[Name 1, Vorname 1] und Schultz, Paul arbeiteten in keinen gesellschaftlichen Organisationen mit. Beide unterhielten Verbindungen zu einer Reihe von Jugendlichen in Stavenhagen und Neubrandenburg, deren Charakter noch näher aufgeklärt wird.
Wie durch Briefe des [Name 1] aus Westberlin an seine Eltern bekannt wurde, hat er sich bereits seit ca. zwei Monaten mit dem Gedanken getragen, die DDR illegal zu verlassen. Aufgrund der gesamten Umstände ist einzuschätzen, dass [Name 1] als Initiator für den Grenzdurchbruch anzusehen ist und den Schultz weitgehend zur Teilnahme überredet hat.