Flugblätter/Schmierereien (Bezirke Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Leipzig)
15. Oktober 1963
Einzelinformation Nr. 619/63 über die Aufklärung verschiedener Delikte staatsgefährdender Hetze und Propaganda im Bezirk Leipzig, in Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, und im Stadtgebiet von Erfurt
In den letzten Tagen wurden vom MfS verschiedene Delikte der schriftlichen staatsgefährdenden Hetze und Propaganda in den genannten Bezirken aufgeklärt.
Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Vorkommnisse:
In den frühen Morgenstunden des 9., 10. und 11. Oktober 1963 sind in Regis-Breitingen, [Kreis] Borna, und im Streitwald, [Kreis] Geithain, insgesamt 23 Hetzlosungen, Hakenkreuze und SS-Runen angeschmiert sowie fünf Hetzflugblätter des SPD-Ostbüros1 an Zäunen, Bäumen, Fensterläden und Grundstücksmauern angebracht worden.
Davon waren am 9.10. an neun verschiedenen Stellen in Regis-Breitingen Hetzlosungen, Hakenkreuze und SS-Runen und am 10.10. sieben Hetzlosungen angeschmiert und fünf Hetzflugblätter des SPD-Ostbüros in Regis-Breitingen mit Reißzwecken befestigt worden.
Am 11.10.1963 wurden im Streitwald sieben Hetzlosungen und Hakenkreuze angeschmiert.
Zum Schmieren der Hetzparolen, Hakenkreuze und SS-Runen war weiße Schulkreide benutzt worden.
Die Hetzlosungen verherrlichten den Faschismus, richteten sich gegen die bevorstehenden Wahlen2 und gegen die Stationierung sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der DDR.
Der Text lautete z. B. »Wahlen will keiner. Das ist Unsinn. Der Sozialismus wird nicht siegen. Hitler3 wird siegen« u. Ä.
Als Täter wurde der [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1934 in Altenburg, wohnhaft in Regis-Breitingen, [Straße, Nr.], zuletzt tätig als Gleisbauarbeiter im VEB BKW Regis, Braunkohlentagebau Schleenhain, organisiert im FDGB, keine Vorstrafen, ermittelt und festgenommen. Bei der Festnahme wurden zwei weitere Hetzflugblätter des SPD-Ostbüros sichergestellt. [Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie. Er besuchte acht Jahre die Volksschule, wurde jedoch aus der 4. Klasse entlassen. Die Arbeitsmoral des [Name 1] wird als schlecht eingeschätzt. Vom Januar bis September 1963 fehlte er in seinem Betrieb wiederholt unentschuldigt und musste mehrmals umgesetzt werden. Am 9.10.1963 wurde er als Gleisbauarbeiter fristlos entlassen. Vor seiner Dienstzeit bei der KVP/NVA – von 1952 bis 1958, letzter Dienstgrad Stabsgefreiter – war er bei acht verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben als Landarbeiter tätig. [Name 1] hat zwei Kinder, von seiner Ehefrau ist er das zweite Mal geschieden, lebt aber weiter mit ihr zusammen. Da [Name 1] häufig über Kopfschmerzen klagte, wurde er von seinem Betrieb zu einem Nervenspezialisten verwiesen, der jedoch keinen Krankheitsbefund feststellte. Als Motiv seiner Tat gibt [Name 1] an, er habe beabsichtigt, die Bevölkerung einzuschüchtern. Weitere Maßnahmen zur Aufklärung der feindlichen Handlungen des [Name 1] und der Täterpersönlichkeit wurden eingeleitet.
Seit dem 5.10.1963 wurde in mehreren Fällen im Stadtgebiet von Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, an öffentlichen Gebäuden mit weißer Kreide Hetzlosungen angebracht, die sich im Wesentlichen gegen die DDR und die bevorstehenden Volkswahlen richten. Der Täter konnte in der Nacht vom 11. zum 12.10.1963 auf frischer Tat festgenommen werden. Es handelt sich um den [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1938 in Zwickau, wohnhaft Zwickau, [Straße, Nr.], Sohn eines Kohlenhändlers, zzt. Student im 3. Studienjahr an der Bergbauingenieurschule in Zwickau. [Name 2] war bis zu Studienbeginn als Hauer im VEB Steinkohlenwerk »Karl Marx«4 in Zwickau tätig. Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass es sich bei [Name 2] um einen Menschen handelt, der feindlich zu unserer Gesellschaftsordnung eingestellt ist. Bestärkt wurde er in seiner Auffassung durch die Sicherheitsmaßnahmen vom 13.8.1961.5 Seine feindliche Einstellung führte letzten Endes zu den o. g. Handlungen. Den jetzigen Zeitpunkt sah er in Anbetracht der bevorstehenden Volkswahlen als besonders günstig für eine derartige Tätigkeit an. Die weiteren Untersuchungen werden besonders unter dem Gesichtspunkt geführt festzustellen, ob an den staatsfeindlichen Handlungen noch andere Personen beteiligt waren.
Seit dem 20.9.1963 tauchten im Stadtgebiet von Erfurt – vorwiegend jeweils am Wochenende – mit Schreibmaschine gefertigte Hetzflugblätter (Größe DIN A5 und A6) auf. Bei der Herstellung wurde normales weißes Schreibmaschinen- bzw. gelbes Durchschlagpapier verwendet. Die Verbreitung der Hetzflugblätter erfolgte auf nachts wenig belebten Straßen durch Einwerfen in Hausbriefkästen und Ankleben an Litfaßsäulen, Häusern und Zäunen. Der Inhalt richtete sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR – speziell aber gegen die bevorstehenden Volkswahlen. Die vom MfS eingeleiteten Maßnahmen führten am 11.10.1963 zur Festnahme des [Name 3, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1943 in Berlin, wohnhaft Erfurt, [Straße, Nr.], beschäftigt als Tischler im HO-Warenhaus Erfurt. Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass [Name 3] über 300 Hetzflugblätter mit dem Ziel angefertigt hat, die Bürger Erfurts vom Gebrauch ihres Wahlrechts abzuhalten. [Name 3] gibt an, durch ständiges Abhören von NATO-Sendern6 sowie durch Lesen mittels Ballon eingeschleuster Hetzschriften zu seinen feindlichen Handlungen inspiriert worden zu sein. Bei [Name 3] handelt es sich um ein mehrfach vorbestraftes kriminelles Element. Er wurde erst im Juli 1963 aus einjähriger Haft entlassen. [Name 3] hat mehrere Jahre in Jugendwerkhöfen7 verbracht und war von 1960 bis 1962 republikflüchtig.
Die Aufklärung der Verbreitung von Hetzflugblättern im demokratischen Berlin8 befindet sich im Abschlussstadium. Zum gegebenen Zeitpunkt wird über die Aufklärungsergebnisse berichtet.