Havarie in einer Mischdüngerfabrik in Sondershausen, Bezirk Erfurt
21. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 789/63 über eine Havarie in der Mischdüngerfabrik des VEB Kali-Werk »Glückauf« Sondershausen, [Bezirk] Erfurt
Am 19.12.1963, um 3.35 Uhr, stürzte aus bisher noch nicht geklärten Gründen ein im Jahre 1927 erbauter Säureturm der Mischdüngerfabrik des VEB Kali-Werk »Glückauf« Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, um. Dabei wurden das seitlich vom Säureturm liegende Gebäude der Verbrennungsanlage quer durchschlagen und von acht darin vorhandenen Verbrennungselementen drei vollständig zerstört.
Insgesamt sind in der Mischdüngerfabrik dieses Betriebes sieben Säuretürme zur Herstellung von Salpetersäure vorhanden. Davon wurden fünf Türme im Jahre 1927 und zwei Türme im Jahre 1963 erbaut.
Der umgestürzte Turm hatte eine Höhe von 34 m und einen Durchmesser von 8 m. Der Turm war aus Granitblöcken erbaut, die durch Eisenbandagen verbunden waren. Das Gesamtgewicht ohne Fundament belief sich auf 2 900 t und stand auf einem 10-eckigen, 4,50 [Meter] tief gegründeten Betonfundament mit Stahlarmierung.
Durch das zeitweise Austreten von 40 %iger Salpetersäure aus den Fugen der Granitummantelung war die darunter befindliche Stahlbeton-Konstruktion ständigen Säureeinwirkungen ausgesetzt. Dies führte im Laufe der Jahre zu erheblichen Verfallserscheinungen an der Betonverkleidung der Fundamente dieses Turmes. Aufgrund dieser Tatsache hatten, wie die bisherigen Untersuchungen ergaben, die Beschäftigten in der Mischdüngerfabrik schon wiederholt auf den ungenügenden bautechnischen Zustand des Turmes hingewiesen. Vonseiten des Werkes wurde daraufhin am 1.12.1961 eine bautechnische Untersuchung des Turmes 5 vorgenommen, die die von den Beschäftigten geäußerten Bedenken bestätigte.
Im Interesse der Aufrechterhaltung der Betriebssicherheit wurde daraufhin vom VEB Kali-Werk »Glückauf« der vom Ministerium für Bauwesen der DDR zugelassene Bausachverständige Prof. Dr. H. Zeidler1 aus Weimar beauftragt, ein bautechnisches Gutachten über die Standsicherheit abzugeben. In diesem Gutachten (Nr. 173/62 vom 7.2.1962) wurde zum Ausdruck gebracht, dass der Unterbau der Türme einwandfrei und für die darauf befindlichen Lasten voll tragfähig ist. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass die sehr tiefliegenden Fundamentteile von durchgesickerter Säure angegriffen sein könnten. Untersuchungen, die vom Kali-Werk selbst durchgeführt wurden, hätten diese Feststellung jedoch widerlegt.
Außerdem ergab die bisherige Untersuchung, dass in den letzten Monaten der unter dem Turm 5 befindliche säurefeste Fliesenbelag entfernt und nicht wieder ordnungsgemäß verlegt wurde. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, dass unkontrollierte Mengen Säure in den Erdboden eindringen und am Fundament wirksam werden konnten.
Der entstandene Schaden untergliedert sich nach vorläufigen Ermittlungen in folgenden Sachschaden:
- 1.
Kosten eines neuen Säureturms einschließlich Ausrüstung und Montage 455 TDM,2
- 2.
Kosten von drei neuen Verbrennungselementen einschließlich Platinausrüstungen und Montage 345 TDM,
- 3.
Gebäudeschaden einschließlich Rohrleitungen 460 TDM. Gesamtsachschaden insgesamt: 1 260 TDM.
Der durch diese Havarie momentan entstehende Produktionsausfall beträgt bis auf Weiteres täglich 57,2 t Kalkammonsalpeter3 (bezogen auf Stickstoffbasis), was einen Wert von 66,6 TDM ausmacht.
Es wird jedoch eingeschätzt, dass nach Beendigung der Aufräumungsarbeiten kurzfristig die Produktion in einer Höhe von 80 % der alten Kapazität wieder aufgenommen werden kann, wenn rechtzeitig die dazu erforderlichen Werkstoffe (V 2a–Stahl4 und Montagekapazität vom VEB Chema Rudisleben) zur Verfügung gestellt werden können. Dadurch würde sich der tägliche Ausfall auf 11,5 t Kalkammonsalpeter (bezogen auf Stickstoffbasis) mit einem Wert von 13,3 TDM verringern. Wann eine teilweise Produktion von Kalkammonsalpeter wieder aufgenommen werden kann, ist zzt. noch nicht abzusehen, weil noch keine Übersicht darüber besteht, wie lange die Aufräumungs- und Montagearbeiten in Anspruch nehmen werden. Eine Auswirkung auf das Exportprogramm entsteht durch den Produktionsausfall nicht, da der im VEB Kali-Werk »Glückauf« produzierte Kalkammonsalpeter nur im Inland abgesetzt wird. Inwieweit Auswirkungen auf die Produktion des gesamten Kali-Werkes entstehen, wird eine weitere angeordnete Untersuchung erst ergeben.
Da durch die Trümmer des eingestürzten Turmes und die gegenwärtig noch auftretenden Nitrosengase für die nächsten Tage der Zutritt zum Fundament noch nicht möglich ist, können am Fundament des Turmes 5 zzt. noch keine unmittelbaren Untersuchungen geführt werden. Gegenwärtig erfolgt unter Einsatz modernster technischer Mittel der NVA die Beseitigung der Gesteinsmassen, um das Fundament freizulegen.
In einer gemeinsamen Beratung der Verantwortlichen der VVB Kali des Kali-Werkes und der Bergbehörde5 wurde eine Expertengruppe gebildet, die unmittelbar nach der Freilegung des Fundamentes die notwendigen technischen Untersuchungen führen wird, um die wirklichen Ursachen aufzudecken.
Während dieser Lagebesprechung argumentierte der Vertreter der Staatlichen Bauaufsicht, dass in der DDR außer dem Prof. Zeidler, der das Gutachten erarbeitete, angeblich keinerlei Fachexperten zur Begutachtung eines solchen Vorkommnisses vorhanden seien.
Um zu gewährleisten, dass durch die Arbeit der Expertenkommission die wirklichen Ursachen aufgedeckt werden, wurden vom MfS die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet, um bei der Beräumung der Havariestelle zu gewährleisten, dass keine Spuren, die Hinweise auf die Ursache der Havarie geben können, verwischt werden. Seitens des Kreisstaatsanwalts wurde ein E-Verfahren6 eingeleitet.