Kritik an neuen Beschränkungen für die Anwohner des Grenzgebiets (1)
25. Juni 1963
Einzelinformation Nr. 394/63 Stimmung zu den Verordnungen der Regierung der DDR vom 21. Juni 1963 und über damit im Zusammenhang stehende feindliche Handlungen
Dem MfS bisher vorliegende Hinweise lassen folgende erste Einschätzung über die Stimmung der Bevölkerung bzw. unter den Grenzsicherungskräften zu:
Vom überwiegenden Teil unserer Bevölkerung werden die Verordnungen1 des Ministerrates begrüßt. Übereinstimmend kommt dabei zum Ausdruck, dass sich dadurch die Sicherheit der Bewohner des Grenzgebietes erhöht und den Störversuchen und Anschlägen durch westliche Agentenorganisationen ein weiterer Riegel vorgeschoben wird.
Dabei werden die neuen Sicherungsmaßnahmen bei vielen Meinungsäußerungen mit den letzten aktuellen Ereignissen in Verbindung gebracht, wie
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Besuch des USA-Präsidenten Kennedy2 in Westdeutschland bzw. Westberlin,
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Verhaftungen und schikanöse Maßnahmen gegen DDR-Journalisten in Westdeutschland,3
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Sprengstoffanschläge gegen das Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel durch Westberliner Banditen.4
Eine Reihe von Einwohnern der Stadtbezirke Treptow und Friedrichshain, die durchaus positiv zu den neuen Maßnahmen steht, fordert in diesem Zusammenhang eine stärkere Kontrolle der Ausländer sowie Unterbindung der Möglichkeit, als Westberliner Bürger mit einem westdeutschen Ausweis das demokratische Berlin5 zu betreten.
Ein Teil der von den Maßnahmen unmittelbar betroffenen Bevölkerung verhält sich vorerst abwartend, da der Umfang der sich ergebenden Konsequenzen noch nicht voll erkannt wird.
In einer Reihe von Fällen ist diese Haltung auch darauf zurückzuführen, dass der genaue Wortlaut der Verordnungen noch nicht bei allen Bürgern bekannt ist. Zum anderen wartet man ab, welche praktischen Auswirkungen daraufhin eintreten.
Über einige organisatorische Fragen sind jedoch Unklarheiten vorhanden, die sich vorwiegend in folgenden Argumenten ausdrücken:
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Regelmäßige Besuche im unmittelbaren Grenzgebiet seien unmöglich geworden, welche Personenkreise erhalten überhaupt Passierscheine und wie verhält man sich gegenüber Besuchern aus Westdeutschland.
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Nach Abschluss der Registrierung werde man einen Teil der Grenzbewohner aussiedeln. (Durch Einfluss der NATO-Sender6 hat sich besonders unter älteren Bürgern teilweise eine regelrechte »Angstpsychose« zu diesem Problem verbreitet.)
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Für Handwerksbetriebe und Einzelhändler sei mit einem Rückgang der Aufträge bzw. des Umsatzes zu rechnen, da große Teile der bisherigen Kundschaft außerhalb des unmittelbaren Grenzgebietes ansässig sind. Auch für andere Dienstleistungsbetriebe (z. B. Kohlenhandel) sei mit ähnlichen Schwierigkeiten zu rechnen. (Besonders stark treten solche Argumente im Bezirk Potsdam auf. Teilweise wird dabei zum Ausdruck gebracht, das Geschäft oder den Handwerksbetrieb im Grenzgebiet aufzugeben und außerhalb wieder zu eröffnen.)
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Das Beste wäre, aus dem Grenzgebiet zu verziehen, denn ein großer Verwandten- oder Bekanntenkreis bringt für alle Beteiligten nur Schwierigkeiten mit sich. (Solche Argumente sind vorwiegend unter Angehörigen der Intelligenz im Bereich Potsdam – Kleinmachnow zu verzeichnen. Auch beim Rat des Stadtbezirks Mitte stellten bisher 40 Personen Antrag auf Umzug.)
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Die Maßnahmen zur stärkeren Grenzsicherung seien nur als vorübergehende Angelegenheit zu betrachten, mit Beendigung des Kennedy-Besuches werde man sie wieder rückgängig machen.
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Die Arbeiter im Grenzgebiet müssten zukünftig – analog der Regelung an der Staatsgrenze West – eine entsprechende Lohnzulage erhalten.
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Für die Versorgung der betroffenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln könnten Schwierigkeiten entstehen.
Vereinzelt treten Fragen auf, die im Wortlaut der neuen Verordnungen nicht konkret angesprochen wurden und einer persönlichen Klärung mit den betreffenden Personenkreisen bedürfen.
Es handelt sich um solche, wie:
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Sind zukünftig Besuche von Elternversammlungen in Schulen der Sperrgebiete durch nicht dort ansässige Bürger möglich? (Fragen in ähnlicher Richtung betreffen die Kindergärten.)
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Kann man regelmäßig die Friedhöfe im unmittelbaren Grenzgebiet betreten?
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Was geschieht mit den Kleinkindern, die bisher durch außerhalb des Grenzgebietes wohnhafte Angehörige betreut wurden.
Die neuen Sicherheitsmaßnahmen waren in einer ganzen Anzahl von Fällen Anlass zu ablehnenden, zum Teil ausgesprochen feindlichen Äußerungen, die unzweifelhaft auf die politisch-ideologische Diversion7 des Klassengegners zurückzuführen sind.
Im Wesentlichen lassen sie sich auf folgende Kernfragen reduzieren:
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Die neuen Grenzsicherungsmaßnahmen versucht man zwar mit einer verstärkten Revanche- und Provokationstätigkeit von westlicher Seite aus zu begründen, in Wirklichkeit sollten damit aber nur weitere R.-fluchten verhindert werden. Zu diesem Zweck werde die Regierung der DDR das Grenzgebiet zu einer »toten Zone« machen und alle Einwohner aussiedeln.
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Die von der Regierung der DDR abgegebene Begründung für die Einleitung der Sicherungsmaßnahmen »sei nicht einleuchtend und nur ein Vorwand«. So viele Westagenten gäbe es gar nicht, die Zeitungen in der DDR »bauschten bestimmte Einzelfälle nur auf«. Auch der Sprengstoffanschlag im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel sei nur ein »Vorwand«, in Wirklichkeit »sei er von uns selbst organisiert worden, um neue Maßnahmen begründen zu können«.
Ziemlich umfangreich sind solche Diskussionen, die die neuen Sicherungsmaßnahmen als »Einschränkung der persönlichen Freiheit« bezeichnen. Sie gipfeln in solchen Behauptungen, im Sperrgebiet werde man zukünftig »wie ein Gefangener« behandelt, dass die ganze DDR bald »nur noch ein einziges Gefängnis« sei.
Diskussionen in dieser Richtung führten vorwiegend ehemalige Grenzgänger8 und Personen mit starken verwandtschaftlichen Bindungen nach Westberlin.
Sehr verbreitet sind solche und ähnliche Auffassungen unter Kulturschaffenden, DEFA, Angehörigen der Intelligenz sowie Mitarbeitern der Verwaltungsakademie »Walter Ulbricht«, die im Gebiet Potsdam-Babelsberg und Griebnitzsee ansässig sind.
Vereinzelt wird die Einleitung neuer Grenzsicherungsmaßnahmen als Vertiefung der Spaltung Deutschlands betrachtet. Anstatt »die Grenzen zu öffnen, verstärke man sie jetzt noch«.
Es sei schon schlimm genug, die Verwandten in Westberlin nicht besuchen zu können, nun brauche man selbst innerhalb des demokratischen Berlin Passierscheine.
Im Bezirk Potsdam tauchten in den letzten Tagen vereinzelt Gerüchte auf, die besagen, mit der Einrichtung eines 500-m-Schutzstreifens seien die Maßnahmen nicht abgeschlossen, vielmehr sei geplant, eine 5-km-Sperrzone zu errichten und diese zum »Niemandsland« zu erklären.
Zusammenfassend über die aufgetauchten Meinungen ist einzuschätzen, dass diese vorwiegend bei solchen Personen auftreten, die unmittelbar oder mittelbar von den Maßnahmen betroffen werden.
Personen, die nicht im Grenzgebiet wohnhaft sind bzw. keine Verwandten dort zu wohnen haben, sprechen kaum über die neuen Grenzsicherungsmaßnahmen.
Die Situation unter den Grenzsicherungskräften beweist, dass beim Großteil die neuen Sicherungsmaßnahmen politisch richtig verstanden werden. Der bisherige Verlauf der Aktion zeigte eine gute Einsatzbereitschaft, die gestellten Aufgaben werden gewissenhaft durchgeführt.
Vereinzelt traten Zweifel an der Wirksamkeit dieser Maßnahmen im Grenzgebiet auf. Einige Meinungen besagten, die Verordnungen der Regierung stünden im Widerspruch zum Kampf um die Lösung der nationalen Frage.
Verschiedentlich bringen Angehörige der Grenzsicherungsorgane zum Ausdruck, diese neuen Maßnahmen könnten eine Verschlechterung der Verhältnisse der Grenzbevölkerung zu den Sicherungskräften nach sich ziehen.
Eine Reihe von Grenzsoldaten diskutierte im Zusammenhang mit den neuen Maßnahmen Fragen, die persönliche Belange betreffen, so z. B.
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den besuchsweisen Aufenthalt von Angehörigen oder Bekannten der Grenzsicherungskräfte im Sperrgebiet,
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ihre persönliche Bewegungsfreiheit im unmittelbaren Grenzgebiet,
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die Notwendigkeit des Überganges zum 12-Stunden-Dienst sowie bestimmte Urlaubsbeschränkungen.
Negative Äußerungen tragen ausschließlich Einzelcharakter und beinhalten das Bestreben einzelner Soldaten, zukünftig an der Grenze keinen Dienst mehr tun zu müssen.
Die provokatorischen Handlungen von Westberliner Gebiet aus haben seit dem Einleiten der neuen Grenzsicherungsmaßnahmen im Verhältnis zum vorhergehenden Zeitraum nicht zugenommen.
Versuchte Kontaktaufnahmen, einzelne Aufforderungen zur Fahnenflucht und einzelne feindliche Handlungen in Form der Verbreitung von Hetzflugblättern, Zerstörungshandlungen an Grenzsicherungsanlagen in Einzelfällen durch Westberliner Jugendliche charakterisieren die allgemeine Lage.
Die auf DDR-Gebiet erfolgten feindlichen Handlungen gegen die neuen Grenzsicherungsmaßnahmen richteten sich bisher gegen die Beschilderungstafeln (Zerstörungen und Unkenntlichmachungen) und gegen die amtlichen Plakate (Zerstörungshandlungen und Beschmieren mit hetzerischen Losungen).
Diese Form der offenen Feindtätigkeit konzentriert sich auf den Stadtbezirk Mitte sowie in einigen Stadtrandgebieten (Schönefeld/Altglienicke/Falkensee).
In einem Fall wurden insgesamt 120 selbstgefertigte Hetzflugblätter sichergestellt, welche am 23.6.1963 in den Nachmittagsstunden zwischen 15.00 und 16.30 Uhr aus der fahrenden U-Bahn Linie A (zwischen Schönhauser Allee und Vinetastraße), auf der S-Bahn-Strecke zwischen Warschauer Straße und Schöneweide und in der Bedürfnisanstalt am Alexanderplatz verbreitet wurden.
Die Hetzschriften wurden handschriftlich und mittels Schreibmaschine angefertigt.
Ihr Inhalt richtet sich gegen die Partei, enthält die Aufforderung zur Beseitigung der Grenzsicherungsanlagen und die Forderung nach »freien Wahlen«.
Vom MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur Ermittlung der Täter eingeleitet.