Kritik an neuen Beschränkungen für die Anwohner des Grenzgebiets (2)
2. Juli 1963
Einzelinformation Nr. 412/63 über Stimmung zu den Maßnahmen der Regierung der DDR vom 21. Juni 1963 und damit im Zusammenhang stehende feindliche Handlungen
Zusätzlich zur Information vom 25.6.1963 wurden dem MfS folgende Hinweise bekannt:
Die Diskussionen über die Maßnahmen der Regierung der DDR vom 21.6.19631 zur besseren Sicherung der Grenze nach Westberlin sind merklich zurückgegangen.
Nach der umfassenden Aufklärung vor allem der betroffenen Personenkreise wird fast ausschließlich positiv darüber gesprochen.
Lediglich zu einigen organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung der neuen Maßnahmen, die von den Sicherungskräften bzw. der VP noch nicht restlos geklärt werden konnten, treten noch unklare bzw. negative Diskussionen auf.
Bei diesen Problemen, die offensichtlich noch einer generellen Klärung durch die Staatsorgane bedürfen, stehen folgende Fragen im Mittelpunkt:
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Auf welche Weise geschieht zukünftig die Versorgung der im Grenzgebiet liegenden Betriebe mit Rohstoffen und Material, das von außerhalb – auch aus der Republik – herangebracht wird?
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Erhalten die Milchfahrer des VEB Güterkraftverkehr einen Dauerpassierschein zum Befahren des Grenzgebietes? Teilweise wurden die Milchkannen bisher einfach am Schlagbaum abgesetzt und von Grenzpolizisten zu den einzelnen Geschäften getragen.
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Müssen sich die in den Kundenlisten der Verkaufsstellen im Grenzgebiet erfassten Bürger generell in außerhalb liegenden Läden eintragen lassen? (In Geschäften der HO-Lebensmittel Pankow erfolgte bereits eine solche Orientierung.)
Nach wie vor gibt es ähnliche Fragen in Bezug auf die Regelung der Müllabfuhr, ärztliche Betreuung und auf den Besuch von Gartengrundstücken im Grenzgebiet durch außerhalb wohnende Besitzer.
Unverständnis besteht bei einer ganzen Anzahl von Bürgern über die Einstellung bereits begonnener Sicherungsarbeiten bzw. über die Verlegung des ursprünglich vorgesehenen Schutzstreifens. Vorwiegend traten solche Meinungen in Grenzkreisen des Bezirkes Potsdam auf, wobei überwiegend zum Ausdruck kam, der Staatsapparat hätte sich »vorher alles gründlicher überlegen sollen«.
Damit im Zusammenhang stehen solche Äußerungen, die Sicherungskräfte würden durch die laufenden Verlegungen des Schutzstreifens zuletzt alle Übersicht verlieren.
Darüber hinaus gibt es bereits Äußerungen über das praktische Vorgehen bei der Ausstellung von Passierscheinen durch die VP. Im Wesentlichen beinhalten sie, der Weg bis zum Erhalt eines Passierscheines sei zu bürokratisch und führe zu Missfallensäußerungen von Personen, die ansonsten mit den Sicherungsmaßnahmen einverstanden seien.
Einige Hinweise aus dem Bezirk Potsdam besagen, von Angehörigen der VP sei die Auskunft erteilt worden, der Antrag auf Erhalt eines Passierscheines sei 14 Tage vor dem beabsichtigten Besuch zu stellen. Eine ganze Anzahl von Anträgen auf Verwandtenbesuche sei bisher angeblich grundlos abgelehnt bzw. sehr schleppend bearbeitet worden.
Vereinzelt werden Versuche unternommen, durch Hinweise auf unbürokratische und schnelle Ausstellungsmöglichkeiten von Passierscheinen die Bestimmungen über die Erteilung von Besuchsgenehmigungen durch die VP zu lockern.
So wurden z. B. Vorschläge geäußert, der Besuchte solle seinen Besuch selbst beim betreffenden Kontrollpunkt abholen, wo eine entsprechende Quittung ausgestellt werden könne. Auch der Rücklauf könne auf die gleiche Art geschehen.
Außerdem solle man prüfen, ob nicht zukünftig die ABV die Ausgabe der Passierscheine übernehmen könnten, weil sie doch am besten mit den Verhältnissen in ihrem Abschnitt vertraut seien.
In einzelnen Fällen gibt es Hinweise über unfreundliche Abfertigung durch VP-Angehörige (VPR 12, Inselstraße) bei Antragstellung auf Passierschein. Ein Teil der Besucher wurde mit der Bemerkung abgefertigt, dass »man Zusatzbestimmungen abwarten müsse« (z. B. in solchen Fällen, wo es sich um die Betreuung von Kleinkindern durch Verwandte handelt).
Unklar war bisher auch die Ausstellung von Passierscheinen für NVA-Angehörige, die im Urlaub ihre Verwandten im Grenzgebiet besuchen wollen. Den WKK in Berlin war oftmals die zuständige Ausgabestelle nicht bekannt, teilweise wurden Armeeangehörige von der VP wieder zum WKK zurückgeschickt, weil angeblich dort für sie ein entsprechender Schein ausgestellt werde. Einige Mitarbeiter von VP-Revieren sind unzufrieden darüber, dass die an den Stab weitergeleiteten Fragen von Bürgern unbeantwortet bleiben.
In verschiedenen Diskussionen bringen Bürger Zweifel an der Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen zum Ausdruck. Sie »begründen« diese Auffassungen damit, dass an den aufgestellten Schlagbäumen keine Kontrolle erfolge. Die Kontrollen seien sehr lückenhaft und oberflächlich, man »könne nach wie vor tun, wozu man Lust habe«.
Einzelne Bürger zweifeln an der Wirksamkeit, weil Ausländer und Westdeutsche wie bisher ungehindert ins demokratische Berlin2 einreisen könnten.
Die noch auftretenden negativen Meinungen werden kaum in der Öffentlichkeit, sondern nur in persönlichen Gesprächen geäußert.
Zum Beispiel nehmen der Pfarrer und ein großer Teil aktiver Kirchenanhänger aus Schönefeld, Kreis Königs Wusterhausen, eine ablehnende Haltung zu diesen Maßnahmen ein, weil der Pfarrer seine Gläubigen im Grenzgebiet nicht mehr besuchen könne.
Andere Bürger im Bezirk Potsdam äußerten sich nach einem Besuch im Grenzgebiet, die Maßnahmen der Regierung der DDR seien Ausdruck einer Verschärfung der politischen Lage und einer immer mehr zunehmenden »Einschränkung der Freizügigkeit«. Die Maßnahmen im Grenzgebiet seien zu hart, »in Teltow seien deshalb auf Druck der dortigen Bevölkerung einige Sperren bereits wieder aufgehoben worden«.
Vereinzelt tauchten Meinungen auf, die Maßnahmen an der Staatsgrenze nach Westberlin seien praktisch der »Auftakt für die Anlegung eines Schutzstreifens entlang der Autobahn«.
Trotz einer hohen Einsatzbereitschaft unserer Grenzsicherungskräfte gab es einzelne Fälle der Unzufriedenheit über verstärkte Dienstdurchführung, ungenügende Verpflegung und schlechte Unterbringung sowie überhebliches Verhalten von Offizieren gegenüber den Mannschaften. (2. und 4. Grenzbrigade3).
Die Disziplinvergehen sind leicht angestiegen (hauptsächlich Wachvergehen).
Da in den letzten Tagen einzelne Absperrmaßnahmen wieder beseitigt wurden, besteht bei einigen Angehörigen unserer Grenzsicherungskräfte Unklarheit darüber, wie sie auf entsprechende Fragen aus der Bevölkerung antworten sollen.
Die auf DDR-Gebiet erfolgten feindlichen Handlungen gegen die neuen Grenzsicherungsmaßnahmen äußerten sich wie bereits aufgezeigt vor allem im Zerstören bzw. Unkenntlichmachen einzelner Grenztafeln oder amtlicher Plakate (besonders Bezirk Mitte).
Vom MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur Ermittlung der Täter eingeleitet.