Kritik von Tierärzten an der Entwicklung des DDR-Veterinärwesens (2)
9. August 1963
Bericht Nr. 490/63 über die Einstellung einer Reihe von Tierärzten zu einigen aktuellen Problemen des Veterinärwesens in der DDR
Dem MfS wurden in letzter Zeit weitere Hinweise über die Einstellung von Tierärzten zu wichtigen Problemen des Veterinärwesens bekannt.
Im Wesentlichen ergänzen diese Hinweise die Information Nr. 348/63 von Anfang Juni des Jahres, in der wir über ablehnende Auffassungen führender Veterinär-Mediziner gegenüber Vorstellungen1 unserer Partei über die weitere Entwicklung des Veterinärwesens in der DDR berichteten.
Die insbesondere bei der Vorbereitung und Durchführung der Jahreshaupttagung2 der »Wissenschaftlichen Gesellschaft für Veterinärmedizin in der DDR«3 am 19./20.4.1963 in Leipzig zum Ausdruck gekommene Situation hat sich kaum geändert.
Nach wie vor stehen im Mittelpunkt der Diskussionen – die in vielen Fällen nicht offen geführt werden – solche Fragen wie
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Einsatz von Betriebstierärzten in landwirtschaftlichen Großbetrieben und Erhöhung der Verantwortung der Tierärzte für die tierische Produktion;
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Strukturveränderungen im Veterinärwesen und Auflösung der zentralen Stellen für die Tbc-Brucellose4-Bekämpfung;
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Schwächen in der staatlichen Leitung des Veterinärwesens.
Die Auffassungen um das Problem »Betriebstierarzt« lassen erkennen, dass die Mehrheit der Tierärzte in der DDR hierzu aus den verschiedensten Gründen eine ablehnende Haltung einnimmt. Dabei tauchen vornehmlich solche »Argumente« auf wie:
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Das Problem der Bezahlung, Unterstellung und des tatsächlichen Verantwortungsbereiches sei noch nicht klar bzw. nicht durchdacht.
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Durch den Einsatz von Betriebstierärzten erhöhe sich der Tierärztemangel in der DDR.
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Dieses System habe sich in anderen sozialistischen Ländern – einschließlich der SU – nicht bewährt.
Meist wird die Auffassung vertreten, die verhältnismäßig gute Basis des Veterinärwesens in Form der Staatspraxen5 sei der günstigste Ausgangspunkt für eine engere Verbindung der tierärztlichen Tätigkeit mit den ökonomischen Problemen der sozialistischen Landwirtschaft.
Aus einer Stellungnahme der Parteigruppe »Tierärzte« des Bezirkes Neubrandenburg zur »Neuen Aufgabenstellung der Tierärzte« ist zu entnehmen, dass fast alle in der Praxis tätigen Tierärzte die Vorschläge von Strube6 im ND vom 13.11.19627 ablehnen. In diesem Zusammenhang wird auf verschiedene Artikel verwiesen, die während der Auseinandersetzungen innerhalb der Tierärzteschaft in der »Freien Erde«8 erschienen seien und ein völlig falsches Bild über die tatsächliche Meinung der Tierärzte vermittelt hätten. Die Veröffentlichung nur positiver Stellungnahmen sei »ein ungesunder Zustand«.
In der Stellungnahme wird weiter darauf eingegangen, wie der Einfluss und die Verantwortung des Tierarztes in der tierischen Produktion verstärkt werden können. Dabei müsse man von der Staatspraxis ausgehen, weil diese sich in der Vergangenheit als wirksame Hilfe für die sozialistische Landwirtschaft erwiesen habe. Allerdings sei notwendig, ein exaktes Beurteilungssystem nach den tatsächlichen Ergebnissen der tierärztlichen Arbeit im landwirtschaftlichen Großbetrieb zu schaffen. Die örtlichen Organe gingen bisher lediglich von den erzielten Einnahmen der Tierärzte aus. Nach der Gebührenordnung lasse sich die Arbeit eines Tierarztes aber kaum einschätzen.
Im gleichen Schreiben wird weiter eine grundsätzliche Diskussion über die Rolle der Privatpraxen gefordert, weil sich die Arbeit der privaten Tierärzte mehr und mehr hemmend auf die ganze Entwicklung auswirke. Die wirksamste Möglichkeit der Einflussnahme auf die Steigerung der tierischen Produktion liege nur in einem straff geleiteten staatlichen Veterinärwesen.
Neben solchen Auffassungen, die in einer verhältnismäßig sachlichen Form vom Bemühen einiger Tierärzte zeugen, tatsächlich nach neuen Wegen in der Tätigkeit des Tierarztes zu suchen, gibt es eine ganze Anzahl von Beispielen, wo in negativer Form über das Problem »Betriebstierarzt« gesprochen bzw. mit schikanösen Maßnahmen gegen bereits tätige Betriebstierärzte vorgegangen wird.
Auf der Fachgruppentagung der Tierärzte des Bezirk Suhl im Mai 1963 vertrat Dr. Hepke9 die Meinung, ein Staatspraktiker10 und vor allem ein Tierarzt, der einer LPG verpflichtet wäre, seien keine Tierärzte mehr. Sie ständen dadurch nicht mehr im »Konkurrenzkampf«, wie es unter den Tierärzten nun einmal üblich sei.
Dr. Schiffner,11 als erster Betriebstierarzt im Bezirk Suhl, wird vom größten Teil der Tierärzte abgelehnt und nicht mehr beachtet. Besonderen Angriffen sind seine Bestrebungen ausgesetzt, mit Vertretern von LPG-Viehzuchtbrigaden und Tierärzten über Neuerermethoden zur Steigerung der tierischen Produktion zu beraten.
Der Leiter des Tiergesundheitsamtes Meiningen, Dr. Otta,12 vertrat hierzu die Meinung, dass der Tierarzt eine »Persönlichkeit« für sich sei, deshalb könnten solche Beratungen nur in »wissenschaftlichen Kreisen stattfinden«. Für die LPG-Mitglieder sei das »noch zu hoch«, außerdem »besäßen derartige Neuerermethoden in der DDR gar keine Perspektive«.
Auch der Betriebstierarzt im VEG Berlin-Blankenfelde, Genosse Dr. Wunderlich,13 ist heftigen Angriffen durch Berufskollegen ausgesetzt, die teilweise in staatlichen Organen arbeiten. Einige dieser Kräfte sind bestrebt, ihn mit einer Gehaltskürzung »aufzuweichen«. Genosse Dr. Wunderlich war bisher in Berlin der einzige Tierarzt, der Pflichtassistenten ausbilden darf. Der entsprechende Lehrzuschlag soll jedoch nicht gebilligt werden, ein Betriebstierarzt »sei ja nicht eingeplant«.
Um ihn unter der Tierärzteschaft unmöglich zu machen, werden verleumderische Behauptungen aufgestellt, die jeder Grundlage entbehren.
Zum Beispiel wurden dem Kreistierarzt und den Sicherheitsorganen Hinweise gegeben, dass im Betrieb des Genossen Dr. Wunderlich 70 Schafe verendet seien. Tatsächlich gab es dort jedoch keine Tierverluste.
Neben dem Kreistierarzt von Berlin-Pankow, Dr. Pfaffe14 sind es besonders Dr. Busse15 (stellvertretender Haupttierarzt) und Dr. Lott16 (Haupttierarzt beim Magistrat von Groß-Berlin), die gegen Dr. Wunderlich arbeiten. (Dr. Lott hat in Westdeutschland studiert, arbeitete eine Zeit lang in der DDR, beging dann Republikverrat und kam später wieder zurück.)
Dr. Taube,17 Staatspraktiker in Berlin-Pankow, sagte zu Genossen Dr. Wunderlich: »Sie sägen selbst den Ast ab, auf dem wir Tierärzte sitzen.«
Der ehemalige Bezirkstierarzt18 des Bezirks Rostock, Dr. Klotz19 behauptete, zum Vorschlag »Betriebstierarzt« seien etwa 500 Schreiben von Tierärzten an das ND gesandt worden. Davon »seien 99 % dagegen gewesen«. Der positive Rest hätte »lediglich im Auftrag« geschrieben, um überhaupt etwas veröffentlichen zu können, was in die »Linie« passe.
(Dr. Klotz war vor 1945 zunächst wissenschaftlicher Assistent beim Behring-Konzern20 in Marburg/Lahn und später bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Leiter des Behring-Institutes in Neuhausen/Königsberg. Er unterhält umfangreiche Verbindungen zu Veterinärmedizinern in der DDR, in Westdeutschland – hierunter eine ganze Anzahl Republikflüchtiger – und in Österreich. Dr. K. ist der »geistige Kopf« einer Gruppe älterer, negativer Tierärzte im Bezirk Rostock, die die fortschrittliche Entwicklung des Veterinärwesens im Bezirk zu hemmen versucht.)
Einen breiten Rahmen umfassen die Meinungsäußerungen über strukturelle Veränderungen in der Leitung des Veterinärwesens.
Besonders in den Kreisen und bei vielen Praktikern gibt es zum Teil Verwirrung, weil das Veterinärwesen ab Bezirk gespalten sei und mit der Arbeit der Haupttierärzte nicht der Erfolg eingetreten sei, den man sich davon allgemein für die Tätigkeit der praktischen Tierärzte versprochen habe.21
Im Wesentlichen lassen sich die z. T. ablehnenden Stellungnahmen wie folgt zusammenfassen:
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Die Lebensmittelhygiene sei vom übrigen Veterinärwesen getrennt worden.
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Die zweiseitige Unterstellung der Haupttierärzte der Kreise müsse zwangsläufig zu Überschneidungen führen bzw. begünstige solche zumindest.
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In der Arbeit der Haupttierärzte sei bisher kein Unterschied zur früheren Tätigkeit der Kreistierärzte festzustellen; es habe sich lediglich die Bezeichnung geändert.
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Die Haupttierärzte seien nach wie vor gezwungen, einen großen Teil ihres Arbeitstages für Aufgaben der Lebensmittelhygiene zu benutzen, andererseits sei dies für die Haupttierärzte verständlich, weil die Lebensmittelhygiene zusätzliche Einnahmen bringe.
Ziemlich verbreitet ist dabei die Meinung, die Strukturveränderung im Veterinärwesen sei nur ein Beispiel dafür, dass im gesamten Bereich des Veterinärwesens keine »klare Linie« vorhanden sei. Man starte zu viele »Kampagnen«, ohne diese vorher »gründlich zu durchdenken«. Verschiedentlich wird versucht, letztere Auffassung mit der späten Herausgabe der Tätigkeitsmerkmale für die Haupttierärzte zu begründen.
Im Bezirk Halle sind diese Tätigkeitsmerkmale bisher nur den leitenden Mitarbeitern des Bezirkslandwirtschaftsrates bekannt. Man spricht deshalb teilweise von einer »konspirativen« Vorbereitung der Strukturveränderung. Da auch die geplante personelle Besetzung nur intern besprochen wurde, löste dieses Problem ziemliche Unruhe unter verschiedenen Tierärzten aus.
Teilweise ist im Bezirk Halle auch die Auffassung verbreitet, die Beschäftigten der Veterinär-Inspektion des ehemaligen Ministeriums für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft22 hätten sich bei der Vorbereitung der Strukturveränderungen nur mit dem Gedanken der eigenen Perspektive nach der Reorganisation getragen, nicht aber mit der des Veterinärwesens der DDR.
Verantwortliche Tierärzte im Bezirk Halle vertreten deshalb die Meinung, man hätte die bisherige Struktur des Veterinärwesens belassen und die Bezirks- bzw. Kreistierärzte der Produktionsleitung der jeweiligen Landwirtschaftsräte eingliedern sollen. (Als Beispiel werden die Direktoren der Landwirtschaftsbank und der VVEAB angeführt.)
Neben der aufgezeigten Unzufriedenheit über Fragen der Strukturveränderung gibt es aber im Bezirk Halle auch Anzeichen von Lethargie und Gleichgültigkeit unter Tierärzten. Sehr deutlich wird das in solchen Aussprüchen, dass es sich nicht lohne zu streiten, da sich »ohnehin alles totlaufen würde«.
Ähnliche Stimmen zur Strukturveränderung gibt es auch im Bezirk Dresden. Die neue Struktur komme einer Spaltung der einzelnen Aufgabengebiete des Veterinärwesens gleich. Dabei sei doch das Wichtigste in der Leitung des Veterinärwesens die Einheitlichkeit, ohne die z. B. notwendige Seuchenschutzmaßnahmen nur schwer durchführbar seien.
In diesem Zusammenhang wurden dem MfS Hinweise bekannt, dass eine Anzahl leitender Tierärzte ihre wirkliche Meinung nicht mehr offen zum Ausdruck bringen wolle, weil ihnen verschiedentlich unterstellt worden sei, sich »zum Sprecher negativer Kreise zu machen«.
So brachte z. B. der Haupttierarzt beim Landwirtschaftsrat des Bezirkes Dresden, Genosse Dr. Stübner,23 zum Ausdruck, er habe es jetzt aufgegeben noch etwas zu sagen, da er sonst als Gegner der sozialistischen Entwicklung angesehen werde – wie es bereits erfolgt sei. Seine nach Berlin geschickten Vorschläge über die Organisation des Veterinärwesens seien ignoriert worden. Er habe lediglich eine Rüge erhalten, weil er einigen bekannten Persönlichkeiten im Veterinärwesen diese Vorschläge auf Wunsch ebenfalls übergab. Wörtlich sagte er u. a. noch:
»Es fällt schwer, allen Unsinn zu begreifen. Es ist falsch, nur um der Umorganisation willen einen gut arbeitenden Apparat zu zerschlagen, der sich in der Vergangenheit durchaus bewährte. Aber ein Wehren gegen dieses Zerschlagen hat keinen Zweck mehr, was angeordnet wird, werde ich bedenkenlos ausführen.«
Die nach der Auflösung der »Zentralstelle zur Bekämpfung der Rinder-Tbc und Brucellose«24 im Jahre 1962 auftretenden Diskussionen unter den Kreisen der Tierärzte in der DDR wurden ohne Zweifel belebt durch den Beitrag von Prof. Goerttler25 aus Jena auf der Jahreshaupttagung der »Wissenschaftlichen Gesellschaft für Veterinärmedizin in der DDR« am 19./20.4.1963. Prof. G. brachte dabei ganz offen zum Ausdruck, dass Westdeutschland der DDR auf diesem Gebiet überlegen sei und man nicht glauben solle, mit neuen organisatorischen Maßnahmen seien Erfolge zu erzielen.
In die Diskussion einbegriffen sind auch der Wegfall bzw. die 50 %ige Kürzung der staatlichen Zuschüsse für Tuberkulinisierungsmaßnahmen für Staatspraktiker und Privattierärzte. Dazu verfassten 30 Tierärzte aus dem Bezirk Halle eine Beschwerde an den Staatsrat, die vom Haupttierarzt des Kreises Roßlau, Dr. Unterberg,26 sehr provokatorisch formuliert wurde.
(Dr. U. ist zwar Mitglied der SED, tritt aber bei jeder Gelegenheit – vor allem in LPG – in abfälliger Form gegen Beschlüsse von Partei und Regierung auf. Die Tierärzte in den Kreisen Roßlau, Wittenberg, Gräfenhainichen und Bitterfeld unterliegen zum großen Teil seinem Einfluss.)
Ungeachtet des Wegfalls staatlicher Zuschüsse für die einzelnen Tierärzte zur Bekämpfung der Rinder-Tbc gibt es einige Anhaltspunkte, die bei vielen Tierärzten das Gefühl aufkommen lassen, unser Staat lege gar keinen so großen Wert mehr auf die rigorose Bekämpfung der beiden gefährlichen Tierseuchen.
So mussten bis zum 31.12.1962 die Abt. Veterinärwesen der Räte der Bezirke vierteljährlich auf einem Formblatt über den Fortgang der Tbc-Freimachung zum damaligen MfLEF berichten. Als dieser Bericht für I/63 abgefasst werden sollte, stellten die Bezirke fest, dass keine Vordrucke vorrätig waren. Eine entsprechende Anfrage beim Vordruck-Leitverlag ergab, dass der Druck auf Anweisung von Dr. Tenner27 vom Veterinärwesen der Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates28 der DDR eingestellt wurde. Auf diese Weise erfuhren die Bezirke überhaupt, dass die Abt. Veterinärwesen an einer entsprechenden Berichterstattung nicht mehr interessiert sei.
Bei einer Tierärztekonferenz in Berlin antwortete der Leiter der Abt. Veterinärwesen der Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates der DDR, Dr. Schulze,29 auf Fragen zur Tbc- und Brucellose-Bekämpfung, er habe dafür im Moment »keinen Verantwortlichen«.
Im Mittelpunkt einer Beratung mit Haupttierärzten und Hauptzootechnikern am 30.7.1963 auf der VE-Besamungsstation in Brandenburg standen ebenfalls Probleme der Bekämpfung von Rinder-Tbc und Brucellose. Die Meinungen der anwesenden Haupttierärzte gingen auseinander. Ein Teil forderte eine vordringliche Bekämpfung der Rinder-Tbc, andere wiederum betrachteten die Brucellose als Schwerpunkt.
Konkrete Festlegungen aufgrund dieser Diskussion wurden jedoch nicht getroffen, man orientierte lediglich so, ab 1.1.1964 das Tbc-Bekämpfungsverfahren in das Arbeitsprogramm der Kreise aufzunehmen.
Der Haupttierarzt des Kreises Königs Wusterhausen, Dr. Albrecht,30 sagte während eines Gespräches anlässlich dieser Beratung, das alte Verfahren sei so schön gelaufen, man hätte ja den Apparat nicht aufbauschen brauchen. Die neu eingesetzten jungen Tierärzte seien oft noch nicht in der Lage, von sich aus mit solchen Problemen fertigzuwerden. Zumindest hätte man im Bezirk einige erfahrene Landwirte für die Koordinierung der Seuchenbekämpfung belassen sollen. Wenn schon einige Tierärzte in Fragen der Tuberkulinisierung etwas täten, die einzuleitenden Folgemaßnahmen würden jedoch nicht durchgeführt bzw. kontrolliert.
Tierarzt Dr. Werdier,31 Potsdam, brachte Folgendes zum Ausdruck:
»Kommen wir zu unserer Produktionsleitung mit Fragen der Tbc- und Brucellose-Bekämpfung, werden diese einfach überhört. Es wird immer nur nach Fleisch und Milch geschrien, aber dass zu den Grundlagen einer hohen tierischen Produktion auch seuchenfreie Tierbestände gehören, daran denkt niemand.«
Der Geschäftsführer der Sektion Veterinärmedizin der DAL (Deutsche Akademie der Landwirtschaftswissenschaften), Genosse Dr. Schindler,32 schätzte ebenfalls ein, dass die Form des schnellen Auflösens der Zentral- und Bezirksstellen für die Bekämpfung der Rinder-Tbc und Brucellose nicht richtig gewesen sei. Der Tierarzt Hirsch33 von der Abt. Veterinärmedizin der Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates der DDR habe hierbei fachlich versagt. (Gemeint ist dessen Tätigkeit in einer Kommission, die praktisch die Vorarbeiten für die Auflösung leistete.)
Genosse Grüneberg34 sei über Fragen der Tbc- und Brucellose-Bekämpfung von diesen Mitarbeitern nicht richtig informiert worden. Die Brucellose-Bekämpfung sei besonders deshalb so wichtig, weil bei uns jährlich ca. acht bis zehn Tierärzte bzw. viehpflegendes Personal an Brucellose erkranken oder sterben.
Nach Ansicht einer Reihe von Fachleuten auf dem Gebiet des Veterinärwesens seien die im Verlaufe des Berichtes aufgezeigten Erscheinungen im Veterinärwesen der DDR zu einem bestimmten Teil auf die ungenügende Leitungstätigkeit der Abteilung Veterinärwesen der Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates der DDR zurückzuführen. Es fehle eine klare Konzeption, die im gesamten Veterinärwesen der DDR durchgesetzt werden müsste. Dies eröffne negativen Elementen der Tierärzteschaft praktisch Möglichkeiten, einen hemmenden Einfluss auf die Entwicklung des Veterinärwesens auszuüben.
Unter bestimmten Kreisen wird z. B. die gegenwärtige Leitungstätigkeit im Veterinärwesen deshalb »begrüßt«, man »werde schon sehen, wo man damit lande«.
Sowohl die frühere Veterinär-Inspektion beim MfLEF als auch die jetzige Abteilung Veterinärwesen der Produktionsleitung des Landwirtschaftsrates der DDR dürften den großen Aufgaben bei der Entwicklung eines sozialistischen Veterinärwesens kaum gewachsen sein. Das trage nach wie vor zu solchen Forderungen bei, das Veterinärwesen von der Landwirtschaft zu trennen und dem Ministerium für Gesundheitswesen anzuschließen. Zum Teil werden diese Forderungen aber auch damit »begründet«, die »vorrangige Zugehörigkeit zur humanmedizinischen Intelligenz sei ein traditionelles Privileg des Tierarztes«. Auch die gewerkschaftliche Organisierung beim Gesundheitswesen wird verschiedentlich angeführt.
Über einige Mitarbeiter der Abteilung Veterinärwesen beim Landwirtschaftsrat der DDR gibt es übereinstimmend folgende Hinweise:
Gen. Dr. Dietrich Schulze als Leiter der Abteilung sei nicht in der Lage, die entstandene Situation entscheidend zu verändern. Er vertrete in seiner Leitungstätigkeit teilweise keinen parteilichen Standpunkt und versuche, sich den Ansichten führender Veterinäre in der DDR (z. B. Prof. Röhrer,35 Prof. Goerttler) anzupassen. Teilweise bringt man ganz offen zum Ausdruck, Dr.Schulze »hätte Angst vor den Professoren, weil er bei ihnen in nächster Zeit habilitieren will«.
Prinzipiellen Auseinandersetzungen gehe Dr. Schulze aus dem Wege, um »Konflikte« zu vermeiden. Er selbst sei der Auffassung, die Tierärzte seien beim Gesundheitswesen »besser aufgehoben«. Durch das Ansprechen geringerer Mängel versuche er, größere Schwächen in seiner Arbeit zu vertuschen.
Trotz wiederholter harter Diskussionen sei bei Genossen Dr. Schulze die Frage der Ausbildung von Tierärzten noch unklar. Er berufe sich dabei auf eine »Sonderstellung« der Tierärzte, wobei der Hauptinhalt seiner Linie sei, »man solle nicht zu viele Tierärzte ausbilden«.
Gen. Dr. Schulze sei nicht in der Lage, innerhalb seines Kollektivs von Mitarbeitern straff zu leiten, er übertrage ihnen allerdings oft ihm unangenehme Aufgaben (z. B. Auseinandersetzungen über den Inhalt der Monatsschrift »Das Veterinärwesen«36).
Der Tierarzt Rolf Hirsch ist für die Tbc- und Brucellose-Bekämpfung verantwortlich. Aufgrund ungenügender fachlicher Kenntnisse sei er jedoch nicht in der Lage, selbstständig zu arbeiten. Angeblich deshalb gebe es seit der Auflösung der Zentralstelle für Tbc- und Brucellose-Bekämpfung keinen festumrissenen Plan zur weiteren Eindämmung dieser Seuchen. In verschiedenen Meinungen von Tierärzten kommt zum Ausdruck, die Arbeit von H. sei eher dazu angetan, die »Situation nur zu verwirren«.
Von einer ganzen Anzahl praktischer Tierärzte wird kritisiert, dass alle Fragen, die für die Entwicklung des Veterinärwesens in der DDR von Bedeutung seien, nur von Instituts- und Verwaltungstierärzten beraten und entschieden würden. (Selbst dem Zentralen Landwirtschaftsrat beim Ministerrat gehört kein Tierarzt an, der zzt. in der Praxis tätig ist.)
In den meisten Fällen wären die Beratungsteilnehmer nicht als praktische Tierärzte tätig gewesen und könnten demzufolge verschiedene Fragen nie vom Standpunkt des Praktikers einschätzen. Es wird gefordert, bei künftigen Beratungen vor allem solche Tierärzte zuzuziehen, die die Probleme in den LPG kennen.
Neben den angeführten, allgemein diskutierten Problemen des Veterinärwesens gibt es Hinweise über Äußerungen einzelner Tierärzte, wonach im Veterinärwesen der DDR praktisch drei Gruppierungen beständen, ohne von festen Formen sprechen zu können.
Für die »Einstufung« in eine dieser Gruppierungen ist vielmehr die Einstellung des jeweiligen Tierarztes zur sozialistischen Entwicklung des Veterinärwesens in der DDR maßgeblich.
Zur ersten Gruppe zählt man vor allem die jüngeren, zumeist neuen Haupttierärzte der Bezirke bzw. Kreise. Diese Kräfte versuchten mit allen Mitteln, eine neue fortschrittliche Konzeption in die Arbeit des Veterinärwesens hineinzutragen. Diese Zielstellung wird aber stark von einer anderen Gruppierung gehemmt, der vorwiegend die früheren Bezirkstierärzte angehören, die z. T. jetzt als Bezirkslebensmittel-Hygienetierarzt eingesetzt wurden. Diese Kräfte treten nicht offen auf, sondern sind bemüht, ihre Position – so gut es geht – zu halten.
Zu dieser Gruppe zählen beispielsweise Dr. Eggert37 aus Magdeburg, Dr. Salow38 aus Potsdam, Dr. Klotz aus Rostock und in gewissem Sinne auch Dr. Neubauer39 aus Halle.
Bei internen Gesprächen machen diese Personen kein Hehl daraus, dass die im Augenblick eingeschlagene Politik in der Landwirtschaft und im Veterinärwesen zum Scheitern verurteilt sei und man nur darauf warte, eines Tages »den alten Stuhl des Bezirkstierarztes wieder besteigen zu können«.
Typisch für die ideologische Position dieser Personen sind die Äußerungen von Dr. Klotz anlässlich eines Besuches im Kreis Oranienburg bei Dr. Beneckel40 und Dr. Bergfeld41:
»Die Tierärzte lassen nicht mit sich machen, was man will. Die Tierärzte halten zusammen, vor allem deshalb, weil – im Gegensatz zu früher – an zentraler Stelle kein Tierarzt sitzt, der die Interessen der Tierärzte wirklich vertritt.«
Über den sozialistischen Aufbau in der DDR äußerte er sich dahingehend, dass seit drei Jahren alles rückwärts ginge, weil die DDR zu den Weltraumflügen der SU beisteuern müsse.
In diesem Zusammenhang versuchte er auch, Kennedy42 als den »Helden und Sieger« in der gegenwärtigen Weltpolitik hinzustellen.
Für die jüngeren, positiven Kräfte im Veterinärwesen wird die Situation erschwert, weil sie sich in verschiedenen fachlichen Fragen noch an ältere, berufserfahrene Kollegen wenden müssen. Dabei [fällt]43 es ihnen oftmals nicht leicht, zwischen einem wirklich gut gemeinten Rat und einer gestellten »Falle« zu unterscheiden.
Einige der bereits angeführten Personen erklärten in einem internen Gespräch ausdrücklich, sie versuchten den jungen Tierärzten »Fallen zu stellen, zumindest würden sie aber alle aufgetretenen Schwächen der neuen Haupttierärzte registrieren«. In ihren »Besprechungen« (z. B. zwischen Dr. Klotz, Dr. Salow und Dr. Eggert im April 1963) legten sie bestimmte Maßnahmen über ihr weiteres Verhalten fest, über die bis jetzt nichts in Erfahrung gebracht werden konnte.
Eine dritte Gruppe unter der Tierärzteschaft ist bestrebt, eine »Politik des geringsten Widerstandes« zu machen. Zu ihr gehören in der Hauptsache die Direktoren der Veterinäruntersuchungs- und Tiergesundheitsämter (VUTGÄ), wobei Genosse Dr. Thamm44 (Halle) eine führende Rolle spielt.
Dabei wird eingeschätzt, dass Genosse Dr. Thamm »gewissermaßen eine Doppelrolle spiele, weil er in leitenden Gremien des Veterinärwesens (LWR und DAL) beratend tätig ist«. Durch gute organisatorische und rhetorische Fähigkeiten sei es ihm gelungen, das Vertrauen dieser Organe zu erlangen. Durch ihn seien die Direktoren der VUTGÄ praktisch zum »Staat im Staate« geworden, der auch auf die Haupttierärzte der Bezirke unzweifelhaft Einfluss ausübe.
Für die »Aktivität« dieser Gruppe sei typisch, dass bis Mitte des Jahres 1963 bereits zwei zentrale Zusammenkünfte der Direktoren aller VUTGÄ stattfanden, in denen über neue Arbeitsmethoden beraten wurde.
Im Gegensatz dazu war das bei den Haupttierärzten der Bezirke bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Fall. Dadurch entstand die Situation, dass die Haupttierärzte – praktisch die Vorgesetzten der Direktoren der VUTGÄ – von Letzteren »Empfehlungen« über ihre Tätigkeit entgegennehmen mussten.
Dabei seien die VUTGÄ-Direktoren einerseits bestrebt, aus dem Blickfeld der öffentlichen Kritik zu kommen, andererseits möchten sie sich aber auch politisch organisieren, um nicht so schnell »ausgewechselt« werden zu können.
Dr. Worseck45 (VUTGA/Potsdam) äußerte z. B., ihm sei »empfohlen« worden, in die DBD einzutreten, Dr. Mär46 wurde von Dr. Thamm »ans Herz gelegt«, in die SED einzutreten.
Es wird eingeschätzt, dass sich diese Gruppe bemüht, Kontakt zu den »alten« Tierärzten zu halten bzw. zu finden, ohne sich nach außen hin für eine bestimmte »Position« zu entscheiden.
Genau in diese Position passe auch das Verhalten [des] Genossen Dr. Thamm auf der Jahreshaupttagung der »Wissenschaftlichen Gesellschaft für Veterinärmedizin in der DDR« am 19./20.4.1963 in Leipzig. Während Genosse Dr. Thamm auf allen Beratungen oder Versammlungen immer tonangebend sei und viele Tierärzte sein Wort wie ein »Evangelium« betrachteten, habe er auf dieser Tagung, die von der übergroßen Mehrheit aller Tierärzte der DDR besucht war, »keinen Ton gesagt«, eben wahrscheinlich darum, um sich in solch einem Rahmen nicht festlegen zu müssen.
In den letzten Wochen wurden Bestrebungen verschiedener Tierärzte bekannt, am Welttierärztekongress47 in Hannover Mitte August 1963 teilnehmen zu können.
Dabei wird allgemein »bedauert«, dass keine Delegation der DDR zu diesem Kongress fahre, während doch andere sozialistische Staaten – wie die SU und die ČSSR – mit verhältnismäßig großen Gruppen vertreten seien. Darüber hinaus wäre eine ganze Anzahl von Veterinärmedizinern aus sozialistischen Ländern als Referenten angekündigt. Zum Beispiel hatte auch die Kreisgewerkschaftsgruppe »Tierärzte«, Dresden, in einem Schreiben an das Ministerium für Gesundheitswesen (!) gebeten, eine Teilnahme an diesem Kongress zu ermöglichen.
In diesem Schreiben heißt es u. a.:
»Gerade weil diese Tagung in diesem Jahre in Deutschland stattfindet, besteht seitens der Kollegen der DDR der Wunsch zur Teilnahme, und es wird hiermit die Hoffnung ausgesprochen, dass sie den Tierärzten eines Teiles des deutschen Reiches – als die sie sich nach wie vor fühlen – in großzügiger Weise gewährleistet wird …«
An anderer Stelle heißt es:
»… schon um dem Ausland gegenüber dokumentieren zu können, dass der Wille zur Gemeinschaft des Berufsstandes vorhanden ist, und die an sich beschämende Trennung zwischen Deutschen nicht bis zu dem Ausland gegenüber grotesk wirkenden Symptomen führen darf.«
Bemerkenswert ist allerdings, dass Genosse Dr. Thamm und Dr. Worseck (VUTGA/Potsdam) von sich aus – sozusagen als »Privatleute« – und ohne Wissen des LWR der DDR und der DAL ihre Teilnahmemeldung als Referenten zum Welttierärztekongress abgegeben und bereits ihre Referate nach dort gesandt haben.
Beide Personen erscheinen auch offiziell auf der Referentenliste des Kongresses.
(Die in diesem Bericht angeführten Äußerungen einzelner Tierärzte sind nicht öffentlich auswertbar.)