Kundgebung Berliner Häftlingskreise mit Rainer Hildebrandt, Westberlin
16. Januar 1963
Einzelinformation Nr. 34/63 über den Verlauf der Hetzkundgebung der sogenannten Berliner Häftlingskreise am 15. Januar 1963 im Studentenhaus am Steinplatz in Westberlin
Die Hetzveranstaltung, die von ca. 500 Personen, darunter ca. 50 % Jugendlichen, besucht war und die unter dem Motto »Freiheit für Harry Seidel1« stand, wurde von Rainer Hildebrandt2 eröffnet und geleitet. Hildebrandt wies darauf hin, dass sich unter den Teilnehmern eine sehr große Zahl Republikflüchtige befände. Neben Hildebrandt gehörten zum sogenannten Präsidium die Ehefrau des Verbrechers Seidel, Rotraud Seidel, der persönliche Referent Brandts,3 Peter Lorenz,4 eine Person, die selbst an Schleusungsaktionen teilgenommen haben soll, namens [Vorname Name], ein ehemaliger VP-Angehöriger und Verräter unbekannten Namens, der chilenische Staatsbürger Patricio Aninat und der als Provokateur bereits hinreichend bekannte Inder Zutshi,5 die ebenfalls alle in der Diskussion sprachen.
Der Tenor der gesamten Hetzkundgebung war, den Verbrecher Seidel als »Held« und seine feindlichen Handlungen als rechtmäßige Handlungen hinzustellen, was mit der üblichen Hetze gegen die Deutsche Demokratische Republik und die Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.19616 verbunden wurde.
Hildebrandt versuchte, unter Anspielung auf seine angebliche Widerstandstätigkeit in der Nazi-Zeit, Seidel und andere »Fluchthelfer« – wie er sie bezeichnete – als »Helden und Kämpfer für die Freiheit« hinzustellen. Seidel, den er persönlich kenne, sei kein Krimineller gewesen. Er habe lediglich seine Mutter nach Westberlin holen wollen. Dabei habe Seidel seiner Frau und ihm, Hildebrandt, versprochen, künftig nicht mehr zu schleusen. Dieses Versprechen habe er aber nicht gehalten und sei dabei gestellt worden. Er sei zwar mit einer Pistole bewaffnet gewesen, aber nie mit dem Ziel, damit einen Menschen zu töten.
Nach Hildebrandt sprach [Vorname Name], der sich als Student vorstellte. Er erklärte, dass er nach dem 13.8.1961 an Schleusungen durch Tunnel beteiligt gewesen sei. Mit falschen westdeutschen oder ausländischen Pässen seien er und seine Komplizen in die DDR eingereist. Die zur Flucht vorgesehenen Personen hätten die Hausnummer erhalten, wo sich der Tunnel befand, und seien dann zu einer verabredeten Zeit zur Tarnung in Sonntagskleidung mit Blumen nach dort gekommen. Oft sei dies schiefgegangen, weil diese Personen die Hausnummern verwechselt haben. Auch ihm selbst habe man einmal eine falsche Hausnummer genannt und er sei zu einem VP-Angehörigen in die Wohnung gegangen. Er habe sich jedoch herausreden können. Unter anderem habe er einen Angehörigen der Jenaer Gaswerke geschleust.
Die Ehefrau des Seidel führte aus, dass ihr viele Freunde abgeraten hätten, diese Versammlung durchzuführen. Aber sie tue dies deshalb, »um der Menschheit zu beweisen«, dass ihr Mann nicht – wie vom Gericht bezeichnet – kriminell sei. Er habe dem Radsport der DDR angehört und sollte in die Partei eintreten. Aufgrund seiner ablehnenden Haltung habe man ihn dann nicht mehr starten lassen. Deshalb habe er sich Arbeit in Westberlin gesucht, sei nach dem 13.8. republikflüchtig geworden und habe dann sie und das Kind nachgeholt. Er habe »nur menschlich gehandelt, um seine Mutter nach Westberlin zu bringen«. Da er niemandem einen Wunsch hätte abschlagen können, habe er auch immer wieder seine Beihilfe zur Flucht anderer Personen gegeben.
Der anschließend auftretende Chilene erklärte, er sei nach dem 13.8.1961 neun Monate in der DDR inhaftiert gewesen, weil er Namen von Personen, die geschleust werden sollten, bei sich hatte. Er erklärte weiter, beim »SSD« würden ca. 200 Ausländer inhaftiert sein. Diese würden bei Anfragen ihrer Heimatländer als Kriminelle bezeichnet und erhielten deshalb keine Hilfe. Dies sei eine gemeine Verdrehung. Man habe jetzt vor, die Länder der Inhaftierten von dem wirklichen Grund der Verhaftung zu informieren, damit diese bei der Regierung der DDR vorstellig würden. Ein Bekannter von ihm, ein Schweizer, sei zu 3½ Jahren verurteilt worden, obwohl er nur einen Brief mit nach Westberlin nehmen wollte. Das hohe Urteil sei zustande gekommen, weil dieser Schweizer ein Adliger sei.
Der Inder Zutshi erklärte provokatorisch, Seidel würde nie lebenslänglich in Haft sein, weil vorher »die Regierung der DDR längst erledigt« sei. An erster Stelle seiner Lebensaufgabe sehe er, die DDR zu vernichten und für ihren Untergang einzutreten. Deshalb plane er auch »verschiedene neue Sachen«. Unter anderem wolle er mit einem Transparent »Freiheit für Seidel und die 15 000 Anderen« im demokratischen Berlin7 demonstrieren.
Ein nach ihm auftretender angeblich ehemaliger Student aus Dresden, der 13 Jahre in der DDR inhaftiert gewesen und erst vor kurzer Zeit entlassen worden sein will, forderte die Anwesenden zu einer »Gedenkminute« auf.
Anschließend sprach der ehemalige VP-Angehörige über die angebliche Stimmung unter den Streitkräften in der DDR. Er erklärte, dass der größte Teil alles nur aus Zwang tut. Viele würden fliehen, wenn sie könnten. Aus seiner Einheit von 95 Mann seien zehn wegen Fluchtbeihilfe verhaftet worden. Er sehe seine Aufgabe darin, jetzt mit einem Lautsprecherwagen an die Grenze zu fahren und dort seine ehemaligen Kameraden, die nur einseitig politisch geschult würden, anzusprechen und »aufzuklären«. In dieser Arbeit würden ihn viele ehemalige Angehörige der Grenzsicherungskräfte unterstützen. Er forderte deshalb den Senat auf, Lautsprecherwagen zur Verfügung zu stellen, um den »Kampf um die Einheit« zu verstärken.
Zum Schluss trat Peter Lorenz, der Referent Brandts, den Hildebrandt als seinen alten Freund vorstellte, der ihn immer unterstützt habe, auf. Lorenz sprach Seidel und allen diesen Elementen »Hochachtung und Bewunderung« aus. Neben dieser »Rechtfertigung« erging er sich hauptsächlich in Hetze gegen die Politik der Partei und Regierung der DDR. Er führte u. a. den VI. Parteitag der SED8 an und erklärte sinngemäß: Was ist das für ein Parteitag und für eine Partei, die Leute wie Mewis9 absetze, um einen Sündenbock zu haben, und die die Minister (Wollweber10 und Zaisser11) ständig wechsle. Der Parteitag sollte sich lieber für die »politischen Häftlinge« interessieren.
Im Verlaufe der Hetzkundgebung wurde ferner von Hildebrandt, der mehrmals zwischen den einzelnen Sprechern kurze Ausführungen machte, vorgeschlagen,
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einen Protestbrief an die Delegationsmitglieder des VI. Parteitages zu schicken, in dem auf die »Friedensgefährdung in Berlin durch den antifaschistischen Schutzwall«12 hingewiesen wird und in dem die Parteitagsdelegationen aufgefordert werden, sich für die Freiheit Seidels und der angeblich 15 000 »politischen Gefangenen« einzusetzen. (Die an der Hetzkundgebung Beteiligten sollten sich zu diesem Zweck in Unterschriftenlisten eintragen, die ebenfalls weitergeleitet würden.)
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eine Geldsammlung durchzuführen, um deM Sohn Seidels ein Fahrrad zu kaufen und um den Inder Zutshi zu unterstützen. (Insgesamt wurden ca. 250 DM gesammelt.)
Wie Hildebrandt bekanntgab, war die Hetzkundgebung vom SFB mitgeschnitten worden und würde eventuell am 16.1.1963 übertragen werden.
Die Hetzkundgebung war von Westberliner Polizeikräften abgesichert. Während des Verlaufs waren im und vor dem Studentenhaus jeweils zwei Polizisten postiert. Kurz vor Beendigung der Hetzveranstaltung erschienen ein Mannschaftswagen und ein geschlossenes Fahrzeug der Westberliner Polizei. Circa zwölf Polizisten postierten sich in der Nähe des Hauses und der abgestellten Pkw und hielten die Eingänge und die Umgebung unter Kontrolle. Es kam jedoch zu keinerlei sichtbaren Vorkommnissen.