Legale Übersiedlung leitender Mitarbeiter des VEB Chemische Werke Buna
20. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 108/63 über die legale Übersiedlung leitender Mitarbeiter des VEB Chemische Werke Buna nach Westdeutschland
Aus vorliegenden Hinweisen wurde dem MfS Folgendes bekannt:
Der ehemalige kaufmännische Direktor der VEB Chemische Werke Buna, Dr. [Name 1], siedelte im Spätsommer des Jahres 1962 nach Erreichung seines Rentenalters legal nach Westdeutschland über. Er war der Auffassung, dort in den Genuss der IG-Rente1 (1 400 DM West) zu gelangen. Zum anderen wohnen alle seine Verwandten in Westdeutschland. Auf seine ihm in der DDR zustehende Pension verzichtete er, da diese nur im Falle seines weiteren Verbleibens in der DDR ausgezahlt werden kann. Dr. [Name 1] hatte umfassende Kenntnisse über alle kaufmännischen, zum großen Teil aber auch über technische Fragen des Werkes.
Vom stellvertretenden Vorsitzenden der Fa. IMHICO, [Name 2], wurde Dr. [Name 1] nach vorliegenden Hinweisen wohl eine einmalige Summe von 10 000 DM West ausgezahlt, wobei diese Zahlung auf freundschaftliche oder geschäftliche Beziehungen zurückgeführt werden kann, aber die IG-Rente wurde ihm verweigert.
Aus diesem Grunde geht es Dr. [Name 1] wirtschaftlich nicht besonders gut. Mitte November 1962 wurde bekannt, dass Dr. [Name 1] mit allen Mitteln versucht, seine ehemalige Sekretärin und Geliebte, [Vorname Name 3], nach Westdeutschland abzuziehen. Bisher wurde dies jedoch verhindert. Dr. [Name 1] beabsichtigt, die Frühjahrsmesse 1963 in Leipzig zu besuchen.
Der Forschungsleiter des VEB Chemische Werke Buna, Dr. Grimm,2 erreicht 1963 sein Rentenalter. Er erklärte bereits jetzt, dass er nach seinem Eintritt in den Ruhestand versuchen wird, legal nach Westdeutschland umzuziehen. Auch er verfügt über umfangreiche Kenntnisse vor allem auf den Gebieten der Produktion, der technischen Entwicklung und Forschung sowie der Perspektiven des Werkes.
Im vergangenen Jahr trat der technische Direktor der VEB Chemische Werke Buna, Prof. Dr. Moll,3 in den Ruhestand. Er beantragte sofort seine legale Übersiedlung nach Westdeutschland, da alle seine Verwandten dort wohnen, die sehr vermögend sein sollen. Auf seine monatliche Pension in Höhe von 6 000 DM4 sowie auf ein Bankguthaben von 300 000 DM will er verzichten. Prof. Dr. Moll verfügt über umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiete der Produktion, der technischen Entwicklung und Perspektiven des Werkes. Er kennt alle Engpässe auf dem Gebiet der Versorgung des Werkes mit Rohstoffen und Halbfabrikaten. Aus seinen Angaben könnte der Gegner Schlüsse ziehen, durch welche Liefersperren er die Entwicklung unserer chemischen Industrie hemmen kann. Aufgrund seiner Funktion erhielt Prof. Dr. Moll einen umfassenden Überblick über die durchgeführten und geplanten Maßnahmen des Chemieprogrammes, des SU-Sonderprogramms auf dem chemischen Sektor sowie teilweise über geplante Vorhaben im Rahmen des RGW. Durch Abstimmung des Chemieprogramms mit der gesamten Volkswirtschaft der DDR erstreckt sich sein Überblick auch in gewissem Umfang auf die Energieversorgung und den Maschinenbau. Über den Volkswirtschaftsrat5 erhielt Prof. Dr. Moll einige Materialien aus Westdeutschland, die zwar neutralisiert waren, aber ein versierter Chemiker konnte wahrscheinlich trotzdem den Ursprung der Unterlagen feststellen.
Um seine Ausreise schnell durchzusetzen, nahm Prof. Dr. Moll Ende 1962 Verbindung mit dem Rat des Bezirkes Halle auf. Bei einer Aussprache mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes lehnte dieser jedoch die Genehmigung aus bereits angeführten Gründen ab. Prof. Dr. Moll erhielt den Bescheid, seinen Antrag auf zwei Jahre zurückzustellen.
In der Zwischenzeit wurde durch eine Anweisung des MdI das Genehmigungsrecht für Umsiedlungen den Abteilungsleitern für Inneres bei den Räten der Bezirke übertragen. Nachdem dieses M. bekannt geworden war, wandte er sich an den Abteilungsleiter für Inneres beim Rat des Bezirkes Halle mit dem gleichen Ersuchen, obgleich er nach der Rücksprache mit dem Vorsitzenden des Rates sein Gesuch vorläufig zurückgezogen hatte.
In Unkenntnis der vorherigen Entscheidung durch den Ratsvorsitzenden und ohne Rücksprache mit diesem erteilte der Abteilungsleiter für Inneres M. die Ausreisegenehmigung – zunächst allerdings mündlich. M. begann sofort, seine Sachen zu packen; ein Teil davon wurde bereits einer Speditionsfirma übergeben. Infolge eines Hinweises, den das MfS über die Reisevorbereitungen des M. erhielt, wurde die Aushändigung der Papiere bisher verzögert. Da aufgrund dieser Situation unbedingt eine schnelle Entscheidung zu treffen ist, die aber nach jetziger Lage der Dinge die bezirklichen Möglichkeiten überschreitet, bitten wir zu prüfen, ob sich in diesem Falle eine Regelung durch ein zentrales Organ herbeiführen lässt.
Eine Ausreisegenehmigung für Prof. Dr. Moll – nachdem bereits Dr. [Name 1] eine solche erhielt – hätte unbedingt Einfluss auf andere leitende Mitarbeiter des Werkes. Ohnedies vertreten einige solcher Kräfte schon die Meinung, dass die legalen Verbindungen zwischen dem Buna-Werk und den IG-Nachfolgebetrieben so stark sind, dass letztere gut informiert sind. Daher spiele es keine Rolle, ob jemand nach drüben geht oder nicht.