Lohnforderungen von Westberliner Mitarbeitern der Reichsbahn
3. Juli 1963
Einzelinformation Nr. 413/63 über das Auftreten von Lohnforderungen unter den Arbeitern und Angestellten der Deutschen Reichsbahn in Westberlin und über einige lohnpolitische Fragen in den Dienststellen des Wasserstraßenhauptamtes Berlin in Westberlin
In den letzten Wochen sind unter einer Reihe von Arbeitern und Angestellten der Deutschen Reichsbahn in den Westberliner Dienststellen1 in größerem Umfange Lohnforderungen aufgetreten.
Von den Beschäftigten der DR werden zur Begründung ihrer Lohnforderungen die ständig steigenden Lebenshaltungskosten in Westberlin und die sukzessiven Lohnsteigerungen für die Beschäftigten der Westberliner Industrie und anderer Bereiche, die sich annähernd den sich steigernden Lebenshaltungskosten anpassen würden, angeführt. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass das Einkommen der Westberliner Eisenbahner seit Jahren gleich geblieben sei.
Kompliziert wird diese Situation durch die angekündigte 15%ige Mietpreiserhöhung ab September 1963, von der [der] größte Teil der Westberliner Eisenbahner betroffen wird.
Unter diesen geschilderten Bedingungen hat die Lohndiskussion einen relativ breiten Umfang angenommen.
Einfluss auf diese Entwicklung haben u. a. auch die Ergebnisse des Metallarbeiterstreiks in Südwestdeutschland2 vom Mai 1963.
Im Ergebnis der Haltung des FDGB und der Parteiorganisationen in den Dienststellen der Reichsbahn sowie der Veröffentlichungen der »Wahrheit«3 zur Unterstützung der Streikbewegung der westdeutschen Metallarbeiter traten die Eisenbahner selbst verstärkt mit ihren eigenen Lohnforderungen hervor.
Die Mehrzahl der Eisenbahner vertritt die Meinung, der Streik und die Forderungen der westdeutschen Metallarbeiter waren gerecht. Sie würden aber nicht verstehen, dass die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen diesen Streik unterstützten, während den Westberliner Eisenbahnern, die noch ein geringeres Einkommen hätten, aber den gleichen Teuerungen unterlägen, eine Lohnerhöhung zur Verbesserung ihrer Lage versagt werde.
Unter den Eisenbahnern macht sich in diesem Zusammenhang eine gewisse Enttäuschung über die politische Wirksamkeit der Gewerkschafts- und Parteiorganisationen bemerkbar, weil erwartet wurde, »dass sie die Lage annähernd real einschätzen und den gegebenen Bedingungen in Westberlin Rechnung tragen würden«. Diese Auffassungen wirken sich hemmend auf die politische Massenarbeit der Gewerkschafts- und Parteiorganisationen unter den Eisenbahnern aus. Zu den aufgeworfenen Lohnfragen wird kaum oder völlig ungenügend Stellung genommen.
Es wird eingeschätzt, dass der Einfluss des FDGB durch die angespannte Situation erheblich zurückgegangen ist. Besonders deutlich zeige sich dies an der geringen Beteiligung bei Versammlungen, bei der Verweigerung der Zahlung des Mitgliedsbeitrages in Westgeld und in zahlreichen Austrittserklärungen.
Unter leitenden Funktionären der DR in Westberlin und in einigen Parteiorganisationen treten verstärkt Auffassungen auf, dieses Problem sei nur noch durch eine Lohnerhöhung zu lösen.
Auf diese Situation ist auch zu einem großen Teil die hohe Anzahl von Kündigungen bei den Reichsbahndienststellen in Westberlin zurückzuführen. (Laut offiziellen Angaben der Reichsbahndirektion Berlin hat sich die Gesamtbeschäftigtenzahl der Eisenbahner in Westberlin seit dem 13.8.19614 um rd. 2 365 verringert.)
Allein im 1. Quartal 1963 haben im Bereich des Reichsbahnamtes Berlin 4 (alle Betriebs- und Verkehrsdienststellen in Westberlin) 92 Eisenbahner gekündigt.
Nach den uns vorliegenden Hinweisen kündigen die meisten Westberliner Eisenbahner, um die günstigeren Verdienstmöglichkeiten in der Westberliner Industrie auszunutzen und damit ihre soziale Lage zu verbessern.
Dieser Zustand der Unzufriedenheit bietet den feindlichen Organisationen günstige Gelegenheit, bei größeren Teilen der Westberliner Eisenbahner seinen Einfluss zu verstärken. Sehr aktiv tritt in diesem Zusammenhang die sogenannte »Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands« (GdED) in Erscheinung, die die Forderungen der Eisenbahner offen unterstützt und sich als alleiniger Interessenvertreter der Eisenbahner ausgibt. Dabei versuchen die Funktionäre der GdED das Problem so darzustellen, als ob die Partei und der FDGB eine Lohnerhöhung verhindern würden.
Weitere Anstrengungen der GdED sind darauf gerichtet, durch Abwerbemaßnahmen den Personalbestand der Deutschen Reichsbahn in Westberlin zu schwächen. Damit soll der »Beweis« erbracht werden, die DR sei nicht in der Lage, einen ordnungsgemäßen Verkehr in Westberlin aufrechtzuerhalten.
Zu diesem Zweck werden in größerem Umfange Abwerbungsschreiben versandt bzw. die Eisenbahner in den Wohnungen und auf den Dienststellen persönlich aufgesucht und in dieser Richtung angesprochen.
In einem Abwerbungsflugblatt der Deutschen Bundesbahn wird erklärt, dass sie im Jahre 1962 angeblich 25 000 neue Mitarbeiter und 5 000 Nachwuchskräfte einstellte.
Diese Angaben wurden auch in die Publikationen der GdED, die den Angehörigen der DR zugestellt werden, aufgenommen. Das Flugblatt der Deutschen Bundesbahn enthält die Aufforderung an alle Eisenbahner der DR in Westberlin, sich bei Interesse für den Dienst bei der Bundesbahn bei den zuständigen Stellen zu melden.
Weiterhin wurde festgestellt, dass sich auch die Angestellten der Lohnausgleichskasse, die zu den Senatsdienststellen und zu der Bundesbahnverwaltungsstelle in Westberlin engen Kontakt unterhalten, an der Abwerbeaktion beteiligen.
Aus einzelnen Abwerbemaßnahmen wurde bekannt, dass die Deutsche Bundespost für jeden abgeworbenen Reichsbahnangehörigen 100 DM Kopfgeld zahlt.
Obwohl der Umfang der bekannt gewordenen Lohnforderungen ernsthaften Charakter angenommen hat, liegen gegenwärtig keine Anzeichen und Hinweise über eventuelle Streikabsichten unter den Westberliner Eisenbahnern vor.
Nach weiteren vorliegenden Informationen ist die Lohnsituation unter den in Westberlin beschäftigten Arbeitern des Wasserstraßenhauptamtes5 Berlin ebenfalls als angespannt zu bezeichnen. Für die Westberliner Angestellten der Wasseraufsicht gelten die gesetzlichen Tarifbestimmungen der DDR. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Tarifbestimmungen der DDR und dem Westberliner Lohngefüge erreichen in der Regel die Beschäftigten des Wasserstraßendienstes in Westberlin nicht das erforderliche Lohnniveau.
Durch die geringen Verdienstmöglichkeiten bestehen Schwierigkeiten in der Gewinnung politisch zuverlässiger und fachlich geeigneter Mitarbeiter. Diese Situation wirkt sich auf die Unterhaltung der in Westberlin liegenden Wasserstraßen (1. Ordnung) nachteilig aus, es können keine Garantien für die laufenden Betreuungs- und Instandsetzungsarbeiten mehr abgegeben werden.
Diese Situation hat erhebliche politisch-moralische Auswirkungen auf die in Westberlin beschäftigten Mitarbeiter des Wasserstraßenhauptamtes und zeigt sich besonders in der passiven bzw. negativen Einstellung eines großen Teiles der Beschäftigten zur DDR.
Dem Westberliner Senat bieten sich damit günstige Möglichkeiten einer stärkeren Einflussnahme auf die Beschäftigten des Wasserstraßennetzes in Westberlin.
Nach den vorliegenden Informationen sei bei ernsthaften Anstrengungen um die Eingliederung dieses Wasserstraßensystems in Westberliner Hoheitsgebiet unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum mit einer Unterstützung durch diese Kräfte zu rechnen. Die in den Westberliner Wasserstraßendienststellen tätigen positiven Kräfte, insbesondere die Genossen, die die Interessen der DDR politisch aktiv zu unterstützen versuchen, können sich aufgrund dieser Situation kaum auf den Gesamtbestand des Personals stützen.
Unter den Parteimitgliedern treten in diesem Zusammenhang Diskussionen auf, dass es durchaus möglich wäre, diese passiven Elemente aus der Wasserwirtschaft zu entfernen und durch positive Kräfte, meist Genossen, zu ersetzen.
Dabei wären jedoch lohnpolitische Maßnahmen erforderlich, um die derzeitige soziale Lage der Arbeiter und Angestellten in der Wasserwirtschaft in Westberlin annähernd an den Lebenshaltungsindex in Westberlin anzugleichen.
Bei den verantwortlichen Mitarbeitern des Wasserstraßenhauptamtes Berlin würde es seit längerer Zeit Überlegungen über die Möglichkeiten zur Lösung dieses Problems geben. Danach sei vorgesehen, die Lohnfrage der Wasserwirtschaft nur im Zusammenhang mit den Lohnproblemen der Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin einer Lösung zuzuführen. Eine entsprechende Vorlage soll beim Minister für Verkehrswesen zur Entscheidung vorliegen.
In Anbetracht der Dringlichkeit der Lohnprobleme bei der Deutschen Reichsbahn und den Dienststellen des Wasserstraßenhauptamtes in Westberlin wäre es zweckmäßig, über die Lohnprobleme baldmöglichst eine zentrale Entscheidung herbeizuführen.