Mängel bei der Giftüberwachung
16. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 760-63 über sichergestellte Giftbestände in der staatlichen Löwen-Apotheke in Wittenberg, [Bezirk] Halle, und damit zusammenhängende Mängel der Giftüberwachung
Am 18.7.1963 wurden während einer Revision durch den staatlichen Apothekenrevisor [Name 1] in der Löwen-Apotheke in Wittenberg, [Bezirk] Halle, folgende Giftmengen festgestellt:
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10,2 kg Kal. cynat1(Zyankali),
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50,0 kg Hydrarg.chlorat.Subl.,2
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100,0 kg Thallium nitric,3
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25,0 kg Thallium chlorat,4
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25,0 kg Thallium arytic.5
Diese Gifte lagerten getrennt von den sonstigen Beständen der Löwen-Apotheke und waren weder im Giftbuch der Apotheke eingetragen noch in den Unterlagen der Abteilung Gesundheitswesen beim Rat des Bezirkes Halle aufgeführt.
Die von dem staatlichen Apothekenrevisor [Name 1] in der Löwen-Apotheke Wittenberg durchgeführte Revision war die erste durch das sozialistische Gesundheitswesen veranlasste Kontrolle dieser Apotheke nach 1945. Erst 1962 war eine Apothekenordnung6 herausgegeben worden, die erstmalig eine Kontrolle der Apotheken durch ehrenamtliche Apothekenrevisoren im Auftrage der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen des Bezirkes vorsah. Trotz der bisher fehlenden Kontrolle der Giftbestände in den Apotheken durch das Gesundheitswesen wäre der Leiter der staatlich verwalteten Löwen-Apotheke [Vorname Name 2] gemäß der 2. Durchführungsbestimmung zur Apothekenordnung vom 23.12.1958 und dem Gesetzblatt Nr. 3 vom 31.1.19597 zur Registrierung oder Meldung der vorhandenen Giftmengen verpflichtet gewesen. Außerdem verlangt die 2. Durchführungsbestimmung zur Apothekenordnung vom 23.12.1958 (§ 3 Abs. 2) eine genaue Erfassung aller Waren und Werte bei der Übernahme von privaten Apotheken in Volkseigentum. (Die Löwen-Apotheke war vor der Übergabe in die staatliche Verwaltung Privateigentum des jetzigen Verwalters [Vorname Name 2].)
Da sich aus diesem Beispiel die Schlussfolgerung aufdrängt, dass Ähnliches auch auf andere Apotheken zutreffen könnte und es praktisch möglich war, über Jahre hinweg unkontrolliert größere Mengen Giftes aufzubewahren und auch für eventuelle verbrecherische Handlungen zur Verfügung zu halten, wurde auf Anregung des MfS eine genaue Untersuchung dieser Angelegenheit durchgeführt. Dabei wurde bisher im Einzelnen festgestellt: Nach Angaben des jetzigen Verwalters und ehemaligen Besitzers der Löwen-Apotheke, [Vorname Name 2], der jetzigen Kreisapothekerin des Kreis Wittenberg Pharmazierätin Christa Rhau8 (1945 war sie leitende Angestellte in der Löwen-Apotheke), der jetzigen Apothekenassistentin und damaligen Apothekenhelferin in der Löwen-Apotheke [Vorname Name 3], sollen die betreffenden Giftmengen der privaten Löwen-Apotheke 1945 von drei sowjetischen Offizieren, die in der Apotheke mit einem Dolmetscher erschienen, zur Aufbewahrung übergeben worden sein. Von den sowjetischen Offizieren sei bei der Übergabe, die ohne Protokoll und schriftliche Festlegungen erfolgt wäre, erklärt worden, die Giftmengen würden aus Sicherheitsgründen und aus Gründen einer sachgemäßen Behandlung der Apotheke hinterlegt. Sie würden zu einem späteren Zeitpunkt von sowjetischen Armeeangehörigen bzw. von der sowjetischen Kommandantur wieder abverfügt. Die sowjetischen Offiziere hätten weiterhin darauf aufmerksam gemacht, mit niemandem über die Gifteinlagerung zu sprechen; es handle sich um eine interne Abmachung, auf die keine sowjetische oder deutsche Dienststelle aufmerksam gemacht werden brauche. Die Namen, Dienstgrad sowie Einheit der drei sowjetischen Offiziere bzw. des Dolmetschers seien jedoch unbekannt. Auch habe nie wieder eine sowjetische oder deutsche Dienststelle nach dem Gift gefragt.
Unterlagen über die eventuellen Umstände einer Giftübergabe um 1945/46 liegen bei der sowjetischen Kommandantur im Bezirk Halle nicht vor, sodass durch die sowjetischen Genossen keine Bestätigung der Umstände der Giftübergabe an die Löwen-Apotheke gegeben werden kann.
Während der am 18.7.1963 durchgeführten Revision in der staatlich verwalteten Löwen-Apotheke machte der Verwaltungsleiter [Name 2] erstmals auf die Lagerung der Gifte aufmerksam, da er angeblich jetzt Platz brauche. Auf Hinweise des Apothekenrevisors [Name 1] bat Verwaltungsleiter [Name 2] das VPKA Wittenberg bei Mitteilung des Sachverhalts um Abholung der Gifte.
Durch Mitarbeiter der Abteilung K, Dezernat E,9 der BdVP Halle wurde unter Leitung des 1. Stellvertreters des Chefs der BdVP Halle Genossen Oberst der VP Heinze10 und in Anwesenheit von Offizieren der sowjetischen Armee (Angehörigen des Armee-Krankenhauses der sowjetischen Streitkräfte in Halle) das Gift am 2.9.1963 sichergestellt und auf Weisung Genossen Oberst Heinzes an die sowjetische Dienststelle in Halle übergeben.
Die Frage, warum in der Zeit von 18 Jahren von dem Apotheker [Name 2] bzw. der jetzigen Kreisapothekerin Rhau keine Meldung an die Behörden erfolgt sei, wurde von ihnen damit beantwortet, dass sie von den sowjetischen Offizieren zum Stillschweigen aufgefordert waren und nach 1945 gesetzlich nicht verpflichtet gewesen seien, die Behörden zu verständigen.
Der Apotheker [Name 2] hatte es außerdem für möglich gehalten, dass die Gifte ihre Wirkung durch diese lange Lagerungszeit verloren hatten und nun harmlos sind. (Endspurt einer Zyankalizersetzung ist die harmlose Ameisensäure.)
Zur Herkunft der Gifte äußerte die Kreisapothekerin die Vermutung, dass sie aus einer Beschlagnahmeaktion stammen, da in der Zeit der angeblichen Übergabe der Giftmengen an die Löwen-Apotheke Drogerien und Produktionsbetriebe durch die sowjetischen Dienststellen überprüft worden wären. Sie hält es für möglich, dass die Gifte aus dem Stickstoffwerk oder der ehemaligen WASAG11 stammen.
Die unkontrollierte Aufbewahrung von Giften wurde durch die Tatsache begünstigt, dass mehrere Jahre nach 1945 keine Apothekenordnung und kein Gesetzblatt eine Meldung unregistrierter Giftmengen vorsah. Die in unregelmäßigen und langen Abständen von der VP durchgeführten Testkontrollen in Apotheken liefen überwiegend schnell und zum Teil nur oberflächlich ab, sodass dadurch keine Aufspürung unregistrierter Gifte möglich war. Seit ca. 1952 werden durch die VP keine Kontrollen der Giftbestände in Apotheken mehr vorgenommen, da diese Aufgabe dem staatlichen Gesundheitswesen übertragen werden sollte. Seitens des Gesundheitswesens wurde jedoch erst 1962/63 mit den Kontrollen durch ehrenamtliche Apothekenrevisoren begonnen.
Auch in der Löwen-Apotheke waren bis ca. 1952 wiederholt Überprüfungen durch Mitarbeiter des VPKA, besonders hinsichtlich vorhandener Rauschgifte und Betäubungsmittel, vorgenommen worden, ohne dass die Existenz der großen Mengen Gift bekannt geworden war. Die Kontrollen – auch die jetzt durch das Gesundheitswesen durchgeführten – wurden und werden in der Regel so vorgenommen, dass lediglich die vorhandenen Giftbücher und sonstigen Unterlagen eingesehen und eventuell noch mit den Beständen im Lager verglichen werden. Da nicht sämtliche vorhandenen Bestände der Apotheke gesichtet werden, ist eine Aufbewahrung unkontrollierter Giftmengen in gesonderten Behältnissen durchaus möglich.
Als Mangel der durch VP und durch das staatliche Gesundheitswesen durchgeführten Kontrollen in den Apotheken erweist sich der Umstand, dass zwischen beiden Organen eine ungenügende Abstimmung im Interesse der verbrechensvorbeugenden Tätigkeit und der Einhaltung der Sicherheit und Ordnung vorgenommen wird. Zum Beispiel ist für die Kontrolle in sämtlichen Objekten, wie in Betrieben und Drogerien (außer Apotheken), weiterhin das Sachgebiet E/1 Abt. K der VPKÄ verantwortlich, während Apotheken nur vom staatlichen Gesundheitswesen kontrolliert werden. Nur in Ausnahmefällen werden sogenannte Landapotheken, die Pflanzengifte u. a. lagern, in die Kontrolle durch die Volkspolizei einbezogen. Obwohl dadurch die VPKÄ keine Übersicht über Bestände und Vorkommnisse in Apotheken besitzen, finden Absprachen oder gemeinsame Auswertungen mit den Verantwortlichen des staatlichen Gesundheitswesens nicht statt. In den VPKÄ werden diese Versäumnisse häufig mit Kadermangel u. Ä. entschuldigt. (Die Planstellen der E/1-Sachbearbeiter sind häufig unterbesetzt, oder die Funktionen üben noch unqualifizierte Kräfte aus. Zum Beispiel sind nur wenige Genossen des Sachgebietes E/1 im Besitz von Giftscheinen.)
Der bisherige Stand der Untersuchungsarbeit durch die VP selbst ist völlig ungenügend. Auf Veranlassung des 1. Stellvertreters des Chefs der BdVP Halle, Genossen Oberst der VP Heinze, wurden die weiteren Ermittlungen zur Sache eingestellt, da bei den Genossen der VP die Meinung vorherrscht, dass alle von den befragten Personen gemachten Angaben den Tatsachen entsprechen und weitere Untersuchungen zu keinem Ergebnis mehr führen würden.
Zu dieser Einschätzung kamen die Genossen der VP, obwohl bisher völlig ungenügende Untersuchungsergebnisse sowohl zum Sachverhalt als auch zu den Personen vorliegen. Zum Beispiel lässt der bisher ermittelte Sachverhalt eine Reihe von Widersprüchen offen. So ist bisher nicht geklärt worden, wer die Giftmengen 1945 von den sowjetischen Offizieren übernommen und versiegelt hat ([Name 2] oder Rhau). Beide Personen sagen ferner aus, dass die Gifte verschlossen und versiegelt untergebracht waren, obwohl eine Versiegelung bei der Übernahme der Gifte nicht mehr festgestellt wurde. Wann und von wem die Entsiegelung erfolgte, ist bisher nicht ermittelt worden. Widersprüchliche Angaben sind auch insbesondere zu den Personen Rhau und [Name 2] vorhanden, wobei es besonders zur politischen Vergangenheit der beiden unterschiedliche Angaben gibt (u. a. zur Mitgliedschaft NSDAP). Unaufgeklärt sind ferner die noch bestehenden Verbindungen der Personen nach Westberlin (Empfang von Besuchen, Briefverbindungen usw.).
Eine Reihe zur gründlichen Vorgangsbearbeitung notwendiger Maßnahmen wurden von der VP unterlassen. Zum Beispiel gründliche Befragung der Personen [Name 2], Rhau und [Name 3], Personenaufklärung der genannten Bürger sowie die notwendige Vergleichsarbeit dazu; Tatortsbefundaufnahme und kriminaltechnische Behandlung; konkrete Ermittlungsarbeit zur Feststellung des tatsächlichen Sachverhaltes; Überprüfung der Pflichten des Apothekers u. Ä.
Nach einer gründlichen politischen Einschätzung des Vorfalles wäre es z. B. auch notwendig gewesen, zur völligen Aufklärung der Umstände ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Ebenso wurde keine Auswertung mit den staatlichen Organen, insbesondere mit dem Gesundheitswesen, durchgeführt. Eine Mitteilung an das MfS erfolgte ebenfalls nicht.
In Auswertung des geschilderten Vorkommnisses und der bei der Bearbeitung aufgetretenen Nachlässigkeiten wird empfohlen:
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Zur Verbesserung der Giftkontrolle und -überwachung wäre es dringend erforderlich, dass ein Zusammenwirken der Abt. K – E mit den weiteren Dienstzweigen der Volkspolizei und den staatlichen Organen sowie gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere mit den Kommissionen für Ordnung und Sicherheit in den Kreisen und Gemeinden und den Arbeitsschutzinspektionen in den Betrieben endgültig gewährleistet wird.
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Mit der Abteilung Gesundheitswesen (Räte der Kreise, Räte der Bezirke) müsste eine ständige Zusammenarbeit erreicht werden, wobei die vorbeugende Tätigkeit im Mittelpunkt stehen sollte.
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Gemäß der Bedeutung der Giftklassen und der Schwerpunkte müsste eine Mindestkontrollfrist (sowohl durch die E-Sachbearbeiter der Volkspolizei als auch durch das staatliche Gesundheitswesen) eingeführt werden. Ebenso wäre es notwendig, Fristen für die Überwachung der Giftscheininhaber festzulegen.
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Es wäre zu überprüfen, inwieweit eine allumfassende und systematische Schulung und Ausbildung der E-Sachbearbeiter der Volkspolizei (Kreise und Bezirke) intensiviert werden könnte.
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In enger Zusammenarbeit der entsprechenden Kontrollposten (Gesundheitswesen und andere staatliche Organe sowie Kommissionen für Ordnung und Sicherheit, Arbeitsschutzinspektionen und andere gesellschaftliche Organisationen) sollten unter der Regie des Verantwortlichen der Volkspolizei die Schwerpunkte in den Kreisen, Bezirken und im Republikmaßstab festgestellt und intensiv bearbeitet werden mit dem Ziel, verbrechensbegünstigende Umstände aufzudecken und zu beseitigen.