Mängel in der Leitungstätigkeit des Ministeriums für Verkehrswesen
22. Oktober 1963
Einzelinformation Nr. 638/63 über mangelhafte Kollektivität in der Leitung des Ministeriums für Verkehrswesen (MfV) und über einige subjektive Faktoren, die sich ebenfalls hemmend auf die Leitungstätigkeit im MfV auswirken
Dem MfS liegen verschiedene Hinweise vor, die ergänzend zu den bereits in früheren Informationen1 erwähnten Schwächen in der Leitungstätigkeit des MfV mitgeteilt werden.
In den letzten Wochen und Monaten gab es im MfV wieder eine Reihe charakteristische Beispiele dafür, dass die Leitungstätigkeit besonders der führenden Funktionäre nicht genügend den politisch-ökonomischen Erfordernissen entspricht.
Zum Beispiel werden die auf der Parteiaktivtagung2 des MfV Anfang September 1963 und auch die in den zentralen Besprechungen zur Debatte gestellten wichtigen Probleme nicht bis zu Ende diskutiert. Entsprechende Vorschläge und Maßnahmen werden nur zögernd oder gar nicht realisiert, obwohl von den führenden Funktionären betont wurde, dass solche Maßnahmen und Vorschläge schnell wirksam werden müssten.
Unter anderem betrifft dies solche wichtigen Probleme wie Investgeschehen und Unfallgeschehen, die seit Langem einen Schwerpunkt darstellen, ohne dass trotz aller Kritiken und Hinweise – auch seitens des MfS – wirklich wirksame Maßnahmen eingeleitet wurden.
Ungelöst sind bzw. waren lange Zeit auch
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die Zusammenfassung der Bereiche Planung, zentrale Forschung und Entwicklung, Statistik usw.,
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das Weisungsrecht des stellvertretenden Ministers Genossen Scholz3 an die Präsidenten und
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teilweise solche Prinzipien der Leitungstätigkeit wie exakte und zweckmäßigste Durchführung und Kontrolle von Beschlüssen der Partei und Regierung.
Die Ursachen für diese Schwächen sind in erster Linie auf die mangelnde Kollektivität der Leitung zurückzuführen. Das Verhältnis des Ministers zu seinen Stellvertretern und teilweise auch das Verhältnis zwischen den einzelnen Stellvertretern ist durch eine Reihe subjektiver Faktoren belastet, die ein wirklich kollektives Herangehen an die fachlichen Probleme erschweren, weil sie mitunter zu sehr in den Vordergrund gestellt werden.
Zum Beispiel ist typisch, dass der Minister Genosse Kramer4 fast alle Kritiken und Vorschläge als gegen seine Person gerichtet und nicht als Hilfe für die Verbesserung der Arbeit ansieht. Er schlussfolgert daraus vielmehr, dass man ihn »abzulösen« versucht, dass man z. B. »einen neuen Minister systematisch vorbereitet«.
Darunter leidet natürlich die gesamte Arbeit. Genosse Kramer misstraut fast jedem seiner Stellvertreter und ist in erster Linie daran interessiert, in Erfahrung zu bringen, was über ihn und von wem diskutiert wird.
Hinter fast allen neuen Vorstellungen und Vorschlägen über Veränderung und Verbesserung der fachlichen Arbeit (Probleme der Vorlagen, Charakter der Besprechungen, Schaffung einer Generaldirektion Eisenbahn usw.) sieht er Bestrebungen, ihn zu isolieren.
Dadurch hat sich zwischen den Stellvertretern und dem Minister praktisch eine Front gebildet, der Genosse Kramer labil gegenübersteht und vor der er resigniert.
Das zeigt sich u. a. darin, dass Genosse Kramer in einigen Fällen Entscheidungen zu Problemen, für die ihm das Entscheidungsrecht und die -pflicht zustehen, anderen Stellvertretern überlässt oder hinauszögert.
Neben den bereits auf Seite 2 angeführten Problemen soll hier noch die sogenannte Vorlage Westberlin5 erwähnt werden, zu der bis jetzt noch nicht die Zustimmung aller infrage kommenden staatlichen Organe eingeholt wurde, obwohl diese Vorlage von äußerster Dringlichkeit ist.
Außerdem soll auf das Problem Fährverbindung DDR – UdSSR hingewiesen werden, an dem die Mängel in der Leitungstätigkeit im MfV besonders krass in Erscheinung treten.
Für dieses Projekt war vom MfV ein Investitionsaufwand von 30 Mio. DM6 für landseitige Investitionen angegeben worden. Auf dieser Grundlage wurden der entsprechende Politbürobeschluss gefasst und die Verhandlungen mit der Sowjetunion eingeleitet. Eine spätere genauere Überprüfung ergab jedoch, dass ein sieben- bis neunfacher Investitionsaufwand erforderlich ist. Genossen Kramer wurde deshalb empfohlen, diese Veränderung persönlich dem Genossen Dr. Apel7 zur Kenntnis zu geben. Trotz des durch diese Fehlkalkulation möglichen großen Schadens geschah dies bisher jedoch nicht, offensichtlich weil Genosse Minister Kramer diesen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen versucht.
Typisch ist auch die Reaktion des Genossen Kramer auf die Hinweise des Genossen Stoph8 und des MfS über die steigende Zahl der subjektiv verursachten Unfälle bei der Deutschen Reichsbahn, indem er durchblicken ließ, dieses Problem ginge ihn nichts an, das gehöre in den Kompetenzbereich des Genossen Scholz.
Bezeichnend für die Situation im Leitungskollektiv ist ferner, dass Minister Kramer z. B. das Verhältnis zum Genossen Menzel9 so einschätzt, dass eine Zusammenarbeit überhaupt nicht mehr möglich sei.
Andererseits wird Genosse Kramer von einigen leitenden Funktionären des MfV als überaus empfindlich, von sich eingenommen und überheblich eingeschätzt.
Als z. B. die bereits erwähnte Parteiaktivtagung nicht die von ihm erwarteten »scharfen Angriffe gegen seine Person« brachte, war seine sinngemäße Reaktion: Man braucht Kramer noch.
Das beweist ebenfalls, dass er seine Funktion in erster Linie unter dem Gesichtspunkt seiner »persönlichen Rolle und Verdienste« betrachtet.
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