Politisch-moralischer Zustand der Grenztruppen der NVA, November 1963
11. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 754/63 über einige Schwächen und Mängel im politisch-moralischen Zustand der NVA/Grenze
Auch im November 1963 setzte der Gegner seine massierte und zielgerichtete Zersetzungstätigkeit gegen die Angehörigen der Grenztruppen mit den vielfältigsten Mitteln und Methoden fort. Hauptmethode der ideologischen Diversion1 waren wiederum die Versuche Westberliner Bereitschaftspolizisten, Zollangehöriger, Besatzer2 oder Zivilpersonen, mit unseren Grenzposten Kontakt aufzunehmen. Während an der Staatsgrenze Berlin im Berichtszeitraum 108 Kontaktaufnahmeversuche bekannt wurden, waren es an der Staatsgrenze West nur 15 Fälle. Obwohl der Gegner seine Anstrengungen zur ideologischen Zersetzung unserer Grenzsicherungskräfte fortführte, hat sich der politisch-moralische Zustand in den Grenzkompanien, besonders in den Berliner Grenzbrigaden3 weiter verbessert. Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Tatsache, dass in den Berliner Grenzbrigaden keine Fahnenfluchten und keine Kontaktaufnahmen zu verzeichnen waren.
An der Staatsgrenze West erfolgten in der Berichtszeit 19 Fahnenfluchten (Vormonat 16), davon zwei Gruppenfahnenfluchten. Schwerpunkt bildet das Grenzregiment4 Eisenach mit fünf Fahnenfluchten, besonders die Kompanie Lauchröden mit einer Gruppenfahnenflucht (ein Unterfeldwebel, drei Unteroffiziere).
Beachtenswert ist, dass von den 19 Fahnenflüchtigen neun als Unterführer eingesetzt waren und den Dienstgrad Unterfeldwebel bzw. Unteroffizier hatten. Elf der 19 Fahnenflüchtigen wurden im Mai 1963 eingestellt, davon vier, die in der kurzen Zeit bereits zum Unteroffizier befördert und als Gruppenführer eingesetzt wurden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass im Oktober 1963 ebenfalls zwei Unteroffiziere fahnenflüchtig wurden, die erst seit Mai 1963 Angehörige der NVA waren. Weiter muss darauf hingewiesen werden, dass der größte Teil der fahnenflüchtig gewordenen NVA-Angehörigen kurz nach der Versetzung vom Ausbildungsbataillon zur Linieneinheit desertierte. Zum Beispiel wurde der Gruppenführer Unteroffizier [Name 1] (NVA seit 3.5.1963) am 5.11.1963, 14 Tage nach seinem Einsatz in der Linieneinheit (Kompanie Rotheul, GR Sonneberg) fahnenflüchtig. Unteroffizier [Name 2], Kompanie Silkerode, GR Nordhausen (NVA seit 3.5.1963) war am 17.11.1963 mit seinem Zugführer Unterleutnant [Name 3] zur Postenkontrolle eingesetzt. Unterwegs sagte [Name 2], dass er noch nie einen Zöllner gesehen hätte. Daraufhin warteten beide, bis auf westlichem Gebiet ein Zöllner kam. Gegenüber seinem Zugführer äußerte [Name 2]: »Die sehen auch ganz normal aus.« Weiter unterbreitete er den Vorschlag, ihn gleich an der Grenze zurückzulassen, weil er vom Kompanie-Chef als Überbrückungsstreife eingesetzt würde. Der Zugführer ließ sich auf diesen Vorschlag zwar nicht ein, führte aber auch keine Auseinandersetzung bzw. Klarstellung der Auffassung des [Name 2] herbei. Unteroffizier [Name 2] wurde noch am gleichen Tage fahnenflüchtig.
Am 3.11.1963 befand sich Unteroffizier [Name 4] (NVA seit 4.5.1963) mit einem Offizier der Kompanie Zweedorf, GR Wittenburg, auf 10-m-Kontrollstreife. Als zwei westdeutsche Zöllner erschienen, sprang Offizier [Name 4] über den 10-m-KS und wurde fahnenflüchtig.
Diese Tatsachen weisen vor allem auf die noch bestehenden Mängel in einer gründlichen Auswahl und Einschätzung der Kader für die Grenztruppen durch die WKK, die Ausbildungsbataillone und die zuständigen Kommandeure hin.
Wie in den letzten Monaten erfolgten die meisten Fahnenfluchten während oder anschließend am Ausgang bzw. Urlaub. Im Vergleich zum Vormonat ergibt sich folgendes Bild:
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vom Ausgang bzw. Urlaub: neun (Vormonat sechs),
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während des Grenzdienstes: sechs (Vormonat fünf),
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aus der Unterkunft: vier (Vormonat drei).
Ein großer Teil der Fahnenfluchten erfolgte nach übermäßigem Alkoholgenuss.
Weiter konnten in der Berichtszeit an der Staatsgrenze West elf Fahnenfluchten, an der Staatsgrenze Berlin sechs Fahnenfluchten verhindert werden.
Schwerpunkt bilden die 9. Grenzbrigade Erfurt und die 2. Grenzbrigade (B) mit je vier verhinderten Fahnenfluchten.
Die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion und die u. a. daraus resultierenden Fahnenfluchten wurden im Wesentlichen begünstigt durch
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mangelhafte Erziehungs- und Kaderarbeit in den Ausbildungs- und Linieneinheiten,
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Verstöße gegen die militärische Disziplin und Ordnung bei der Organisierung und Durchführung des Grenzdienstes,
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ein noch ungenügend entwickeltes sozialistisches Vertrauensverhältnis untereinander – besonders zwischen Vorgesetzten und Unterstellten.
Dazu folgende Beispiele:
Am 20.11.1963 holte Unterfeldwebel [Name 5] (Kompanie Schattin, GR Schönberg) aus der Konsumgaststätte Bier und Kognak in die Unterkunft und spielte mit den Soldaten bis gegen 1.00 Uhr Skat. Anschließend unterhielt er sich bis gegen 2.00 Uhr mit Soldaten, die sich für den Grenzdienst vorbereiteten. Danach verließ er die Dienststelle und wurde fahnenflüchtig.
Am 27.11.1963 wurde der Soldat [Name 6], von der gleichen Einheit fahnenflüchtig. [Name 6] befand sich mit mehreren Soldaten in der Gaststätte in Schattin, wo er Skat spielte und übermäßig Alkohol zu sich nahm. Gegen 21.00 Uhr verließ er das Lokal und wurde flüchtig.
Am 18.11.1963 desertierten die Gefreiten [Name 7] und [Name 8] von der Kompanie Ohrsleben, GR Halberstadt, nach Westdeutschland. Beide wurden an diesem Tage zu neun Stunden Grenzdienst eingesetzt, ohne dass sie während dieser Zeit kontrolliert wurden.
Besonders in der Untersuchung der verhinderten Fahnenfluchten wurde festgestellt, dass die individuelle Erziehungsarbeit und die Gespräche mit den vom Urlaub zurückgekehrten NVA-Angehörigen sowie den neu in die Linieneinheit versetzten Grenzsoldaten von großer Bedeutung für die richtige Einschätzung und den weiteren Einsatz des Soldaten im Grenzdienst sind. Zum Beispiel erklärte der Unteroffizier [Name 9] (Kompanie Diesdorf, GR Beetzendorf) in einer Aussprache, dass er keine Lust mehr zum Dienst in der NVA habe und sich mit dem Gedanken der Fahnenflucht trug. Im Elternhaus wurden nur westliche Rundfunksendungen empfangen und [Name 9] durch seine Mutter ständig negativ beeinflusst. Ein Bruder von ihm wurde nach seiner Entlassung aus der NVA republikflüchtig. (Unteroffizier [Name 9] wurde aus der NVA entlassen.)
Wie in den bereits angeführten Beispielen zeigen sich die ungenügende Erziehungsarbeit und die Wirkung der politisch-ideologischen Diversion nicht zuletzt in ideologischen Unklarheiten über den Gebrauch der Schusswaffe zur Verhinderung von Grenzverletzungen. So erfolgte z. B. am 5.11.1963 gegen 12.00 Uhr im Abschnitt der Kompanie Vacha, GR Dermbach, ein Grenzdurchbruch nach Westdeutschland. Der [Vorname Name 10] aus Bad Liebenstein fuhr mit einem Lkw auf der Straße 62 aus Vacha kommend in Richtung Grenze. Als die an der Straße eingesetzten Grenzposten Gefreiter [Name 11] und Soldat [Name 12] das Fahrzeug kontrollieren wollten, gab [Name 10] Gas und fuhr in Richtung Grenze weiter. Von beiden Grenzsoldaten wurden keine Maßnahmen eingeleitet, um den Grenzdurchbruch zu verhindern.
In der Untersuchung wurde festgestellt, dass beide Angst hatten, zu schießen und nur ungenügend ausgebildet waren.
Einige Schlussfolgerungen:
Ein großer Teil der Fahnenfluchten erfolgte nach vorherigem reichlichen Genuss von Alkohol. (z. B. Kompanie Schattin, GR Schönberg).
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Es wäre zweckmäßig, insgesamt der kulturpolitischen Betreuung und der Entwicklung des sozialistischen Gemeinschaftslebens in den Grenzkompanien mehr Beachtung zu widmen und im Zusammenhang mit anderen besonderen Vorkommnissen, die unter Alkoholeinwirkung verursacht wurden, einen verstärkten Kampf gegen den übermäßigen Alkoholgenuss zu führen.
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Die Arbeit mit den Gruppenführern müsste grundlegend verbessert werden. Bei der Auswahl der Kader für die Unterführerlaufbahn sollten nur solche Kräfte in Betracht gezogen werden, die aufgrund der bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten als Erzieher wirksam werden können und auch in Bezug auf Sicherheit eine bestimmte Gewähr bieten.
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Beförderungen zum Unteroffizier sollten erst nach Bewährung im Grenzeinsatz ausgesprochen werden.
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Die Auswahl von Wehrpflichtigen für den Einsatz im Grenzdienst müsste durch die WKK sorgfältiger erfolgen. Auch der Überprüfung der Kader in den Ausbildungseinheiten müsste durch die zuständigen Kommandeure mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
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Besonders in der kalten Jahreszeit sollte die Ausrüstung der Grenzposten mit warmer Bekleidung sowie die Versorgung mit warmen Getränken in allen Linieneinheiten gewährleistet sein.
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Durch die übergeordneten Stäbe sollten regelmäßige Kontrollen in den Kompanien erfolgen.
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Besonders während der bevorstehenden Feiertage (Weihnachten/Neujahr) sollten die in den Kompanien verbleibenden Soldaten sich nicht selbst überlassen werden und während des Grenzdienstes wie in der Unterkunft unter der Kontrolle von Offizieren stehen.
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Mit den aus Weihnachts- bzw. Neujahrsurlaub zurückkehrenden Soldaten sollte die individuelle Arbeit verstärkt und Kadergespräche geführt werden.