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Politisch-moralischer Zustand der Grenztruppen der NVA, Oktober 1963

14. November 1963
Einzelinformation Nr. 692/63 über einige wesentliche Schwächen und Mängel im politisch-moralischen Zustand der NVA/Grenze

Nach den vorliegenden Informationen ist im Berichtszeitraum (Oktober 1963) in den Einheiten der Grenztruppen eine weitere Festigung des politisch-moralischen Zustandes erreicht worden. Trotz dieser insgesamt positiven Entwicklung gibt es jedoch in einer Reihe von Grenzkompanien immer noch erhebliche Schwächen und Unzulänglichkeiten, die sich auf den politisch-moralischen Zustand und die Durchführung der Sicherungsaufgaben negativ auswirken und den gegnerischen Einfluss begünstigen.

Durch die teilweise noch mangelhafte politisch-ideologische Erziehungsarbeit und die ungenügende Durchsetzung einer straffen militärischen Disziplin und Ordnung gelang es dem Gegner, mit den Mitteln der politisch-ideologischen Diversion1 in einzelnen Einheiten der NVA/Grenze2 wirksam zu werden und Angehörige der Grenztruppen negativ zu beeinflussen.

Der Umfang der gegnerischen Bemühungen zur Einflussnahme auf unsere Grenztruppen geht u. a. daraus hervor, dass allein an der Staatsgrenze nach Westberlin der Gegner in 482 Fällen (davon 300 in der 1. Grenzbrigade3) versuchte, Kontakt mit den Grenzposten aufzunehmen. In weiteren 133 Fällen wurden Westzeitungen und Hetzschriften über die Grenze geworfen. In einem Abschnitt des 35. GR,4 1. Grenzbrigade, wurden an einem Tage über 40 an Bierdeckel geheftete Hetzschriften über die Grenzsicherungsanlagen geworfen, deren Inhalt sich speziell an die Grenzsoldaten richtete.

Die Hetzschrift forderte dazu auf, nicht auf Grenzverletzer zu schießen und sicherte bei einer eventuellen Fahnenflucht ein sofortiges Ausfliegen aus Westberlin, ein »besseres Leben« und eine »bessere Auswahl der Arbeit« in Westdeutschland zu.

Die entlang der Staatsgrenze zu Westberlin aufgestellten Hetzparolen wurden im Berichtszeitraum dreimal erneuert.

Am 8.10.1963 bezog sich der Text auf die Entlassungen in der NVA und lautete: »Allen, die sich anständig verhalten haben, unseren herzlichsten Dank. Alle Nachfolger sollten sich ein Beispiel daran nehmen.«

Am 18.10.1963 richtete sich der Text gegen die Wahlen5 in der DDR.

Am 28.10.1963 wurde folgender Text angebracht: »Amtliche Mitteilung an die Grenzbrigaden: Kein geflüchteter Soldat wird zurückgeschickt.«

In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass im Berichtszeitraum durch den Sender »RIAS« 35 speziell an die NVA-Grenztruppen gerichtete Hetzsendungen ausgestrahlt wurden.

Diese gegnerischen Bestrebungen zur Zersetzung unserer Grenztruppen zeigen, wie dies u. a. bei Fahnenfluchten bzw. verhinderten Fahnenfluchten und in anderen negativen Erscheinungen mit zum Ausdruck kommt, eine gewisse Wirkung auf den politisch-moralischen Zustand der Grenztruppen.

Wenn auch insgesamt ein ständiger Rückgang in der Anzahl der erfolgten Fahnenfluchten zu verzeichnen ist, so sind die im Oktober 1963 erfolgten 21 Fahnenfluchten (und 23 verhinderte) noch immer ein ernstes Problem.

Im Vergleich zu den letzten Vormonaten zeigt sich folgende Entwicklung:

[Monat]

Juli

August

September

Oktober

gesamt

gesamt

50

37

24

21

329

nach WD

40

30

12

16

98

davon Unteroffizier

(11)

(5)

(3)

(3)

(21)

nach WB

10

7

12

5

34

davon Unteroffizier

(4)

(1)

(2)

(2)

(9)

Gruppenfahnenflucht WD

12

7

1

20

Gruppenfahnenflucht WB

2

1

4

7

An der Staatsgrenze West waren im Oktober 1963 folgende Grenzregimenter Schwerpunkt der Fahnenfluchten:

  • GR Dermbach mit drei Fahnenfluchten,

  • GR Wittenburg mit zwei Fahnenfluchten,

  • GR Salzwedel mit zwei Fahnenfluchten,

  • GR Eisenach mit zwei Fahnenfluchten.

Von den fünf Fahnenfluchten an der Staatsgrenze zu Westberlin erfolgten drei aus der 1. Brigade und zwei aus der 4. Brigade.6

Außer der Gruppenfahnenflucht von zwei Angehörigen der Kompanie Buttlar, GR Dermbach, erfolgten die restlichen Fahnenfluchten aus verschiedenen Grenzkompanien, sodass keine weiteren Konzentrationen auftraten.

Im gleichen Zeitraum konnten insgesamt 23 Fahnenfluchten verhindert werden, davon zwölf an der Staatsgrenze zu Westberlin und elf an der Staatsgrenze West.

In der Untersuchung der erfolgten und verhinderten Fahnenfluchten wurde wiederholt festgestellt, dass die NVA-Angehörigen in ihren Einheiten westliche Rundfunksender hörten, die Verhältnisse in Westberlin und Westdeutschland verherrlichten, während des Dienstes Kontakte über die Grenze unterhielten oder mit Verwandten und Bekannten in Westdeutschland bzw. Westberlin brieflich oder durch persönliches Zusammentreffen in Verbindung standen.

Von den insgesamt 16 Fahnenflüchtigen aus den Einheiten an der Staatsgrenze West desertierten:

  • sechs NVA-Angehörige vom Ausgang bzw. Urlaub,

  • fünf NVA-Angehörige während des Grenzdienstes,

  • drei NVA-Angehörige aus der Unterkunft der Kompanie,

  • zwei NVA-Angehörige während des Dienstes als Hausposten am Objekt.

An der Staatsgrenze nach Westberlin erfolgten die Fahnenfluchten ausschließlich während des Grenzdienstes.

Die unmittelbar während des Grenzdienstes erfolgten Desertionen wurden durch die immer noch häufig anzutreffenden Verstöße gegen bestehende Befehle und Weisungen, die eine Postentrennung verbieten, begünstigt. Unter den verschiedensten Vorwänden wurden die zweiten Posten zur Überprüfung von Signalgeräten, zum Anruf über das Grenzmeldenetz usw. weggeschickt, um deren Abwesenheit zur Fahnenflucht auszunutzen.

Zum Beispiel trennte sich der Postenführer Soldat [Name 1] (Kompanie Pferdsdorf, GR Dermsbach) von seinem Posten, um angeblich über das Grenzmeldenetz die Kompanie anzurufen. Seinem Posten befahl er, inzwischen die Signalgeräte zu überprüfen. Während der Posten den Befehl ausführte, wurde der Postenführer fahnenflüchtig.

In Einzelfällen wurde auch versucht, durch Drohungen oder Anwendung von Gewalt den anderen Posten mit zur Fahnenflucht zu bewegen bzw. ihn am Eingreifen zu hindern.

Zum Beispiel befand sich am 26.10.1963 der Unteroffizier [Name 2] mit dem Soldaten [Name 3] im Bereich der Kompanie Weilrode, GR Nordhausen, auf Postenkontrolle. Unmittelbar an den Grenzsicherungsanlagen stieß [Name 2] den Soldaten [Name 3] mit einem MPi-Magazin in die Seite, sodass [Name 3] zu Fall kam. Anschließend richtete [Name 2] seine Waffe auf [Name 3] und wurde über die Grenzsicherungsanlagen fahnenflüchtig, wobei er den [Name 3] aufforderte, ebenfalls flüchtig zu werden.

In der Kompanie Berka, GR Eisenach, hatte der Soldat [Name 4] vor Dienstantritt das Schloss aus der MPi seines Postenführers Soldat [Name 5] entfernt, um beim Grenzdienst eventuell unter Anwendung von Gewalt fahnenflüchtig zu werden. Der Postenführer bemerkte den Fluchtversuch jedoch rechtzeitig und konnte den Posten überwältigen und entwaffnen.

Im Zusammenhang mit den Fahnenfluchten ist besonders bemerkenswert, dass in mehreren Fällen NVA-Angehörige fahnenflüchtig wurden, die vorher als positiv und zuverlässig eingeschätzt und belobigt bzw. ausgezeichnet wurden. So sollte z. B. der bereits erwähnte Unteroffizier [Name 2] wegen guter Dienstdurchführung als Ausbilder in das Ausbildungsbataillon versetzt werden.

Der am 31.10.1963 fahnenflüchtig gewordene Soldat [Name 6, Vorname] von der Kompanie Reddigau, GR Beetzendorf, wurde am 30.10.1963 aufgrund guter Dienstdurchführung und aktiver FDJ-Arbeit ausgezeichnet.

Der am 22.10.1963 fahnenflüchtig gewordene Unteroffizier [Name 7], Kompanie Testorf, GR Wittenburg, wurde aufgrund des guten Dienstes an der Grenze vorzeitig zum Unteroffizier befördert und als Gruppenführer eingesetzt.

Diese und andere vorliegende Beispiele beweisen erneut, dass bei den Führungskadern in den Linieneinheiten die Kenntnisse über die Unterstellten teilweise immer noch sehr mangelhaft und vorhandene Unsicherheitsfaktoren nur ungenügend bekannt sind. Diese mangelhafte Kenntnis und insbesondere die ungenügende Beachtung der Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Sorgen und Nöte führen oftmals zu falschen Einschätzungen und ermöglichen es den Vorgesetzten auch nicht, wirkungsvoll auf Schwankungen, Mängel und Schwächen des einzelnen Kompanieangehörigen Einfluss zu nehmen.

Weitere begünstigende Umstände sind die z. T. noch bestehende Unordnung und ungenügende Durchsetzung einer straffen militärischen Disziplin und Kontrolle in den Grenzkompanien.

Zum Beispiel wurde der fahnenflüchtig gewordene Unteroffizier [Name 7], Kompanie Testorf, GR Wittenburg, am 21.10.1963 nach dem Besuch eines Unteroffizier-Lehrganges zur Kompanie Testorf versetzt. Am 22.10.1963 entfernte er sich unerlaubt aus dem Kompanieobjekt und wurde fahnenflüchtig. Sein Fehlen wurde jedoch erst am 23.10.1963 gegen 7.00 Uhr festgestellt.

Am 18.10.1963 wurde der Angehörige der Pionierkompanie der 1. Grenzbrigade Soldat [Name 8] während seines Einsatzes zu Pionierarbeiten im Abschnitt Klemkestraße (Berlin) mit einer Pionierraupe über die Grenzsicherungsanlagen fahnenflüchtig. Die Arbeiten wurden nicht zusätzlich abgesichert, und außer Krause [Name 8] waren keine weiteren Kräfte zu Arbeiten im Grenzabschnitt eingesetzt.

In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass bereits am 9.9.1963 der Unteroffizier [Name 9] und der Gefreite [Name 10] unter gleichen Umständen fahnenflüchtig wurden. Beide waren im Bereich der 2. Grenzbrigade zu Pionierarbeiten eingesetzt und fuhren mit der Pionierraupe gegen die Grenzsicherungsanlagen.

Diese Gruppenflucht wurde ebenfalls dadurch begünstigt, dass trotz entsprechender Weisung der Regimentsleitung keine Posten zur Absicherung der Arbeiten eingesetzt waren.

In der Berichtszeit wurden insgesamt zwei Kontaktaufnahmen durch Postenpaare zu Angehörigen des ZGS7 bzw. zu westdeutschen Zivilpersonen an der Staatsgrenze West bekannt.

Während die Posten Gefreiter [Name 11] und Soldat [Name 12] von der Kompanie Rothesütte, GR Blankenburg, mit ZGS-Angehörigen über die Lebenslage in Westdeutschland sprachen, forderte der als Posten eingesetzte Soldat [Name 13], Kompanie Schierke, GR Blankenburg, westdeutsche Zivilpersonen auf, Grüße an seinen in Westdeutschland lebenden Onkel zu übermitteln.

Aus der 4. Grenzbrigade Berlin gab es ebenfalls vereinzelt Hinweise über die Wirksamkeit der gegnerischen Beeinflussung, besonders hinsichtlich der Kontaktaufnahmen an der Grenze.

Zum Beispiel äußerten die Angehörigen der 3. Kompanie, GR 42, Soldat [Name 14] und Soldat [Name 15], ihr Unverständnis über das Verbot von Kontakten; sie hörten des Öfteren Westsender und verherrlichten die westliche Lebensweise. Gegenüber Zivilpersonen äußerten sie, durch ihren Einsatz an der Grenze das richtige »Sprungbrett« gefunden zu haben, da die Grenze noch »durchsichtig« wäre.

In der 1. Kompanie, GR 46, trat der Soldat [Name 16] ebenfalls offen für Kontaktaufnahmen an der Grenze ein. Er lehnte die Anwendung der Schusswaffe gegen Grenzverletzer ab und äußerte, dass er gegen Kontaktaufnahmen oder andere Verstöße durch Angehörige der Kompanie nicht einschreiten würde.

(Die Genannten wurden aus den Linieneinheiten versetzt bzw. aus der NVA entlassen.)

Weitere Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion zeigten sich in der Kompanie Rotheul, GR Sonneberg, wo sechs Soldaten eine negative Gruppierung bildeten. Die Soldaten kamen während des Ausgangs und in der Dienststelle zu Trinkgelagen zusammen, wobei sie sich mit faschistischen Dienstgraden bezeichneten und faschistische Lieder sangen.

(Entsprechende Maßnahmen wurden eingeleitet.)

In zwei Fällen wurde durch Angehörige der Grenztruppen unter Missachtung bestehender Befehle und Weisungen westdeutsches Gebiet verletzt. Am 27.10.1963 wurde durch ein Postenpaar der Kompanie Marienborn auf westlichem Territorium ein Grenzschild entfernt und auf unserem Gebiet im Erdboden befestigt. Auf Forderung des westdeutschen ZGS wurde das Grenzschild zurückgegeben.

Am 28.10.1963 wurde durch ein Postenpaar der Kompanie Rustenfelde, GR Heiligenstadt, westdeutsches Gebiet betreten und ein Pkw Volkswagen auf unser Territorium geschoben. Der Pkw gehörte zwei Personen, die am gleichen Tage die Grenze zur DDR überschritten hatten und festgenommen worden waren.

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    18. November 1963
    Einzelinformation Nr. 696/63 über die Fortsetzung feindlicher Balloneinschleusungen nach der Erklärung der DDR vom 24. September 1963

  2. Zum vorherigen Dokument Ansichten von Leistungssportlern (5)

    12. November 1963
    Einzelinformation Nr. 686/63 über Ansichten von Leistungssportlern zu Problemen des Sports in der DDR