Probleme der staatlichen Verwaltung der Archive
9. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 749/63 über einige Probleme der staatlichen Verwaltung der Archive in der DDR
Dem MfS liegen überprüfte Hinweise zu einigen Problemen der bisherigen Arbeitsweise des staatlichen Archivwesens in der DDR vor.
Im Wesentlichen ergibt sich daraus Folgendes:
Die gegenwärtige Situation in den Archiven der DDR beweist, dass noch nicht verstanden wird, alle Möglichkeiten zu nutzen, die sich aus einer wissenschaftlichen, systematischen und vor allem politischen Auswertung der Dokumente ergeben, die aus der Zeit vor 1945 – insbesondere jedoch aus den Jahren 1933 bis 1945 – stammen.
Die zielstrebige Weiterführung der Aktionen zur Entlarvung ehemaliger Kriegsverbrecher, militaristischer und faschistischer Kräfte, die im Bonner Staat ihre alten Machtpositionen wieder einnehmen, erfordert aber eine höhere Qualität und eine planmäßige Auswertung von NS-Dokumenten aus den Jahren von 1933 bis 1945 sowie der Unterlagen über die nach 1945 stattgefundenen Kriegsverbrecherprozesse in verschiedenen Ländern (z. B. SU, Polen, ČSSR).1
Die gegenwärtige zersplitterte Aufbewahrung derartiger Unterlagen in der DDR lässt aber eine systematische Auswertung zurzeit nicht zu. Im Gegensatz zu einer ganzen Anzahl anderer Länder – vorwiegend die sozialistischen Staaten Europas und solcher Länder, die vom Hitlerfaschismus okkupiert waren – besteht in der DDR keine zentrale staatliche Dokumentationsstelle für die Zeit von 1933 bis 1945 bzw. über den Zweiten Weltkrieg. In allen staatlichen Archiven der DDR lagern solche Dokumente, ohne dass darüber eine zentrale Übersicht vorhanden wäre.
Hinzu kommt, dass auch in den Archiven der früheren Konzernbetriebe auf dem jetzigen Territorium der DDR umfangreiche Materialien aus der Zeit des Faschismus verwahrt werden, die bisher jedoch nur in ganz begrenztem Umfange erfasst und ausgewertet worden sind.
In Westdeutschland erfolgte eine systematische Erfassung der Dokumente 1933 bis 1945 durch das Institut für Zeitgeschichte in München. Die Nürnberger Prozessunterlagen des Internationalen Militärgerichtshofes und der Nachfolgeprozesse befinden sich geschlossen im Nürnberger Staatsarchiv.
Die weitgehende Zentralisation dieser Dokumente ist in Westdeutschland mit einer regen Publikationstätigkeit der genannten Stellen verbunden.
Abgesehen von einigen kritischen Untersuchungen bestimmter Probleme des Hitlerfaschismus besteht die Grundlinie der Veröffentlichungen darin, die tatsächlichen Verbrechen des Hitlerfaschismus zu leugnen, seine enge Verflechtung mit dem deutschen Finanzkapital zu verschleiern oder durch eine tendenziöse Dokumentenauswahl über Teilprobleme die aggressive Politik des deutschen Imperialismus zu rechtfertigen.
Die Notwendigkeit einer Zentralisation der Dokumente von 1933 bis 1945 ergibt sich auch deshalb, weil nach erfolgreichen Entlarvungsaktionen der DDR an die Stelle nicht mehr länger zu haltenden faschistischen Generälen, Diplomaten, Juristen u. a. jetzt relativ unbekannte jüngere Kräfte treten, die sich aber in vielen Fällen ebenfalls Verbrechen schuldig gemacht haben.
Die bisherige Arbeit auf diesem Gebiet war in der Regel vom Zufall bestimmt. In der DDR befasst sich gegenwärtig keine Institution besonders mit dieser Aufgabe. Selbst die in Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern in beschränktem Umfange erschienenen Dokumente wurden bis jetzt nicht ausgewertet.
Die systematische Erfassung und Auswertung der Quellen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in den staatlichen Archiven beweist jedoch die großen Möglichkeiten des staatlichen Archivfonds auf dem Gebiete der Dokumentation 1933 bis 1945.
Die jetzige Arbeitsweise, der Kaderbestand und die politisch-ideologische Situation in den staatlichen Archiven der DDR bieten nicht die Gewähr, dass sich der geschilderte Zustand entscheidend ändern wird. Nach wie vor sind in den staatlichen Archiven bürgerliche Anschauungen verbreitet, die auf mangelnde ideologische Erziehungsarbeit und relativ starke Einflüsse der politisch-ideologischen Diversion2 in Westdeutschland hindeuten.
Der Kaderbestand setzt sich noch vorwiegend aus Archivaren zusammen, die unter kapitalistischen Verhältnissen ausgebildet wurden bzw. arbeiteten. Zum Teil nehmen solche Kräfte noch leitende Funktionen ein.
Zwischen Mitarbeitern der staatlichen Archive der DDR und Mitarbeitern westdeutscher Archive bestehen enge Verbindungen, die vorwiegend aus der gemeinsamen Studienzeit oder der gemeinsamen Arbeit vor und nach 1945 herrühren. In den ersten Nachkriegsjahren wurde von vielen Archivaren jede Gelegenheit benutzt, persönliche oder briefliche Kontakte nach Westdeutschland herzustellen. Die auf diese Weise erfolgte ständige negative Beeinflussung ist sicher meistens die Ursache dafür gewesen, dass eine ganze Reihe zum Teil leitender Archivare die DDR verließ und heute in westdeutschen Archiven tätig ist.
Bis in die jüngste Vergangenheit schrieben leitende Mitarbeiter staatlicher Archive der DDR für westdeutsche Fachzeitschriften.
Die von der Staatlichen Archivverwaltung im Einvernehmen mit dem MdI in den letzten Jahren eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammensetzung des Kaderbestandes waren – nach den vorliegenden Hinweisen – nicht ausreichend, um eine grundlegende Wende herbeizuführen. Unter anderem wurden zwar im »Deutschen Zentralarchiv« sowie in allen Landeshauptarchiven Beauftragte für die Erfassung der Quellen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eingesetzt, die in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Direktor auch die Personalarbeit im Archiv verantwortlich übernehmen sollten. Infolge verhältnismäßig schwacher Parteikollektive waren diese Genossen jedoch nicht in der Lage, den Einfluss der Partei auf allen Gebieten der Archivarbeit wesentlich zu verstärken.
Die Direktoren und leitenden Mitarbeiter in den staatlichen Archiven gehören nur in wenigen Fällen der SED an. Dadurch ist in einigen Archiven eine ständige Einflussnahme der Parteiorganisation auf die fachliche und wissenschaftliche Arbeit nicht garantiert. Im Landesarchiv Greifswald, das aufgrund seiner Bestände eng mit dem Staatsarchiv Szczecin, mit westdeutschen und skandinavischen Archiven zusammenarbeitet, ist nicht ein Mitarbeiter Mitglied unserer Partei.
Ein Teil der Mitarbeiter der staatlichen Archive schätzt die Lage nach dem 13.8.19613 realer ein und orientiert sich stärker auf die DDR. Jedoch gibt es selbst leitende Mitarbeiter, die der Partei angehören, die die Prinzipien der friedlichen Koexistenz auch auf das Gebiet der Ideologie anwenden.
Teilweise gute fachliche Arbeit täuscht auch nicht darüber hinweg, dass viele Mitarbeiter kein klares Staatsbewusstsein zum Ausdruck bringen.
Die Ausbildung jüngerer Archivare am Institut für Archivwissenschaft bzw. an der Fachschule für die mittlere Archivlaufbahn erfolgt in den meisten Fällen mit guten fachlichen Ergebnissen. Weit verbreitet unter den neu ausgebildeten Archivaren ist jedoch die Einstellung, eine »neutrale« Stellung einnehmen zu können, weil die Spezialisierung auf eng begrenzte fachliche Probleme oder frühere Gesellschaftsordnungen zu nichts »verpflichtet«. Diese politische Einstellung der Absolventen lässt daher in den meisten Fällen keinen Einsatz in leitenden Funktionen zu. Dadurch wird ein vielfach notwendig gewordener Wechsel in der Leitung der Archive erschwert.
Hinzu kommt, dass die Arbeitsbedingungen eines Archivars die »Konservierung« alter, überlebter Auffassungen begünstigen, wenn keine gute, systematische Erziehungsarbeit geleistet wird.
Aufgrund dieser Situation ist allgemein auch einzuschätzen, dass auf dem Gebiete des Archivwesens keine politisch-bewusste und fachlich-qualifizierte Kaderreserve herangezogen wurde. Das hat zur Folge, dass die von der Staatlichen Archivverwaltung entwickelte Aufgabenstellung vielfach auf Unverständnis und teilweise auch auf Widerstand stößt.
Kontakte mit westdeutschen Wissenschaftlern und Institutionen dürfen lt. Benutzerordnung des MdI nur über die Staatliche Archivverwaltung gehalten werden. Diese entscheidet in jedem Falle über die Auskunftserteilung und genehmigt Anträge für die persönliche Benutzung der Archive in der DDR oder die Herstellung von Mikrofilmen.
Durchgeführte Kontrollen beweisen jedoch, dass gegen diese Bestimmung in der Form verstoßen wird, indem leitende Mitarbeiter die offiziellen Kontakte durch einen »privaten« Schriftwechsel ersetzen.
Die Betreuung westdeutscher oder ausländischer Bürger ist infolge des geschilderten Kaderbestandes wohl in fachlicher, nicht aber in politischer Hinsicht gesichert.
In den Benutzerräumen der Archive treffen oftmals Wissenschaftler der DDR mit westdeutschen und ausländischen Bürgern zusammen bzw. sie wohnen mit diesen für längere Zeit in der gleichen Unterkunft. Teilweise werden Westdeutsche und Ausländer von Mitarbeitern der Archive außerhalb der Dienstzeit getroffen.
Da mit den in unseren Archiven vorhandenen Mitarbeitern die Möglichkeiten einer politischen Einflussnahme oftmals nicht genutzt werden können, wäre eventuell zu überprüfen, inwieweit die Betreuung solcher Gäste gemeinsam mit anderen staatlichen Organen oder wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Einrichtungen erfolgen könnte, die auf diesem Gebiet Erfahrungen und Möglichkeiten besitzen.
Auch die Gegenüberstellung von Veröffentlichungen auf archivalischer Quellengrundlage in der DDR und Westdeutschland zeigt ein ernstes Zurückbleiben gegenüber den politischen Erfordernissen. Quellenpublikationen, Monografien und andere Veröffentlichungen in der DDR, die von Mitarbeitern staatlicher Archive angefertigt worden sind, besitzen oftmals keine oder nur geringe aktuelle Wirksamkeit. (Die Veröffentlichungen in Westdeutschland zeigen dagegen das Bestreben der westdeutschen Archive, ihren »Beitrag« zur Durchsetzung der revanchistischen und militaristischen Bestrebungen zu leisten.)
Neben guten fachlichen Beiträgen fehlen in der Zeitschrift »Archivmitteilungen«4 offene Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen Ideologie.
Neben der Verbesserung der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit und einer gründlichen Überprüfung der Kader- und Nachwuchsermittlung im Archivwesen der DDR wäre unseres Erachtens die Zweckmäßigkeit der Einrichtung einer »Dokumentationsstelle 1933 bis 1945«5 bei der Staatlichen Archivverwaltung zu prüfen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, bessere Möglichkeiten zur Erfüllung der gegenwärtigen politischen Aufgaben des Archivwesens – vor allem bei der Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Imperialismus – zu schaffen.
Durch eine Konzentration der wesentlichsten Dokumente ließen sich nach unserer Übersicht weitaus günstigere Bedingungen für eine wirksame politische Argumentation schaffen. In einer solchen Stelle müssten konkrete Untersuchungen nach bestimmten Personen mit einem Mindestmaß an Kräften und in kürzester Frist erfolgen können.
Eine solche Konzentration wäre auch aus Sicherheitsgründen notwendig.
Dadurch würde auch der gegenwärtige, nicht länger tragbare Zustand der Zersplitterung und teilweise sorglosen Behandlung der erwähnten Dokumente und Materialien aus den Jahren 1933 bis 1945 beseitigt, und die in der Vergangenheit erfolgreichen Aktionen zur Entlarvung westdeutscher Faschisten und Militaristen könnten wirksamer und zielstrebiger weitergeführt werden.
Dabei sollte versucht werden, für diese Einrichtung politisch bewusste und zuverlässige Mitarbeiter zu gewinnen, die die Gewähr dafür bieten, dass sie sich im Verlaufe ihrer Tätigkeit zu wirklichen Spezialisten auf ihrem Aufgabengebiet entwickeln.