Reaktion der Bevölkerung zum chinesisch-sowjetischen Konflikt
7. August 1963
Einzelinformation Nr. 489/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die ideologischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den sozialistischen und kommunistischen Parteien und der Führung der KP Chinas
Die ideologischen Auseinandersetzungen1 zwischen den sozialistischen und kommunistischen Parteien und der Führung der KP Chinas bilden in der Diskussion der Bevölkerung einen Schwerpunkt, wobei die Auswertung des offenen Briefes des ZK der KPdSU und die Stellungnahme der Führung der KP Chinas im Mittelpunkt der Gespräche stehen.2 Die Diskussionen, die in allen Schichten der Bevölkerung der DDR geführt werden, lassen erkennen, dass die Auseinandersetzungen zum überwiegenden Teil richtig und vom Standpunkt der KPdSU- und SED-Führung aus eingeschätzt werden.
Wiederholt wird betont, die im offenen Brief des ZK der KPdSU dargelegten Grundsätze entsprächen den Gedanken und Wünschen von Millionen Menschen. Der SU ginge es um die Erhaltung des Friedens in der Welt; alle ihre Vorschläge und ihr konsequentes Eintreten für die Durchsetzung der friedlichen Koexistenz bewiesen, dass die SU alles unternähme, um den Frieden zu sichern und Unstimmigkeiten zu beseitigen.
Charakteristisch in allen Diskussionen ist, dass zum überwiegenden Teil das Problem der friedlichen Koexistenz und damit im Zusammenhang die Erhaltung des Friedens im Vordergrund steht, wobei die Auffassungen der KPdSU große Zustimmung finden und als der richtige Weg akzeptiert werden.
In vielen Stellungnahmen kommt das Vertrauen zur Sowjetunion und zur Person des Genossen Chruschtschow3 zum Ausdruck.
Dabei wird herausgestellt, dass Genosse Chruschtschow mit Verantwortung und unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit sachlich an die strittigen Probleme herangehe und seine Entscheidungen zum Wohle der friedliebenden Bevölkerung treffe. Seine Stärke und Überlegenheit im ideologischen Meinungsstreit habe Genosse Chruschtschow durch die Treffsicherheit seiner Argumentation und dadurch bewiesen, dass er u. a. auf die ausgefallenen Angriffe der chinesischen Genossen mit Sachlichkeit und großem Verantwortungsbewusstsein geantwortet habe.
Aus einer großen Anzahl von Diskussionen ist aber trotzdem die Besorgnis zu erkennen, die Meinungsverschiedenheiten könnten sich zuspitzen und China könnte entsprechend seiner aggressiven Haltung zur Politik der friedlichen Koexistenz zu unüberlegten, den Weltfrieden bedrohenden Handlungen übergehen.
Die Haltung Chinas werfe das gesamte sozialistische Lager in seiner politischen Entwicklung und in Prestigefragen um Jahre zurück. Immer wieder wird Bezug genommen auf die Auffassungen der KP Chinas hinsichtlich der Möglichkeit, die Atombombe eventuell anzuwenden und danach den Kommunismus aufzubauen.4
Von großen Bevölkerungsteilen wird erkannt, dass eine solche Politik den Untergang vieler Menschen bedeute. Der Bezeichnung »Papiertiger«5 für Atombomben wird überwiegend größtes Unverständnis entgegengebracht, wobei auf die Auswirkungen von Atombombenversuchen hingewiesen wird (Hiroshima6 u. a.). Die linksradikalistischen und schädlichen Auffassungen der führenden Parteikader der KPCh in Fragen Krieg oder Frieden und friedliche Koexistenz finden große Beachtung.
Sie ließen die Gefahr eines neuen Krieges erkennen, wobei auf die Möglichkeit verwiesen wird, von China ausgelöste Lokalkriege könnten sich zu einem Weltkrieg ausweiten. Bei diesen Diskussionen spielen Vermutungen eine Rolle, es könne zwischen China, der Mongolei und Taiwan infolge von Gebietsansprüchen von chinesischer Seite aus zu einem Lokalkrieg kommen, der einen Weltkrieg einleiten könne.
Diesen und ähnlichen Auffassungen schließen sich eine Reihe von Spekulationen über mögliche Ursachen einer derartigen Haltung Chinas an, die meistens in folgender Richtung verlaufen:
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Die Bestrebungen Chinas gingen dahin, die Spitzenfunktion und führende Machtposition innerhalb des sozialistischen Lagers einzunehmen.
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China ginge davon aus, dass es über das größte Menscharsenal im sozialistischen Lager verfüge und die übrigen sozialistischen Staaten sich deshalb den Weisungen Chinas unterordnen müssten.
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Die große Bevölkerungsdichte in China veranlasse die Partei- und Staatsführung dazu, an andere Länder Gebietsansprüche zu stellen und den Versuch zu unternehmen, eine Ausbreitung der chinesischen Bevölkerung auf größerem Raum zu ermöglichen.
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China strebe nach einer Neuaufteilung der Welt und wolle diesen Weg mit den Mitteln eines Krieges verwirklichen.
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Durch die große Bevölkerungsdichte sei China in der Lage, ein größeres Risiko im Kampf gegen den Kapitalismus/Imperialismus einzugehen als z. B. die Sowjetunion; der Verlust einiger Millionen Menschen falle in China nicht ins Gewicht.
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Die Chinesen seien von jeher ein revolutionäres Volk. Sie seien intelligent und fleißig und könnten sich mit dem schwierigeren, langsameren Weg der friedlichen Koexistenz nicht abfinden; sie würden mit aggressiven Mitteln, ohne eintretende Verluste abzuschätzen und zu bedenken, ihrem Ziele, dem Kommunismus, entgegenstreben.
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China strebe danach, eine führende Position in den afro-asiatischen Staaten einzunehmen, wobei die Chinesen alles unternehmen würden, eventuellen »ähnlichen Bestrebungen der Sowjetunion« zuvorzukommen. Um den Führungsanspruch in diesen Ländern zu verwirklichen, lege China das Schwergewicht auf die Unterstützung der Befreiungskämpfe und lasse sich in diesen Handlungen von rassenpolitischen Erwägungen leiten. Dabei vertrete China den Standpunkt, die Sowjetunion z. B. könne die Interessen der afro-asiatischen Staaten nicht verstehen.
Offensichtlich werden diese und ähnliche Ansichten häufig in Anlehnung an die von westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen verbreiteten Auffassungen entwickelt.
So wird in großem Umfange von der Bevölkerung die durch NATO-Sender7 verbreitete, hochgespielte nazistische Ideologie von der angeblich »Gelben Gefahr« aufgegriffen.
In solchen Argumenten wird betont, die »Gelbe Gefahr« habe schon vor Jahrzehnten von sich reden gemacht; jetzt könne man sich davon überzeugen, dass sie tatsächlich in Form des chinesischen Volkes als »Volk ohne Raum«8 existiere.
Die These von der »Gelben Gefahr« findet in allen Bevölkerungsschichten große Beachtung und in einigen Fällen ist sie mit rassendiskriminierenden Äußerungen gegen die chinesische Bevölkerung verbunden.
Um diesen Argumenten noch mehr Gewicht zu verleihen wird gleichzeitig auf frühere Zukunftsromane (Dominik9) hingewiesen, in denen die »Gelbe Gefahr«, durch die entweder die »Welt erobert oder in Schutt und Asche gelegt« würde, beschrieben sei.
Geringen Umfang haben Argumente, wonach die SU und das gesamte sozialistische Lager an den Meinungsverschiedenheiten mit China selbst schuld seien.
Zur »Begründung« wird u. a. angeführt:
Die Sowjetunion hätte die »Gelbe Gefahr« voraussehen und damit verhindern müssen, dass China die jetzt erreichte wirtschaftliche und politische Stellung jemals einnehmen konnte. Die Chinesen wären besser »Kulis« geblieben, dann hätten sie nicht die Stärke erreicht, um gegenüber dem sozialistischen Lager eine derartige Haltung einnehmen zu können.
Obwohl die Mehrzahl der Diskussionen davon ausgeht, dass die SU und das sozialistische Lager im Sinne einer freundschaftlichen Hilfe China große politische und wirtschaftliche Hilfe erwiesen hat, wird verschiedentlich argumentiert, durch die Hilfeleistung der sozialistischen Staaten wäre China erst die Stärke gegeben worden, jetzt gegen ihre Partner aufzutreten.
Andere Argumente beinhalten die gegensätzliche These, die Sowjetunion und die übrigen sozialistischen Staaten hätten der VR China während der schlechten Erntejahre in China zu wenig wirtschaftliche Unterstützung gewährt, sodass China gezwungen gewesen sei, die Hilfe anderer Länder in Anspruch zu nehmen (angeführt wird die Hilfe Kanadas). Unter Verkennung der »Gelben Gefahr« hätten die sozialistischen Staaten durch die angeblich ungenügende wirtschaftliche Unterstützung den »Hass« der Chinesen hervorgerufen.
In einer Reihe weiterer Diskussionen – auch von Mitgliedern der SED – wird die Frage gestellt, inwieweit die These von der Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers jetzt noch aufrechterhalten bliebe.
Nach Meinung dieser Personen finde eine »Zerbröckelung« statt. Nach Albanien sei China abgefallen, Jugoslawien vertrete trotz aller »Behauptungen«, es handele sich um einen sozialistischen Staat, ebenfalls völlig andere Richtungen und – offensichtlich in Auswertung westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen – die VR Rumänien weiche besonders in ihrer ökonomischen Entwicklung ebenfalls von der Linie der übrigen sozialistischen Länder ab.
Ferner gibt es Auffassungen von sogenannten drei Strömungen innerhalb des sozialistischen Lagers:
die linksradikalistische Richtung, angeblich durch Albanien und China vertreten; die »Mittellinie« unter Führung von Genossen Chruschtschow und Genossen Ulbricht10 (wobei Genosse Chruschtschow zu einer »milderen Politik« als in der Vergangenheit neige) und die revisionistische Linie mit Tito11 an der Spitze.
Verschiedentlich werden auch hier Spekulationen über die »neuen Aspekte in der Politik Rumäniens und auch Polens« angestellt, wonach Rumänien in letzter Zeit mehr der linksradikalistischen Linie (China) zusteuere und Polen sich auf verschiedenen Gebieten (besonders wird das Gebiet der Kultur, aber auch der Handel, angeführt) der jugoslawischen revisionistischen Linie nähern würde. (In mehreren Fällen wurden als Träger dieser Auffassungen u. a. Oberschüler und Studenten – z. B. von der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst – festgestellt.)
In Anlehnung an die von westlichen Publikationsorganen verbreiteten widersprüchlichen Zwecklügen wird Rumänien unterstellt, ein Kultur- und Handelsabkommen mit China in jüngster Zeit nur zum Zwecke einer »Opposition« gegen Moskau und Berlin abgeschlossen zu haben. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass die rumänische Regierung mit keiner Delegation zum 70. Geburtstag des Genossen Walter Ulbricht12 vertreten war und mit der RGW-Politik nicht einverstanden sei.
(Solche Diskussionen wurden aus allen Bezirken und Bevölkerungskreisen bekannt, stellen aber insgesamt vom Umfang her gesehen keinen Schwerpunkt dar.)
Zum konkreten Inhalt des Offenen Briefes der KPdSU treten noch eine Reihe weiterer Unklarheiten auf, die in Aussprachen in den Betrieben – auch mit Genossen – nicht immer geklärt werden können.
Am umfangreichsten war dabei die Frage, warum die Veröffentlichung der Stellungnahme des ZK der KP Chinas so spät erfolgte. Die angeführten Gründe (die Polemik sollte zunächst eingestellt werden, um auf Parteiebene eine Klärung zu erreichen) werden nur bedingt anerkannt; es sei bekannt gewesen, dass die Westsender und andere Stellen den Inhalt der Erklärung verbreiteten und die Bevölkerung sowieso in Kenntnis setzten. Die späte Veröffentlichung wird so ausgelegt, dass unsere Partei dazu durch die Haltung der KP Chinas »gezwungen« worden sei.
Aus einer Reihe Diskussionen ist zu erkennen, dass der Brief des ZK der KP Chinas in seiner Problematik nicht voll erkannt wird. Beim Lesen habe man angeblich das »Empfinden«, die darin enthaltenen Thesen seien richtig und der Marxismus-Leninismus werde darin richtig angewandt; Entstellungen in der bisherigen gemeinsamen Linie seien nicht zu erkennen; unsachlich und unmarxistisch seien lediglich die indirekten Angriffe gegen Genossen Chruschtschow und andere Parteikader. Der Inhalt der chinesischen Erklärung mit seinen schädlichen Auffassungen werde erst klar, wenn man den Offenen Brief des ZK der KPdSU lese. Da beide Seiten – die SU und China – in ihren Erklärungen mit Zitaten von Marx13 und Lenin14 operierten, wisse man häufig bei angestellten Vergleichen nicht, wer die Auslegung dieser Zitate richtig vornehme. (Dabei wird ungenügend erkannt, dass in der chinesischen Erklärung die Zitate oftmals aus dem Zusammenhang gegriffen sind und falsche Beziehungen dazu hergestellt werden.) Einige Argumente beinhalten, es gehe bei den »gegenseitigen Angriffen« lediglich um Prestigefragen, wer die Führungsposition in den sozialistischen und kommunistischen Ländern in Zukunft einnehmen würde – die Sowjetunion oder China.
Andere Personen resignieren und wollen »abwarten«, wer von beiden Parteiführungen in der Auslegung der marxistisch-leninistischen Lehre recht behalte.
Intellektuelle erheben mehrfach in ihren Argumenten die Forderung nach umfangreicher und aktueller Information aus China. Die bisherigen Veröffentlichungen über die Lage in China seien unvollständig und es sei nicht möglich, sich über die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie auch über die chinesischen Menschen überhaupt, ein persönliches Urteil zu bilden.
Die Auseinandersetzungen ließen – nach Meinung dieser Personen – die Frage offen, ob die SU und die übrigen Länder des sozialistischen Lagers überhaupt auf die nationalen Bedingungen und Besonderheiten Chinas eingegangen seien.
In einigen Fällen werden Auszüge aus den Erklärungen der KPdSU und der SED zitiert, die sich mit Handelsangelegenheiten beschäftigen. Zur Erklärung15 der SED zum China-Problem werden z. B. Vergleiche gezogen mit früheren Veröffentlichungen, zu denen angeblich ein Widerspruch bestehe. Noch im vergangenen Jahr sei von unseren Presseorganen von einem Aufschwung des Handels zwischen der SU und China und der DDR und China gesprochen worden, während die jetzigen Erklärungen beinhalten würden, dass die Handelsbeziehungen bereits seit 1958 zurückgehen würden.
Weitere Unklarheiten, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Erklärungen auftreten, beinhalten zusammengefasst:
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Stellt die Erklärung des ZK der KP Chinas eine einheitliche Meinung dar, oder sind in der chinesischen Partei zwei Strömungen vorhanden? Wie ist die Reaktion des chinesischen Volkes?
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Aus welchen Motiven erklärt sich die stark aggressive Haltung gegenüber der Sowjetunion; wer gibt den Chinesen die Rückenstärke dazu?
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Wie weit sind die Chinesen mit der Entwicklung der Atombombe vorangekommen? (Mehrfach wird vermutet, dass die Entwicklungen in der VR China weit fortgeschritten sind und die Chinesen sich deshalb diese Haltung gegenüber der SU »erlauben« könnten.)
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Können die chinesischen Genossen noch als »Genossen« in unserem Sinne bezeichnet werden? Was berechtigt die kommunistischen Parteien, China bei dieser Haltung noch als sozialistisches Land zu bezeichnen?
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Wird es zum endgültigen Bruch mit China kommen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen; oder wird die SU weiterhin eine »diplomatische Hinhaltetaktik« gegenüber China betreiben?
Gerüchte im Zusammenhang mit den ideologischen Meinungsverschiedenheiten wurden bisher nur in geringem Umfang bekannt. Meistens sind die Sendungen westlicher NATO-Stationen als Ausgangspunkt offensichtlich.
Typisch sind dabei folgende Richtungen:
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Mao Zedong16 habe vor dem chinesischen Volk die Ablösung des Genossen Chruschtschow gefordert; früher sei an eine Einigung von chinesischer Seite aus nicht zu denken.
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China sei auf dem besten Wege, eine Atommacht aufzubauen; China berichte über seine Atomwaffen bisher nicht, um die sozialistischen Staaten mit seiner Stärke zu »überraschen«.
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China habe sich unter führenden Partei- und Staatsfunktionären anderer sozialistischer Länder eine feste »Rückenstärke« geschaffen. Rumänien tendiere bereits stark nach chinesischer Seite. Im polnischen ZK würden einige leitende Funktionäre die chinesische Linie verfolgen und angeblich dafür sorgen, dass die VR Polen im Ernstfall aus dem Warschauer Vertrag austrete. In der SU bestehe eine größere Gruppe um Molotow,17 die sich dem chinesischen Standpunkt annähern würde; Vietnam und Korea haben sich bereits der chinesischen Linie angeschlossen.
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China vertrete hartnäckig Gebietsansprüche gegenüber der SU und es sei in der Vergangenheit bereits zu größeren Konflikten zwischen sowjetischen und chinesischen Grenzeinheiten gekommen.
Die Stellungnahme der SED zum Offenen Brief der KPdSU fand überwiegend Zustimmung. Mehrfach wurde erklärt, eine Stellungnahme der SED in diesem Sinne sei erwartet worden. Von Arbeitern aus Betrieben wurde wiederholt die Haltung der KP Chinas gegenüber der DDR verurteilt, besonders bezogen auf die »Undankbarkeit« hinsichtlich der wirtschaftlichen Unterstützung der DDR.
Ablehnung findet die Einschränkung der Handelsbeziehungen Chinas zur DDR einerseits und die Erweiterung des Handels China – Westdeutschland andererseits. Dies sei als völlige Missachtung der bisherigen freundschaftlichen Beziehungen DDR – China zu bewerten. Die Handlungsweise Chinas bedeute ein Entgegenkommen gegenüber den Imperialisten, sie sei unverständlich und versetze die imperialistischen Staaten in die Rolle des »lachenden Dritten«.
Solche und ähnliche Meinungen werden in letzter Zeit wiederholt auch von solchen Personen vertreten, die sich bisher politisch wenig äußerten oder als »neutral« einzuschätzen waren, aber auch von Personen, die der Sowjetunion und der Politik der DDR bisher nicht positiv gegenüberstanden.
Charakteristisch bei der Gegenüberstellung der verschiedenartigen Reaktionen der Bevölkerung der DDR ist, dass zum Verhalten der chinesischen Partei- und Staatsführung nur in sehr geringem Umfang direkt negative oder feindliche Ansichten vertreten werden. Wie bereits eingeschätzt, wird überwiegend und im Wesentlichen der Linie, wie sie im offenen Brief der KPdSU und in der Stellungnahme der Führung der SED dargelegt ist, zugestimmt.
Die wenigen feindlichen Äußerungen von DDR-Bürgern zu den ideologischen Auseinandersetzungen basieren im Wesentlichen auf Meldungen von NATO-Sendern und beinhalten folgende Hauptrichtungen:
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Es gehe lediglich um Prestigefragen, wobei die SU bestrebt sei, die »Alleinherrschaft« über das sozialistische Lager auszuüben; China lasse sich die »Befehle aus Moskau« nicht mehr aufdiktieren und will sich selbstständig machen, da es seiner Stärke entsprechend »auf eigenen Füßen stehen« könne.
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Gen. Chruschtschow erkenne die »Stärke« Chinas und versuche jetzt in allen möglichen Ländern, sich eine »Rückendeckung« zu verschaffen; deshalb die Erklärungen anderer Parteiführungen für oder gegen die SU, Genosse Chruschtschow sehe seinen »Diktatorposten« wanken.
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Man solle abwarten, bis sich die SU und China »in die Haare kriegen«, eventuell würden sie sich gegenseitig vernichten und die übrigen sozialistischen Länder würden dann vom Amerikaner »befreit« (vereinzelte Diskussionen).
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Die Politik Chinas sei richtig, China käme durch seine revolutionäre Haltung schneller zum Ziel; durch »Verbrüderung« mit den Imperialisten könne diese Gesellschaftsform nicht beseitigt werden; Genosse Chruschtschow sei als »Revisionist« zu bezeichnen.
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Zur Stellungnahme des Politbüros der SED zum Offenen Brief der KPdSU wird vereinzelt in verleumderischer Absicht geäußert, die SED sei eine der KPdSU untergeordnete Partei, das sehe man an der »fast völlig gleichlautenden« Stellungnahme der SED. Die SED sei außerstande, gegen die »Befehle« aus Moskau aufzutreten wie das China, teilweise auch Rumänien, bewiesen habe; das betreffe die ökonomische und politische Entwicklung der DDR, sie befinde sich in völliger »Abhängigkeit« von der SU.
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Die Stellungnahmen der KPdSU und der SED seien »verleumderisch«; China habe durch seine Initiative und Teilnahme während der Bandung-Konferenz18 bewiesen, dass es für die friedliche Koexistenz sei. Die SU habe jedoch den gewiesenen marxistischen Weg verfälscht und China erkläre sich damit zu Recht nicht einverstanden.
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Die Politik der SU und der SED sei Verrat an der nationalen Befreiungsbewegung. Die kommunistischen Parteien würden tatenlos registrieren, wie in diesen Ländern ein führender Parteikader nach dem anderen gemeuchelt würde. China würde in dieser Frage die richtige Position beziehen und für praktische Hilfe sorgen.
In den letzten Tagen werden in Diskussionen in geringem Umfang Beziehungen zur in Moskau stattgefundenen Dreier-Beratung19 hergestellt.
In Auslegung westlicher Veröffentlichungen wird die These der Chinesen, dass es sich dabei um einen »Betrug« der Völker handele, verschiedentlich unterstützt.
Den drei Atommächten sei eine »Hintertür« für weitere unterirdische Atomversuche offen gelassen. Der von der Sowjetunion inszenierte »Propagandarummel« verfolge u. a. das Ziel, von den Meinungsverschiedenheiten mit China abzulenken.
Die Charakterisierung des Genossen Chruschtschow durch die chinesische Parteiführung, er handele wie ein Revisionist und »verbrüdere« sich mit dem Imperialismus, sei durch die Dreier-Gespräche glaubwürdig geworden.
In Verbindung mit den Meinungsverschiedenheiten mit China werden aber auch Bedenken in der Richtung geäußert, China als Nichtunterzeichner des Vertrages könne die SU in der Entwicklung einer Atommacht überholen und in der Zukunft für uns eine größere Gefahr darstellen.
Ferner wird die Ansicht vertreten, mit dem in Moskau unterzeichneten Vertrag verfolge die SU das Ziel, einen Zweifrontenkrieg gegen Moskau abzuwehren und Voraussetzungen zu schaffen, im Ernstfall gemeinsam mit den imperialistischen Atommächten gegen China vorzugehen.