Reaktion der Bevölkerung zum Mord an John F. Kennedy
29. November 1963
Einzelinformation Nr. 730/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Mord an John F. Kennedy
Seit Bekanntwerden der ersten Meldungen über das Attentat auf den Präsidenten der USA John F. Kennedy1 steht dieser Vorfall im Mittelpunkt zahlreicher Diskussionen. Die Ermordung des Präsidenten Kennedy hat in allen Bevölkerungsschichten der DDR eine starke Reaktion hervorgerufen. Übereinstimmend wird in den Diskussionen der Mord an Kennedy als hinterhältig, gemein und verabscheuungswürdig verurteilt. Von einer großen Anzahl der Bevölkerung der DDR wird der Mord an Kennedy ehrlich bedauert und als faschistische Methode abgelehnt.
Bereits vor Veröffentlichung entsprechender ausführlicher Kommentare in unserer Presse2 und in den übrigen Publikationsmitteln über die Ursachen und Hintergründe des Attentats auf Kennedy zog eine Reihe von DDR-Bürgern selbst politisch richtige Schlussfolgerungen und schätzte die Umstände und Hintergründe der Mordtat ähnlich ein. In vielen Argumentationen wurde unmittelbar nach Bekanntwerden der ersten Meldungen über den Mord darauf verwiesen, dass entsprechend der politischen Situation in Texas, insbesondere in Dallas und im Zusammenhang mit der Rassenfrage in den USA, die Täter in Kreisen der Rassisten und Rechtsextremisten zu suchen seien. Es wurde eingeschätzt, dass der Vorfall im weiteren Ermittlungsverfahren gegen die oder den Täter lediglich innenpolitischen Charakter habe und einzig und allein in den USA selbst zu klären sei. Bereits kurz nach den ersten Meldungen wurde weiter von einer Reihe von DDR-Bürgern eingeschätzt, es bestände die Möglichkeit des Versuches bestimmter Kreise der USA, Kommunisten mit dem Attentat entweder zu belasten oder zumindest in Verbindung zu bringen, um von den skandalösen innenpolitischen Vorgängen in den USA abzulenken und eventuell eine Zuspitzung der außenpolitischen Situationen zu erreichen.
Diese Fragen wurden auch in der Folgezeit in starkem Maße diskutiert, wobei die Überzeugung vorherrscht, dass es sich um einen durch eine bestimmte Gruppe aus Kreisen der Rassisten und Rechtsextremisten geplanten und organisierten Mord handele.
Die Behauptung von NATO-Sendern,3 der oder die Mörder seien in kommunistischen und Kuba-freundlichen Kreisen zu suchen, wird von der Mehrheit der Bevölkerung zurückgewiesen. In Argumentationen wird herausgestellt, diese Anschuldigungen seien lediglich ein Versuch, dieses Attentat politisch gegen das sozialistische Lager und besonders gegen Kuba auszunutzen.
Im weiteren Verlauf der Argumentation der Bevölkerung, noch verstärkt nach Bekanntwerden des Mordes an dem vorgeblichen Attentäter Oswald,4 wurden von der Bevölkerung im breiten Umfang die Begriffe »Freier Staat Amerika«, »Freie Demokratie in den USA« und dgl. erörtert, wobei eingeschätzt wurde, dass es sich bei dieser häufigen »Charakterisierung« der USA-Staaten durch westliche Politiker und verblendete Bürger der DDR lediglich um eine Irreführung handele und in Wirklichkeit von Freiheit und Demokratie in den USA nicht die Rede sein könne. Wiederholt wurden Vergleiche zu sozialistischen Staaten angestellt und wurde anerkannt, dass es z. B. in der DDR zu derartigen innenpolitischen Auseinandersetzungen und in diesem Zusammenhang zu Mord und Totschlag nicht kommen könnte, da die politischen und menschlichen Beziehungen gegen eine derartige Handlungsweise sprechen würden. In allen Bevölkerungsschichten sind dabei Meinungen aufgetreten, wonach dem Teil der DDR-Bürger, der sich durch NATO-Sender u. ä. Einflüsse bisher noch von der »Freiheit des Westens« blenden ließ, klargeworden sei, unter welchen terroristischen Methoden sich das politische Leben in den westlichen Staaten abspiele. In einigen Meinungen von Rückkehrern und Erstzuziehenden kam zum Ausdruck, froh darüber zu sein, jetzt in einem demokratischen Staat zu leben, in dem die Grundlagen für derartige Vorfälle nicht vorhanden seien.
Nach der Ermordung Kennedys äußerte sich ein beträchtlicher Teil von DDR-Bürgern besorgt zur weiteren Entwicklung der politischen Weltlage, insbesondere zur Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und der SU. Dabei wurde die teilweise verständigungsfreundliche Politik Kennedys hervorgehoben. Ferner wird verstärkt darüber diskutiert, ob der neue Präsident Johnson5 die Außenpolitik Kennedys in dieser Richtung fortsetzen wird. Über die zu erwartende Politik des neuen Präsidenten werden zurzeit noch die verschiedensten Spekulationen angestellt, die von einer bevorstehenden Verbesserung der Beziehungen zwischen SU und USA über den völligen Abbruch der Verhandlungen bis zur »Verbrüderung« mit den Rassenfanatikern und den Faschisten der USA reichen.
Ein kleiner Teil der Bevölkerung der DDR bringt Besorgnis zum Ausdruck, dass es eventuell als Folge der Ermordung Kennedys zu einem Krieg kommen könnte, wobei auf die verschiedensten Beispiele aus der Geschichte verwiesen wird. Die Überlegungen dieses Teiles der Bevölkerung gehen dahin, dass eventuell in Kürze eine spürbare Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA eintreten werde und auf Betreiben der Ultras6 Aggressionshandlungen gegen Kuba stattfinden könnten. Ferner wird die Vermutung geäußert, die militaristische Bonner Regierung könne den Präsidentenwechsel in den USA zur Erlangung von Atomwaffen für Westdeutschland ausnutzen und aggressive Schritte zur Regelung der Westberlinfrage unternehmen. Aus beiden Versionen wird abgeleitet, dass daraus ein Weltkrieg entstehen könne. Äußerungen, die Ermordung Kennedys könne in der Konsequenz negative Auswirkungen für die fortschrittlichen Kräfte und die Mitglieder der Kommunistischen Partei der USA haben, sind verbreitet. Befürchtungen, der neue Präsident Johnson könne die durch Kennedy eingeleiteten Schritte zur Entspannung nicht anerkennen und eventuell unter dem Druck der Ultras die Ratifizierung des Moskauer Teststoppabkommens7 annullieren, sind in allen Bezirken vorhanden. Die Folgen des Attentates seien nach Meinung vieler Bürger noch nicht abzusehen.
In vielen Diskussionen wird die positive Seite der Kennedyschen Politik herausgestellt. Besonders werden dabei die »Bestrebungen Kennedys nach einer Politik der Verständigung« und eine »Klärung der rassenpolitischen Frage in den USA« angeführt. Nach dem bisherigen Verlauf dieser Argumentationen ist aber auch einzuschätzen, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung die politische Einstellung und die »Verdienste« Kennedys zur Durchsetzung einer Politik der Verständigung zum Teil stark überbewertet. So werden neben Argumenten, die teilweise starke Sympathien für Kennedy erkennen lassen, Stimmen in der Richtung laut, auf die alleinige Initiative Kennedys seien überhaupt erste Schritte zur Politik der Verständigung, zur Klärung der Krise im karibischen Raum,8 zum Zustandekommen eines Teststoppabkommens und dergleichen unternommen worden, wobei versucht wird, die Rolle der SU abzuschwächen oder zu unterschätzen. Zur Bekräftigung dieser Meinungen werden zusammenhanglos Passagen aus Veröffentlichungen der demokratischen Presse9 zitiert, in denen bestimmte positive Züge Kennedys angeführt wurden. Einige Bürger (vor allem Oberschüler und Studenten) sprechen davon, dass Kennedy der »größte und mächtigste« Staatsmann der gegenwärtigen Epoche gewesen sei, »an den keiner herankomme«.
In geringem Umfang wird von DDR-Bürgern Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass in den letzten Tagen in unseren Publikationsorganen die unter der Präsidentschaft Kennedys durchgeführten oder veranlassten positiven politischen Entscheidungen und Handlungen hervorgehoben werden. Die progressiven Aspekte der amerikanischen Außenpolitik seien vordem nie besonders erwähnt und überwiegend die reaktionäre militaristische Politik erläutert worden. Vereinzelt wird in diesem Zusammenhang unter Verkennung der politischen Lage unterstellt, der Bevölkerung seien bisher nicht die wahrheitsgemäßen Informationen über die USA-Politik übermittelt worden mit dem Ziel, die DDR-Bürger gegen die imperialistischen Staaten aufzubringen und für die Politik der SU einzunehmen.
Nach Verbreitung der ersten Meldungen über den Mord an Kennedy orientierte sich ein Teil der Bevölkerung auf westliche Rundfunk- und Fernsehsendungen und verbreitete den Inhalt dieser Sendungen auch unter anderen Bürgern. Mehrfach wurde offen von DDR-Bürgern erklärt, westliche Sender gehört zu haben, um schneller Informationen über Einzelheiten des Attentats zu erhalten.
Durch das Abhören der NATO-Sender tauchten bereits kurz nach den ersten Meldungen über den Mord unter der DDR-Bevölkerung die Versionen der westlichen Sender auf, wonach es sich bei dem vermeintlichen Mörder Lee Oswald um einen »Kommunisten« handele, der längere Zeit in der SU gelebt, eine Russin zur Frau habe und einer Kuba-freundlichen Organisation angehöre. Während der größte Teil der an diesen Diskussionen beteiligten DDR-Bürger diese Version von vornherein ablehnte und als politische Verleumdung einschätzte, beharrte jedoch ein kleiner Teil von DDR-Bürgern (in der Hauptsache solche Personen, die auch schon früher mit politisch negativen Meinungsäußerungen in Erscheinung traten) auf dieser Meinung und brachte seine Überzeugung von der Richtigkeit dieser Meldungen zum Ausdruck. Unter dem Einfluss der durch NATO-Sender verbreiteten Verleumdungen und durch persönliche Kombinationen werden weiterhin in geringem Umfang solche Ansichten verbreitet:
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Der Mord sei von Kommunisten organisiert und durchgeführt worden, kein anderer könne daran ein Interesse haben.
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Die Organisation des Attentates sei vom Boden der SU aus erfolgt; selbst die demokratischen Publikationsorgane hätten zugeben müssen, dass Oswald längere Zeit in der SU gelebt habe; Oswald habe in der SU das Schießen erlernt. (Verschiedentlich werden Spekulationen über die Dauer des Aufenthaltes Oswalds in der SU angestellt.)
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Bei dem Mörder handele es sich um einen russischen Emigranten.
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Der Mörder sei eng mit Fidel Castro10 liiert und sei ein von Kubanern gedungenes Werkzeug.
Die Aussage und der Inhalt der DDR-Publikationen zum Mord an Kennedy wurde von der Bevölkerung überwiegend als richtig befunden. Die konkrete Berichterstattung über die Vorfälle in Dallas und das Herausarbeiten der positiven Seiten der Kennedyschen Politik seien zu begrüßen. Anerkennend äußerten sich große Teile der Bevölkerung über das Beileidschreiben11 des Genossen Walter Ulbricht.12
Vereinzelt wurde jedoch erwähnt, in der SU würde die Person Kennedy stärker gewürdigt, die DDR sei in den Beileidsbezeugungen zu zurückhaltend. Von einigen DDR-Bürgern (überwiegend von Oberschülern und kirchlich gebundenen Personen) wurden im Zusammenhang mit diesen Meinungsäußerungen Ansichten verbreitet, wonach es »unmöglich« sei, nach der Meldung in den DDR-Sendern über das Attentat auf Kennedy weiterhin Tanzmusik zu senden (besonders im Bezirk Potsdam).
Vereinzelt wurden von diesen Personenkreisen auch die Durchführung von Schweigeminuten oder die Beflaggung auf Halbmast gefordert und zum Teil auch auf eigne Initiative durchgeführt.
An der 13. Oberschule Berlin-Heinersdorf weigerten sich die Schüler der 8. Klasse, das übliche Morgenlied zu singen mit der Begründung, ihnen sei nach dem Attentat auf Kennedy nicht zum Singen zumute. In der 8. Klasse der gleichen Schule verweigerten die Schüler den Russisch-Unterricht, blieben die ganze Stunde über stehen und reichten Zettel von Reihe zu Reihe mit der Aufschrift »Wir gedenken dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.« Von einem Schüler der 9. Klasse wurde ferner die Schulfahne auf Halbmast gesetzt.
In Berlin-Pankow wurde auch an der 10. Oberschule von Schülern die Schulfahne vor dem Unterricht auf Halbmast gehisst. An der 15. Oberschule führten die Schüler der Klasse 8 eine Gedenkminute zu Beginn des Unterrichts durch.
Meldungen über die Durchführung von Gedenkminuten und über das Hissen der Fahne auf Halbmast aus gleichem Anlass wurden auch vereinzelt aus anderen Bezirken bekannt. (z. B. Bezirkskrankenhaus St. Georg, Leipzig, Oberschule Neukirchen, Karl-Marx-Stadt, Lessing-Schule, Aue).
In der Bahnhofsvorhalle in Berlin-Köpenick wurden von Jugendlichen brennende Kerzen um ein schwarzumrahmtes und mit Trauerflor versehenes Bildnis Präsident Kennedys aufgestellt.
In einigen Fällen wurde weiter festgestellt, dass DDR-Bürger in der Nacht nach den ersten Meldungen vom Mord an Kennedy brennende Kerzen in ihren Wohnungsfenstern aufgestellt hatten (in Berlin in 48 Fällen).