Reaktion der DDR-Bürger und Westberliner zum Passierscheinabkommen (1)
24. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 799/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR und Westberlins zur Ausgabe von Passierscheinen an Westberliner Bürger zum Besuch der Hauptstadt der DDR
Unter großen Teilen der Bevölkerung des demokratischen Berlin1 und Westberlins fand die Unterzeichnung des Protokolls2 über die Ausgabe von Passierscheinen für Bürger Westberlins einen starken Widerhall, wobei der Inhalt der Diskussionen bis auf geringe Ausnahmen zustimmenden Charakter trägt.
Unter den Westberliner Bürgern ist nach vorliegenden Berichten eine sehr positive Stimmung zur Ausgabe der Passierscheine vorhanden. Die getroffenen Vereinbarungen zwischen der Regierung der DDR und dem Senat von Westberlin werden von den Westberlinern begrüßt; sie äußern sich erfreut, dass ihnen Besuche ihrer Verwandten im demokratischen Berlin während der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage ermöglicht wurden. Fast übereinstimmend führen sie das Zustandekommen von Verhandlungen zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat auf die Initiative der Regierung der DDR zurück. In den Gesprächen wird die Hoffnung geäußert, dass durch den positiven Ausgang der Verhandlungen eine weitere Entspannung der Lage in Deutschland herbeigeführt wird. Viele Westberliner hoffen, dass die Verhandlungen zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat weitergeführt werden mit dem Ziel, während der nächsten Feiertage (angeführt werden die Oster- und Pfingstfeiertage 1964) und dann für ständig Passierscheinstellen in Westberlin zu eröffnen. Dabei gehen diese Personen von der Meinung aus, dass von einer »Unmenschlichkeit des Systems« nicht die Rede sein könne, und die Verantwortlichen würden auch weiteren Wünschen zur Familienzusammenführung Rechnung tragen.
Immer häufiger wird von Westberliner Bürgern Kritik an der Haltung des Brandt3-Senats vor Abschluss der Verhandlungen geübt. Dabei wird Brandt mehrfach beschuldigt, die positiven Absichten der DDR-Regierung hintertrieben und ein Abkommen verzögert zu haben. Besonders von den vor den Passierscheinstellen in Westberlin wartenden Personen werden Meinungen dahingehend geäußert, die z. T. erhebliche Wartezeit vor den Passierscheinstellen wäre stark reduziert worden bzw. gar nicht aufgetreten, wenn der Brandt-Senat bereits früher auf die Vorschläge der DDR eingegangen wäre. Durch die Unterzeichnung des Protokolls erst kurze Zeit vor den Feiertagen konzentriert sich der gesamte Ansturm auf diese wenigen Tage.
Ferner wird in einer Reihe von Diskussionen die Politik der Bonner Regierung kritisiert. Den Bonner Politikern ginge es nicht in erster Linie um eine Familienzusammenführung und um die Interessen der Westberliner Bürger, sondern lediglich darum, die Bemühungen der DDR-Regierung um eine Entspannung der Lage abzuwerten.
Die Bonner Regierung würde befürchten, mit weiteren Verhandlungen eine juristische Anerkennung der DDR hinnehmen zu müssen, obwohl die DDR eine Realität sei und existieren würde.
Trotz der teilweise längeren Wartezeiten vor den Passierscheinstellen der DDR in Westberlin ist die Stimmung der Westberliner auch weiterhin als allgemein positiv einzuschätzen. Besonders begrüßt wurde neben der Verstärkung der Postangestellten4 der DDR die Möglichkeit, Anträge auch durch Vertreter Westberliner Großbetriebe abholen zu lassen, von der besonders seit dem 21.12. verstärkt Gebrauch gemacht wird.
Allgemein ist festzustellen, dass unter dem Eindruck der guten Arbeit der Postangestellten der DDR und auch der ersten Besuche von Westberliner Bürgern im demokratischen Berlin die Spannung und die Befürchtung nachlassen, nicht in den Besitz von Passierscheinen zu kommen. Zum Teil wurde die Hoffnung geäußert, nach dem ersten Ansturm in Ruhe und ohne längere Wartezeiten Passierscheine zu erhalten.
Die Postangestellten der DDR wurden bei ihrer Ankunft oftmals mit Beifall empfangen. Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass die DDR-Organe sehr beweglich und der Sache dienend reagieren und der Einsatz einer größeren Anzahl von Postangestellten auf Initiative der DDR erfolgte. Gleichzeitig wird gefordert, dass seitens des Senats und der Westberliner Polizei noch mehr getan werden müsste, um einen schnelleren und reibungsloseren Ablauf zu gewährleisten. Es zeigt sich immer wieder, dass sich Westberliner Bürger vertrauensvoll und freundlich an unsere Angestellten mit Fragen wenden, die Westberliner Polizeiangehörigen dagegen meiden und sich gegen deren oftmals schroffen und unhöflichen Umgangston aussprechen.
Es häufen sich aber unzufriedene Äußerungen unter dem Einfluss der Störmanöver von offizieller Westberliner Seite. Durch teilweise längere Wartezeiten vor den Passierscheinstellen werden weitere Forderungen an die Organe der DDR gestellt, z. B. nach Verlängerung der Öffnungszeiten der Passierscheinstellen und nach weiterer Verstärkung der Postangestellten. In Diskussionsgruppen in der Nähe der Passierscheinstellen wurde die Befürchtung geäußert, dass zu Weihnachten höchstens 50 % der an Passierscheinen Interessierten ihre Verwandten im demokratischen Berlin besuchen können. Von einigen Personen wird die Vermutung verbreitet, die Regierung der DDR sei interessiert daran, die Ausgabe der Passierscheine zu drosseln, weil die Sicherheitsorgane der DDR den verstärkten Kontrollen nicht gewachsen seien.
Nach den ersten Besuchen von Westberliner Bürgern im demokratischen Berlin wurden erste Meinungsäußerungen über deren Eindrücke bekannt. Die bisher vorliegenden Argumente sind überwiegend positiv. Oftmals wird Erstaunen über den wirtschaftlichen Aufschwung der DDR zum Ausdruck gebracht, wobei erklärt wird, dass entgegen dem Jahr 1960/61 ein deutlicher Unterschied zum Positiven zu verzeichnen sei. Kritik wird an den Presseveröffentlichungen Westberliner und westdeutscher Verlage geübt, in denen mehrfach von einem »wirtschaftlichen Tiefstand« in der DDR die Rede gewesen sei.
Ein Teil der Verwandten in der Hauptstadt der DDR führte seinen Besuch in die repräsentativen Stadtteile (Karl-Marx-Allee, Weihnachtsmarkt, Alex usw.) und zeigte die Veränderungen, die sich seit 1961 vollzogen haben. Der größere Teil der Verwandten verblieb nach der bisherigen Übersicht jedoch in den Wohnungen. Während der dort mit den Westberliner Verwandten geführten Unterhaltungen kam es verschiedentlich zu unzufriedenen Meinungsäußerungen über den bisherigen Reiseverkehr Westberlin/demokratisches Berlin und zu Ausfällen gegen den antifaschistischen Schutzwall,5 der fälschlicherweise als Ursache für die zeitweilige Unterbrechung der gegenseitigen Verwandtenbesuche angesehen wird.
Neben den überwiegend positiven Argumentationen der Westberliner Bürger aller Schichten zum Passierscheinabkommen sind jedoch auch eine Reihe skeptischer und negativer Äußerungen zu verzeichnen. Außer solchen skeptischen Ansichten, wonach das jetzige »Weihnachtsabkommen« eine einmalige Angelegenheit sei, da sich die DDR finanziell keine weiteren ähnlichen Abmachungen erlauben könne und auch politisch keinerlei Interesse mehr daran zeigen würde, werden folgende Tendenzen erkennbar:
Die Passierscheinausgabe für Westberliner Bürger zum Besuch der Verwandten in der Hauptstadt der DDR sei eine einseitige Angelegenheit. Seitens des Westberliner Senats müsse erreicht werden, dass auch DDR-Bürger Westberlin ohne besondere Umstände aufsuchen könnten. Diese Forderung wird noch verstärkt von solchen Personen gestellt, welche die Vermutung äußern, dass ein weiterer Verwandtenbesuch nach dem 5. Januar 1964 nicht mehr möglich sei. Brandt wird beschuldigt, während der mit der DDR-Regierung geführten Verhandlungen nicht ausreichend auf eine Verwirklichung dieser Forderung gedrungen zu haben; er hätte nach Meinung Westberliner Bürger den Besuch von DDR-Bürgern in Westberlin zur Bedingung erheben sollen. Dabei wird auf kranke und alte Westberliner verwiesen, die nicht mehr in der Lage sind, in das demokratische Berlin zu reisen, die aber auch mit ihren Verwandten zusammentreffen möchten.
Ein Teil der Westberliner Bürger bringt in Diskussionen zum Ausdruck, das Passierscheinabkommen sei nicht auf Initiative der DDR-Behörden, sondern auf die von Bürgermeister Brandt zurückzuführen.
Die Einreiseerlaubnis Westberliner Bürger auch in die Randgebiete von Berlin wird für dringend notwendig erachtet; denn in den Randgebieten wohnten noch mehr oder genau so viele Verwandte als in der Hauptstadt der DDR. Es wird unterstellt, die Hauptstadt der DDR wäre für den Besucherstrom aus Westberlin besonders hergerichtet worden (größeres Warenangebot als zu anderen Jahreszeiten, repräsentative Bauten), um den Westberlinern ein angenehmes Leben und einen hohen Lebensstandard vorzutäuschen. Für die Randgebiete habe der verstärkte Aufwand jedoch nicht mehr ausgereicht, deshalb würden Aufenthaltsgenehmigungen für diese Gebiete abgelehnt.
Wiederholt wird auf den antifaschistischen Schutzwall als angeblich »stärkstes Hindernis« einer ständigen Familienzusammenführung und für Entspannung in Deutschland hingewiesen. Die führenden DDR-Funktionäre hätten die Verwandten durch die »Mauer« am 13.8.19616 getrennt, jetzt würden sie aber Menschlichkeit heucheln.
Es wird vorgeschlagen, Westberliner Bürger ohne Passierscheine, lediglich durch Vorzeigen ihres Personalausweises, an der Staatsgrenze Berlin passieren zu lassen. Nur eine solche Entscheidung der DDR-Behörden ließe ein »aufrichtiges« und »ehrliches« Ansinnen der DDR-Regierung erkennen. Andere Westberliner Bürger fordern im gleichen Sinne einen »freien Zugangsverkehr« zwischen Westberlin und der Hauptstadt der DDR. Da ihrer Meinung nach bei einer solchen Handhabung viele DDR-Bürger in Westberlin verbleiben würden, schlagen sie vor, der Senat Westberlin solle die Garantien und eine entsprechende Erklärung geben, wonach alle DDR-Bürger, die in Westberlin oder Westdeutschland verbleiben wollen, in die DDR zurückgeschickt werden.
Weiter wird argumentiert, die Passierscheinausgabe diene nur dazu, der DDR Westgeld zu vermitteln. Die Einnahme von Westgeld durch DDR-Behörden allein durch die S- und U-Bahn-Gebühren sei erheblich.
In den letzten Tagen taucht unter Westberliner Bürgern, offensichtlich in Auswirkung der in der Westpresse veröffentlichten verleumderischen Darstellungen, wiederholt das Argument auf, die in den Passierscheinstellen eingesetzten Postangestellten seien in Wirklichkeit keine Angehörigen der Deutschen Post, sondern »verkappte Staatssicherheitsbeamte« bzw. »SED-Spitzel«.
Besonders nach den ersten durchgeführten Besuchen in der Hauptstadt der DDR wird verstärkt von Westberliner Bürgern über die Methoden der Kontrolle an den Grenzübergangsstellen diskutiert. Hervorgehoben wird, dass die Kontrollen äußerst korrekt erfolgten, die Zollangestellten freundlich, zuvorkommend und sachlich seien. Zwischenfälle, »Verhöre« an den Übergangsstellen oder andere »Repressalien« seien nicht zu befürchten.
In diesem Zusammenhang wird immer stärker argumentiert, bei Angabe von in der Hauptstadt der DDR existierenden Adressen mit der Versicherung, dass es sich dabei um die Cousine oder andere Verwandte 2. oder 3. Grades handele, bestehe die Möglichkeit, in den Besitz von gültigen Passierscheinen zu gelangen. Nach den Erfahrungen während der Kontrolle seien die Zollangehörigen nicht in der Lage, genaue Überprüfungen durchzuführen. Der verstärkte Besucherandrang ließe auch die Schlussfolgerung zu, dass zwar die angegebenen Adressen in der Hauptstadt der DDR von den Kontrollorganen nachgeprüft wurden, nicht aber, ob die angegebenen Verwandtschaftsgrade stimmen.
Ein Teil der Westberliner Bürger, die Verwandte in Berliner Randgebieten oder im übrigen Gebiet der DDR haben, versuchen, sich Adressen von Bürgern der Hauptstadt der DDR zu beschaffen, um sich dort mit ihren Verwandten treffen zu können. Von den meisten in dieser Art angeschriebenen Personen der Hauptstadt der DDR (meist Bekannte der betreffenden Westberliner Bürger) wird auch mit Zustimmung geantwortet, während andere Bürger der Hauptstadt dieses Ansinnen der Westberliner ablehnen.
Die Überlastung der Telegrafenämter in der Hauptstadt der DDR hält in diesem Zusammenhang weiter an, wobei sich die Telegrammanzahl auf ca. 100 % des normalen Verkehrs gesteigert hat. Der Inhalt der Telegramme bezieht sich auch auf konkrete Abmachungen für das Zusammentreffen.
Die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf das Passierscheinabkommen ist wie bei den Westberliner Bürgern zum größten Teil positiv. Wiederholt wurde von der Bevölkerung der Hauptstadt in Diskussionen darauf hingewiesen, dass das Zustandekommen der Unterzeichnung nur auf die Initiative und die Verhandlungsbereitschaft der Regierung der DDR zurückzuführen sei. Es wird die Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass trotz aller »Winkelzüge« des Westberliner Senats und der Bonner Regierung die Verhandlungen erfolgreich zum Abschluss kamen. Damit sei bewiesen, dass die Regierung der DDR wirklich ehrliche und aufrichtige Absichten mit dem Passierscheinangebot und mit der Politik der Vernunft und des guten Willens verfolge.
Viele Bürger des demokratischen Berlin gaben in persönlichen Gesprächen der Hoffnung Ausdruck, dass auch zu einem späteren Zeitpunkt die Ausgabe von Passierscheinen ermöglicht wird und die Westberliner Bürger die Erlaubnis erhalten, ihre Verwandten im demokratischen Berlin zu besuchen. Die bisherigen Verhandlungen hätten bewiesen, so heißt es in den Argumenten, dass positive Übereinkommen möglich seien und die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen würden, in kurzer Zeit für ständig Passierscheinstellen in Westberlin einzurichten. Das jetzige Übereinkommen sei für viele Bürger Berlins die größte Weihnachtsfreude. Die Sympathien der Bürger Berlins ständen auf der Seite der Regierung der DDR, die ihnen die Besuche im demokratischen Berlin ermöglicht habe.
Sehr positiv wird über den Verlauf der Verhandlungen diskutiert. In den Argumenten wurden die Erklärungen7 der Genossen Abusch8 und Wendt9 auf den durchgeführten Pressekonferenzen10 als sehr aufschlussreich und sachlich eingeschätzt. Beide hätten trotz aller direkten und indirekten Provokationen von Westberlin aus große Ruhe und Ausdauer bewahrt. Die Unkorrektheiten des Westberliner Senats während der schriftlichen und mündlichen Verhandlungen hätten sie nicht zur Kenntnis genommen, um die Verhandlungen zum positiven Abschluss zu bringen.
Nach den vorliegenden Berichten sind die negierenden und ablehnenden Stimmungen im demokratischen Berlin zum Abkommen gering. Im Wesentlichen wird darauf verwiesen, dass bisher nicht die Möglichkeit geschaffen wurde, Passierscheine zum Aufenthalt in Westberlin zu erlangen. Die Verweigerung der Ausgabe von Passierscheinen für die Einreise nach Westberlin sei trotz wiederholter Forderungen des Westberliner Senats auf die Verweigerung durch DDR-Behörden zurückzuführen. Dazu wird kommentiert, die Ablehnung durch DDR-Behörden basiere auf deren Befürchtungen, dass ein großer Teil der DDR-Bürger nicht in das demokratische Berlin zurückkehren würde. Weitere unzufriedene und negative Stimmen beziehen sich darauf, dass bisher für Westberliner nicht die Möglichkeit besteht, Verwandte in den Bezirken der DDR, im Randgebiet des demokratischen Berlin und im Grenzgebiet der Hauptstadt der DDR zu besuchen. Andere Personen äußern sich ungehalten darüber, dass bisher keine Genehmigung vorliege, Passierscheine für Verlobte auszugeben.
Ein kleiner Teil der negativen Diskussionen beinhaltet solche Argumentationen, die Verhandlungen seien durch die DDR-Behörden angestrebt worden, um aus »menschlichen Gefühlen« »politisches Kapital« zu schlagen; die DDR zeichne verantwortlich für die Errichtung der »Mauer« und hindere die Berliner an gegenseitigen Besuchen.
In weiteren vereinzelten Stimmen wird unterstellt, die Regierung der DDR sei »unter Druck« gesetzt worden, einmal durch »steigende Unzufriedenheit« unter der Bevölkerung Berlins und der DDR und zum anderen durch die Tatsache, dass Westberliner Bürger zwar ungehindert in das sozialistische Ausland reisen könnten (dabei wird Volkspolen und die ČSSR angeführt), aber bisher keine Einreise in das demokratische Berlin erhielten.
In einigen feindlichen Äußerungen wurden die Genossen Abusch und Wendt als Verhandlungspartner im Auftrage der Regierung der DDR abgelehnt. Nach Ansicht dieser Bürger wäre es gerechtfertigt gewesen, wenn ein Beauftragter des Magistrats von Groß-Berlin11 mit dem Vertreter des Senats verhandelt hätte.
Die Regierung der DDR habe mit den Bevollmächtigten der Regierung der DDR eine juristische Anerkennung der DDR durch die Westberliner und Bonner Behörden erreichen wollen. Eine Anerkennung der DDR durch diese Unterstellung und »Tricks« sei jedoch nicht zu befürworten.
Die Westberliner Bürger werden in anderen Diskussionen »bedauert« wegen der Strapazen, die sie beim Anstehen nach Passierscheinen auf sich nehmen müssten. Was sich an den Passierscheinstellen in Westberlin abspielen würde, sei »alles andere als human«. Unter diesen Umständen bekämen die Westberliner einen Begriff davon, wie den Menschen beim Schlangestehen, »ein typisches Zeichen des Ostens«, zumute sei.
Spekulationen wurden unter den Bürgern der Hauptstadt darüber angestellt, wie eine Überprüfung der von Westberliner Bürgern angegebenen Verwandtschaft im demokratischen Berlin erfolgt. Neben der Feststellung, dass dazu im Staatsapparat des demokratischen Berlin ein großer Kräfteaufwand notwendig sei, wird angeführt, eine »Ahnenforschung« könne in dieser kurzen Zeit nicht betrieben werden, und deshalb sei eine genaue Kontrolle und Überprüfung nicht möglich. Praktisch seien die Maßnahmen bis zum 5. Januar als »Liquidierung der Mauer« zu bewerten, die entstanden sei unter dem Druck der Bevölkerung. Die Sicherungsposten an den Kontrollpunkten übten nur eine »Scheinposition« aus, um das Fortbestehen der »Mauer« zu rechtfertigen. Einige Bürger des demokratischen Berlin befürchten, dass damit der Agententätigkeit wieder Tür und Tor geöffnet würde.
Ein größerer Teil von Bürgern des demokratischen Berlin machte in Diskussionen auf die Versorgungslage aufmerksam, die ihrer Meinung nach dem starken Ansturm Westberliner Besucher nicht standhalten würde.
Obwohl sie in Diskussionen anerkennen, dass z. B. im Gegensatz zum Vorjahre eine weitaus verbesserte Versorgungslage vorhanden ist, befürchten sie eine Verknappung verschiedener Sortimente.
In Verbindung mit diesen Diskussionen war weiter ein verstärkter Einkauf von Fleischwaren, insbesondere von Geflügel und Wild, zu verzeichnen. In größeren Mengen werden ebenfalls Spirituosen und Weine von der Bevölkerung des demokratischen Berlin eingekauft.
Aus mehreren Diskussionen von Bürgern der Hauptstadt ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Besuch der Westberliner Verwandtschaft unerwünscht sei, weil dadurch das Fest unerwartet teuer würde. Mehrere Personen betonen, sie hätten ihre Westberliner Verwandtschaft nicht eingeladen, sie würde aber trotzdem erscheinen, mehr aus Neugierde, wie sich der Lebensstandard in der Hauptstadt entwickelt habe. Andere wünschen keinen Besuch aus Westberlin, weil es wohl nach dem Zusammentreffen »mit dem Schicken der Pakete aus dem Westen bedauerlicherweise vorbei« sei.
Eine ganze Reihe von Informationen beinhalten, dass Bürger der Hauptstadt, die in der Vergangenheit häufig wegen der zwangsläufig eingestellten Verwandtenbesuche negativ über den antifaschistischen Schutzwall diskutierten, plötzlich behaupten, mit ihren Westberliner Verwandten nur lose Verbindungen zu unterhalten und an einem Besuch dieses Personenkreises während der Festtage nicht interessiert zu sein.
In einzelnen Diskussionen der Bevölkerung des demokratischen Berlin wird darauf hingewiesen, es bestehe verschiedentlich die Annahme, dass die Aktion von Westberliner Bürgern zur persönlichen Bereicherung ausgenutzt würde. Den Aufenthalt im demokratischen Berlin würden diese Personen für Schiebergeschäfte ausnutzen. Andere Bürger ziehen in Betracht, Westberliner könnten während ihres Besuches versuchen, vor dem 13.8. in Westberlin verbliebene DM der Deutschen Notenbank12 in den Geschäften des demokratischen Berlin umzusetzen und dafür Waren über die KPP zu schmuggeln. Wiederholt wird von Bürgern der Hauptstadt die Wiedereinführung der Personalausweiskontrollen bei Einkäufen und Gaststättenbesuchen angeregt.
Verstärkt wird in den letzten Tagen sowohl von Bürgern des demokratischen Berlin als auch Westberlins die Annahme geäußert, dass der »Pferdefuß des Abkommens« erst später kommen würde. Es sei gewiss, dass der Westberliner Senat nicht lange den »Unterlegenen spielen« würde. Der einfachste »Gegenschlag« bestehe darin, dass Brandt Ostern einen gleichen Vorschlag rechtzeitig vortrage und der Öffentlichkeit bekanntgeben würde. Dieser Vorschlag Brandts könne so aussehen, dass die DDR-Bürger und Bürger der Hauptstadt zu einem Gegenbesuch in Westberlin eingeladen werden, wobei man sich in Westberlin nicht auf »Extra-Aktionen«, wie z. B. Ausgabe von Passierscheinen, einlassen werde. Es wird vermutet, dass DDR-Bürger aufgefordert werden, lediglich nach Vorlage ihres Personalausweises am Kontrollpunkt das Westberliner Territorium zu besuchen. Weil die DDR gegenüber diesem voraussichtlichen Angebot Brandts ablehnend reagieren müsse, da anderenfalls viele Bürger in Westberlin verbleiben würden, ginge der DDR dann alles Prestige, das sie sich mit den jetzigen Passierscheinen erworben habe, wieder verloren.