Reaktionen der Bevölkerung zum bevorstehenden VI. Parteitag der SED
12. Januar 1963
Bericht Nr. 22/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum bevorstehenden VI. Parteitag der SED
Die Diskussion der Bevölkerung der DDR zum bevorstehenden VI. Parteitag1 der SED bein-haltet vor allem ökonomische Probleme, wobei die ökonomischen Grundfragen – wie sie in den bisher vorliegenden Dokumenten zum Parteitag behandelt werden – noch nicht immer im Mittelpunkt der Beratungen stehen. Ebenfalls ist festzustellen, dass die ökonomischen Probleme häufig losgelöst von den politischen Grundfragen behandelt werden, was mit dazu führt, dass die Diskussion zu diesen Fragen noch nicht den notwendigen Umfang erreicht hat. Nach dem Bekanntwerden der zu erwartenden Anreise einer Delegation der KPdSU unter Leitung des Genossen Chruschtschow2 ist das politische Interesse der Bevölkerung, insbesondere an der Deutschland- und Westberlinfrage, erheblich angewachsen.
Zum überwiegenden Teil wird in den Diskussionen der Bevölkerung die Erkenntnis sichtbar, dass mit dem VI. Parteitag ein neuer Abschnitt in der Geschichte der DDR und der SED eingeleitet wird. Zustimmende Äußerungen verlaufen weiterhin in der Richtung, dass durch Beschlüsse des VI. Parteitages eine politische und ökonomische Festigung der DDR erreicht, eine klare Perspektive für die Zukunft aller Schichten der Bevölkerung festgelegt und die weitere Entwicklung der deutschen Nation aufgezeigt wird.
Hinsichtlich der Anreise einer Delegation der KPdSU wird vielfach die Meinung vertreten, dass die Zusammensetzung der sowjetischen Delegation besonders geeignet sei, das Prestige der DDR in den kapitalistischen Staaten zu erhöhen.
Neben vom Umfang her unbedeutenden Argumenten, die Teilnahme des Genossen Chruschtschow am VI. Parteitag der SED erfolge aus Routinegründen, wird mehrfach erkannt, dass die Anwesenheit des Genossen Chruschtschow die Wichtigkeit des VI. Parteitages unterstreiche.
Die Aktivität der Werktätigen drückt sich neben zustimmenden und positiven Argumenten in beachtlichen Leistungen zu Ehren des Wettbewerbs zum VI. Parteitag in Industrie und Landwirtschaft aus. Seit Anfang Januar ist in den meisten Bezirken ein Ansteigen der Verpflichtungen zu höheren Leistungen usw. festzustellen. Ungenügend ist jedoch in einigen Bezirken (z. B. Neubrandenburg, Schwerin, Erfurt) die Aktivität der ländlichen Bevölkerung zur Durchführung des Wettbewerbs zu Ehren des VI. Parteitages, wobei Versäumnisse in der staatlichen Leitungstätigkeit diese Mängel noch begünstigen. Auffassungen eines Teils der parteilosen Bevölkerung, die Vorbereitung und Durchführung des VI. Parteitages sei ausschließlich Angelegenheit der Mitglieder der SED, hemmen teilweise die Weiterführung des Wettbewerbs und die Entfaltung einer Massendiskussion in Auswertung der Materialien des 17. Plenums.3
Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Parteitag und den bisher veröffentlichten Materialen werden ein Reihe von Erwartungen auf politischem, ökonomischem und sozialem Gebiet geäußert, die im Wesentlichen folgende Probleme betreffen:
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Einen großen Umfang nehmen Erwartungen ein, Genosse Chruschtschow würde sich – neben der Darlegung wichtiger internationaler Fragen im Interesse der Friedenserhaltung – grundlegend zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und zur Lösung der Westberlinfrage äußern. Mehrfach wird die Nennung eines Termins zum Abschluss eines Friedensvertrages erwartet.
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Häufig wird mit Ausführungen des Genossen Chruschtschow zur ökonomischen Unterstützung der DDR gerechnet, wobei die Ansicht geäußert wird, Genosse Chruschtschow wäre bisher nie mit »leeren Koffern« gekommen. Einige Diskussionsredner beziehen sich auf eine angeblich bestehende dringende Notwendigkeit der Verbesserung der Versorgungslage der DDR.
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In allen Bezirken nehmen Diskussionen – besonders unter Wirtschaftsfunktionären z. B. in VVB und verschiedenen Betrieben, Verwaltungen und teilweise im Staatsapparat – über zu erwartende Festlegungen hinsichtlich einer Veränderung und Verbesserung der staatlichen Leitungstätigkeit auf ökonomischem Gebiet einen beträchtlichen Umfang ein. Mehrfach wird mit einer Veränderung der Struktur auf industriellem Gebiet gerechnet, wobei sich einige Diskussionsredner auf Strukturveränderungen in der SU und in anderen sozialistischen Ländern beziehen und die Meinung vertreten, dass im Interesse größeren volkswirtschaftlichen Nutzens derartige Beschlüsse zu begrüßen seien.
Neben derartigen Erwartungen nehmen die verschiedensten Spekulationen auf allen Gebieten einen beträchtlichen Teil der Diskussionen ein. Dabei sind folgende Richtungen als typisch einzuschätzen:
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Es wird sehr häufig die Auffassung vertreten, im Verlauf des Parteitages bzw. im Anschluss daran würde der Friedensvertrag mit der DDR abgeschlossen und die Westberlinfrage geregelt werden. Einige Personen wollen wissen, dass der Einsatz von UNO-Truppen in Westberlin bereits vorbereitet sei und Mitte Januar im demokratischen Berlin4 Maßnahmen auf der Basis des 13. August5 bevorstünden. In diesem Zusammenhang wird der Brief des Genossen Chruschtschow an Adenauer6 und der am 7.1.1963 in unserer Presse veröffentlichte Artikel der »Prawda«,7 in dem die Notwendigkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland unterstrichen wird, zitiert, und die Meinung vertreten, es handle sich dabei um eine »diplomatische Vorbereitung« des Abschlusses eines Friedensvertrages.
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Ein geringer Teil der Bevölkerung äußert die Annahme, während oder nach dem Parteitag würde eine erneute Zusammenkunft der kommunistischen Arbeiterparteien – in Fortsetzung der Moskauer Beratung 19608 – erfolgen. In diesem Zusammenhang werden Spekulationen darüber angestellt, inwieweit auf dem VI. Parteitag eine »Bereinigung der zwischen den kommunistischen Parteien bestehenden Meinungsverschiedenheiten« vorgenommen wird. Einige Personen äußern die Meinung, auf dem Parteitag erfolge eine offizielle Absage aller kommunistischen Parteien an die führenden Parteifunktionäre Albaniens.
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Spekulationen werden mehrfach darüber angestellt, ob die VR China eine Delegation zum VI. Parteitag entsenden wird,9 welche Stellung diese Delegation auf dem Parteitag zur Politik Albaniens beziehen wird und inwieweit die Ansichten der chinesischen Funktionäre in dieser Einsicht öffentlich gerügt würden. In Einzelfällen wird auf den indisch-chinesischen Grenzkonflikt10 verwiesen und behauptet, durch »ungerechtfertigte Handlungen der VR China« und durch »Untergrabung des Ansehens der sozialistischen Länder durch China« seien die Beziehungen zwischen der SU und China sowie zwischen den sozialistischen Staaten, einschließlich der DDR, und China wesentlich »abgekühlt«. Einige Personen äußern die Meinung, dass deshalb die Anreise einer chinesischen Delegation »unerwünscht« sei.
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Verschiedene Ansichten bestehen darüber, ob eine Delegation aus Jugoslawien anreisen wird. Mehrfach wird mit der Teilnahme einer starken Delegation aus Jugoslawien gerechnet aufgrund der Besserung der Beziehungen insbesondere zwischen der SU und Jugoslawien. (Vereinzelt wird unterstellt, die DDR würde sich nur danach richten, welche Linie die SU in solchen Fragen einschlage und welche »Freiheiten« sie der DDR einräumen würde.)
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Vereinzelt wird mit einer Kritik auf dem VI. Parteitag an der VR Polen gerechnet, da sich Polen besonders in ökonomischen Fragen westlich orientiere und verschiedentlich gegen allgemeingültige Parteinormen verstoßen habe. Dabei wird angeführt, Polen würde einen »unerwünscht« starken Handel mit kapitalistischen Ländern betreiben und auf eine Auflösung der LPG bestehen.11
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Im Zusammenhang mit Erwartungen hinsichtlich der Veränderung der staatlichen Leitungstätigkeit und der volkswirtschaftlichen Struktur der DDR werden vor allem in staatlichen Verwaltungen Spekulationen angestellt, welche volkswirtschaftlichen Zweige oder Abteilungen im Staatsapparat eine eventuelle Reduzierung betreffen könnten. In Einzelfällen bestehen Vorstellungen, welchen Mitarbeitern gekündigt werden könnte (z. B. im Staatsapparat der Bezirke Cottbus und Neubrandenburg). Vielfach werden Spekulationen, die bis zur Gerüchtemacherei reichen, angestellt, wonach
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40 % der Mitarbeiter des Staatsapparates in der Produktion eingesetzt werden;
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bei allen Verwaltungsangestellten und Mitarbeitern staatlicher Dienststellen nach dem VI. Parteitag Gehaltskürzungen vorgenommen würden, die bis zu 10 % erreichen sollen;
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Verwaltungsangestellte, Mitarbeiter des Staatsapparates, ingenieur-technisches Personal usw. veranlasst werden sollen, einen Teil ihrer Arbeitszeit in der Produktion zu verbringen (dabei werden bis zu 50 % der Arbeitszeit dieses Personenkreises angegeben).
Im Zusammenhang mit den Spekulationen kursieren in geringem Umfang in allen Bezirken der DDR Gerüchte folgenden Inhalts:
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Eine Rentenerhöhung stünde bevor.
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Auf dem VI. Parteitag würde eine Lockerung des Grenzverkehrs, besonders zwischen Westberlin und dem demokratischen Berlin, beschlossen.
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Der französische Stadtkommandant in Westberlin habe ein Angebot an Genossen Ulbricht12 gerichtet, wonach er bereit sei, im französischen Sektor Passierscheinstellen durch Organe der DDR zu eröffnen.
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Es stehe eine Lockerung in der Ausgabe der Passierscheine für die Grenz-Sperrgebiete bevor (besonders Bezirk Suhl).
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Preis- und Mieterhöhungen stünden in größerem Ausmaß bevor.
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Das Kinder- und Geburtengeld käme in Fortfall.
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Mitverdienende Ehefrauen würden entlassen, falls ihre Ehemänner mehr als 500 DM13 verdienten. (Dieses Gerücht taucht im Zusammenhang mit dem VI. Parteitag erneut in geringem Umfang auf.)
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Es würde auf dem VI. Parteitag die Ausarbeitung eines »Rundfunk- und Fernsehgesetzes« empfohlen, nach dem der Empfang westlicher Sender unter Strafe gestellt werde (besonders in Berlin).
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Der Parteitag würde sich mit einem »Dienstverpflichtungsgesetz« beschäftigen.
In offensichtlicher Auslegung von Sendungen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen tritt in den letzten Tagen in fast allen Bezirken der DDR – besonders aber im demokratischen Berlin – häufiger die Diskussion auf, Genosse Chruschtschow sei zu einem Besuch Westberlins von Willy Brandt14 eingeladen worden. Daran wird die Spekulation geknüpft, es würde die Möglichkeit bestehen, dass Genosse Chruschtschow diese Einladung annimmt.
Pessimistische und gegnerische Argumente treten nur im geringen Umfang in Erscheinung und gewinnen im Verhältnis zu den zustimmenden Äußerungen keine Basis. Im Wesentlichen richten sich derartige »Argumente« gegen die Politik der DDR auf politischem und ökonomischem Gebiet, leugnen die errungenen Erfolge und versuchen, die Wege zur Weiterentwicklung der DDR in Misskredit zu bringen.
Typisch für derartige Auffassungen sind folgende Richtungen:
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Auf dem Parteitag würden der Bevölkerung nur »Versprechungen« ähnlich wie auf dem V. Parteitag gemacht werden. Auf dem V. Parteitag würde eine große Perspektive zur Steigerung des Lebensniveaus unterbreitet worden sein, die nicht eingehalten wäre.15 Der Bevölkerung werde »Sand in die Augen gestreut«. In diesem Zusammenhang werden Vergleiche zur angeblich besseren Lebenslage in Westdeutschland angestellt und Ansichten geäußert, wonach ein ähnliches Warenangebot wie in Westdeutschland in den nächsten Jahren nicht zu erreichen sei.
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Der Parteitag wäre einem »Reklamerummel« gleichzusetzen, der durchgeführt werde, um »die Menschen zu verdummen«. Die Delegationen aus den Betrieben würden »Statistenrollen« übernehmen; die SED-Führung würde die weitere Linie bestimmen, ohne die Werktätigen oder andere Parteien nach ihrer Meinung zu befragen.
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Die Durchführung des Parteitages und der Empfang zahlreicher ausländischer Delegationen belaste stark unseren Staatshaushalt auf Kosten der Werktätigen.
In mehreren Bezirken ist – im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Parteitag – eine verstärkte Hetze festzustellen. Dabei stehen sinngemäß die feindlichen Argumente und Spekulationen im Vordergrund, wie [die] angebliche »Umbildung des ZK und des Politbüros« und »Parteibereinigung« (Vergleiche, wonach während Parteitagen anderer kommunistischer Parteien ebenfalls »Parteibereinigungen« notwendig gewesen wären).
Ferner wird, aber in geringem Maße, in hetzerischer Form auf angebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Genossen Chruschtschow und führenden Funktionären unseres Politbüros hinsichtlich des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland, der Lösung des Westberlin-Problems und der ökonomischen Entwicklung der DDR (speziell in Fragen der Zugehörigkeit zum RGW) hingewiesen und auf eine »Bereinigung der Meinungsverschiedenheiten vor der Öffentlichkeit« spekuliert.