Reaktionen der Bevölkerung zum VI. Parteitag der SED (2)
31. Januar 1963
Bericht Nr. 68/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum VI. Parteitag der SED
Nach den uns vorliegenden Berichten fand der Verlauf des VI. Parteitages1 bei allen Schichten der Bevölkerung große Beachtung. Für die auf dem VI. Parteitag behandelten Probleme zeigen auch nach Beendigung der Tagung alle Schichten der Bevölkerung außerordentlich großes Interesse.
Zum überwiegenden Teil wird von allen Bevölkerungsschichten volle Übereinstimmung mit den vom VI. Parteitag behandelten Problemen geäußert, wobei besonders die Reden der Genossen Walter Ulbricht2 und Chruschtschow3 reges Interesse finden. Wenn auch eingeschätzt werden muss, dass in den Diskussionen bisher noch nicht in ausreichendem Maße eine allseitige und gründliche Betrachtung der politischen Grundfragen erfolgte, offensichtlich, weil vielen Werktätigen der volle Wortlaut der Referate nicht genügend bekannt ist, zeichnet sich doch deutlich ab, dass die von den Referaten ausstrahlende Siegeszuversicht die positiven Kräfte in allen Bevölkerungsschichten gestärkt hat.
Die klare Aussage in den Referaten der Genossen Ulbricht und Chruschtschow hat unter den politisch Interessierten, aber auch bei noch unentschlossenen Personenkreisen Anerkennung gefunden.
Einen beträchtlichen Umfang in den Diskussionen der Bevölkerung nehmen dabei solche Fragen ein wie:
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der Kampf um den Frieden und die Lösung der nationalen Frage. Der Abschluss eines deutschen Friedensvertrages, die Regelung der Westberlinfrage und der Beziehungen zwischen den Bürgern beider deutscher Staaten (Passierscheinfrage4 u. Ä.);
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die friedliche Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten auf der Grundlage des vom Genossen Walter Ulbricht entwickelten 7-Punkte-Programms;5
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die Festigung der Einheit der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft und der kommunistischen Weltbewegung, die Geschlossenheit und Einheitlichkeit der kommunistischen und Arbeiterparteien;
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die Entwicklung der nationalen Wirtschaft der DDR, insbesondere die schnelle Steigerung der Arbeitsproduktivität und – besonders unter den Genossenschaftsbauern – die weitere Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft;
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die Entwicklung des Volkswohlstandes und des Niveaus der Versorgungslage in der DDR.
In den letzten Tagen gewinnen besonders die Probleme der Entwicklung der nationalen Wirtschaft der DDR und der Entwicklung des Volkswohlstandes relativ an Umfang.
Der weitaus größte Teil der interessierten Bevölkerung bringt volle Zustimmung und Einverständnis mit den Ausführungen der führenden Genossen zum Ausdruck. Die positiven Meinungsäußerungen können wie folgt zusammengefasst werden:
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Zustimmung zur konsequenten Friedenspolitik der Sowjetunion, insbesondere auch zu der von der Sowjetunion vertretenen Politik der friedlichen Koexistenz;
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Zustimmung zu den Ausführungen der führenden Genossen über den unausbleiblichen Sieg des Sozialismus in ganz Deutschland und über die historische Rolle der DDR für die Zukunft Deutschlands;
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Zustimmung zur festen Verbundenheit zwischen dem sowjetischen und dem deutschen Volk und ihrer kommunistischen Parteien;
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Zustimmung zur realen Einschätzung der ökonomischen Situation in der DDR und zu den Ausführungen hinsichtlich der Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der Volkswirtschaft;
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Zustimmung zur engen Verbindung der Parteiarbeit mit den ökonomischen Fragen.
Wenn auch in Durchführung und Auswertung des VI. Parteitages eine große Aussprache unter der Bevölkerung erreicht wurde, so muss doch eingeschätzt werden, dass bestimmte Probleme insbesondere aus dem Referat des Genossen Ulbricht losgelöst von den Grundfragen und von den anderen im Referat behandelten Punkten betrachtet werden. Das trifft hauptsächlich für solche Fragen zu, die für bestimmte Bevölkerungskreise und -gruppen von persönlichem Interesse sind und umfasst solche Punkte wie die Regelung des Passierscheinwesens, die Erhöhung der Renten, die Verbesserung der Versorgung, die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in Verbindung mit der Veränderung der Normen und des persönlichen Verdienstes usw.
Insgesamt ist festzustellen, dass sich alle Bevölkerungsgruppen am Gespräch über die auf dem VI. Parteitag aufgeworfenen Probleme beteiligen. Besonders trifft das zu für Arbeiter, Angestellte und die Landbevölkerung.
Intellektuelle halten sich vielfach in ihren Meinungsäußerungen zurück und wollen »Auswirkungen des VI. Parteitages abwarten«. Einige Angehörige der Intelligenz versprechen sich »trotz vieler guter Vorsätze« keine grundlegende Änderung noch bestehender Mängel. Trotz dieser Einschränkung treten zustimmende Argumente dieses Personenkreises zu den Hauptreferaten und zu den darin aufgezeigten Perspektiven immer mehr in den Vordergrund. Dabei wird der aufgezeigte Weg als »real« und »im Rahmen des Möglichen« eingeschätzt. Der Inhalt der Reden des VI. Parteitages sei kein »wunschgemäßes Denken«, sondern ginge von der tatsächlichen Lage aus (z. B. Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität Berlin, Physiologisch-chemisches Institut, technische Intelligenz der chemischen Großbetriebe Halle).
Eine ungenügende Diskussion zum VI. Parteitag hat sich bisher unter der Jugend entwickelt. Das trifft sowohl für Jugendliche in Betrieben als auch für Jugendclubs und -heime zu. In Industriegebieten treten Jugendbrigaden und -aktive in Auswertung des VI. Parteitages noch zu wenig in den Vordergrund. Durch ungenügende Aussprachen mit Jugendlichen treten vor allem in diesem Personenkreis noch eine Reihe von Unklarheiten auf.
Die Bemühungen der DDR um eine friedliche Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten werden überwiegend begrüßt. Es wird anerkannt, dass die Lösung des Deutschlandproblems mit friedlichen Mitteln erfolgen muss. Meinungsäußerungen zum 7-Punkte-Vorschlag über ein »Abkommen der Vernunft und des guten Willens« sind prinzipiell zustimmend. Verschiedentlich spielen dabei auch persönliche Erwartungen (Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten) eine maßgebliche Rolle. Im Allgemeinen wird der eingeschlagene Weg der Verhandlungen zwischen Vertretern der DDR und Westdeutschlands für richtig befunden.
Aus dem ungenügenden Verständnis der Dialektik des Kampfes um die Verwirklichung des Minimalprogramms zur Entwicklung normaler Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten erklären sich die mehrfach in diesem Zusammenhang geäußerten alten Argumente:
»Westdeutschland wird doch nicht darauf eingehen …«, »Es wird noch lange dauern, bis wir ein einheitliches Deutschland haben und wieder uneingeschränkt reisen können …«, »An einen Friedensvertrag ist vorläufig nicht zu denken« u. a. Häufig wird gefordert, es müsse alles daran gesetzt werden, die sieben Punkte auch den westdeutschen Werktätigen zur Kenntnis zu bringen.
Einige Personen glauben, im Auftreten der Genossen Ulbricht und Chruschtschow hinsichtlich ihrer Ausführungen über die friedliche Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten Widersprüche festgestellt zu haben und erklären, Genosse Chruschtschow habe in seiner Begrüßungsansprache mit krassen Worten die Zerschlagung des Kapitalismus gefordert. Genosse Ulbricht setze sich jedoch für den langen Weg der Verhandlungen und für die friedliche Koexistenz ein. In diesem Zusammenhang wird von diesen Personen über angeblich zwischen beiden Staatsmännern bestehende Meinungsverschiedenheiten gesprochen.
Zur Forderung, UNO-Truppen in Westberlin zu stationieren, herrscht Zustimmung, jedoch treten häufig Meinungen auf, »in Westberlin würde sich damit nichts ändern«, den Handlungen der UNO könne man nicht trauen, leitende Mitarbeiter der UNO wären USA-hörig.
Über das Kreditangebot6 seitens Westdeutschlands herrscht noch verbreitet Unklarheit. Auftretende schematische Auffassungen beinhalten, wir hätten das Angebot Westdeutschlands von vornherein ablehnen müssen, da Kredite von Imperialisten immer politische Bindungen beinhalten würden.
Wiederholt wird Enttäuschung über angeblich unkonkrete Darlegungen zum Abschluss eines Friedensvertrages und zur Regelung der Westberlinfrage zum Ausdruck gebracht, da in größerem Umfange vor Beginn des VI. Parteitages auf die Nennung konkreter Termine und die Festlegung kurzfristiger konkreter Maßnahmen spekuliert wurde.
Diese spekulativen Erwartungen schlugen bei verschiedenen Bürgern nach den Reden der Genossen Chruschtschow und Ulbricht in eine gewisse Enttäuschung um, die sich u. a. in Meinungen ausdrückt wie, Genosse Chruschtschow habe nichts Neues gesagt, er habe nur Altes neu formuliert.
In geringem Umfange zeichnen sich in diesem Zusammenhang pessimistische und feindliche Argumente ab, besonders unter den Aspekten:
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Es werde ein Zurückweichen vor dem Abschluss eines Friedensvertrages und der Lösung der Westberlinfrage sichtbar.
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Die Genossen Ulbricht und Chruschtschow hätten die »Stärke« des Westens erkannt, nachdem »der SU in Kuba eine Lehre erteilt worden sei«.7
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Der »Osten« befolge eine Politik der »weichen Welle«. Genosse Chruschtschow habe die »friedliebende Bevölkerung der DDR enttäuscht, die gehofft habe, durch Anreise einer sowjetischen Delegation erfolge eine Regelung der Westberlinfrage, eine ›Beseitigung der Mauer‹ und eine Anweisung auf Regelung der Passierscheinfrage«.8
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Der Friedensvertrag sei »in weite Ferne« gerückt. Genosse Chruschtschow habe in seinem Referat eine »Hinhaltepolitik« betrieben, und Genosse Ulbricht erkläre sich mit allem einverstanden.
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Westdeutschland würden zu viele Möglichkeiten eingeräumt, den Abschluss eines Friedensvertrages hinauszuschieben.
Das Zurückweichen Brandts9 vor einer Aussprache10 mit Genossen Chruschtschow stößt zum überwiegenden Teil unter größeren Bevölkerungskreisen auf Ablehnung. Typisch dabei sind Äußerungen wie, Brandt und der Westberliner Senat hätten damit ihr wahres Gesicht entlarvt; Brandt würde nur von Bemühungen, die Familien zusammenzuführen, sprechen, selbst aber nichts dafür unternehmen. Mehrfach wurde damit gerechnet, mit dem Zustandekommen eines Gesprächs zwischen [den] Genossen Chruschtschow und Brandt würde eine Lockerung in den Beziehungen zwischen den beiden Teilen Berlins erreicht werden. Verschiedentlich treten noch Unklarheiten darüber auf, wer für das Scheitern des Gesprächs verantwortlich gemacht werden müsse.
Die Probleme um die Einheit der kommunistischen Bewegung stehen – auch wenn die Diskussionen darüber in letzter Zeit etwas nachgelassen haben – im Mittelpunkt der Gespräche, wobei besonders die aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sowjetunion und China sowie gegenüber Albanien – Letzteres in weniger großem Umfang – Interesse finden.11 Häufig wird zum Ausdruck gebracht, die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sowjetunion und der VR China seien tiefer und ernster, als vorher in Presse und Rundfunk zugegeben wurde. Mehrfach wird nach den Ursachen des Konflikts gesucht (z. B. Technische Physik der Akademie der Wissenschaften), wobei durch Unklarheiten über die Prinzipien der friedlichen Koexistenz als einer Hauptform des Klassenkampfes die verschiedensten Spekulationen angestellt werden (z. B. Zurückweichen der Sowjetunion vor der Stärke des Imperialismus, »Angst« der sozialistischen Länder vor der »gelben Gefahr«, umfangreiche Vorräte an Sprengköpfen und Atombomben in der VR China, die eventuell auch gegen die Sowjetunion eingesetzt werden könnten, usw.). Wiederholt wurde geäußert, China könnte sich zu einer 3. Weltmacht entwickeln, die sich gegen das sozialistische Lager stellen würde.
Allgemein überwiegen in diesem Zusammenhang die Stimmen, welche den Ausführungen der Genossen Ulbricht und Chruschtschow zustimmen, dass nur auf diesem Wege (durch gegenseitige Konsultationen unter Ausschluss der Publikationsmittel) eine Einigung mit den chinesischen Genossen erzielt werden könne. Trotzdem nehmen Forderungen, über den gegenwärtigen Stand der Gespräche mit den chinesischen und albanischen Genossen ausführlicher zu berichten oder die gesamte Rede des chinesischen Delegationsleiters12 auf dem VI. Parteitag vollständig zu veröffentlichen, einen beträchtlichen Umfang ein.13 Viele Diskussionen zeigen, dass westliche Rundfunkstationen gehört wurden, wobei oftmals den von diesen Sendern verbreiteten Zwecklügen Glauben geschenkt wird. Dabei wird u. a. von einigen parteilosen Personen in offensichtlicher Auslegung der Nachrichten von NATO-Sendern14 zum Ausdruck gebracht, Genosse Ulbricht sei durch die Anwesenheit des Genossen Chruschtschow erstmalig »gezwungen« gewesen, eine eigene Stellungnahme zu diesen Problemen abzugeben, nachdem er vorher einer klaren Entscheidung stets ausgewichen sei.
Unverständnis besteht in einigen Fällen darüber, warum sich die »starke KPdSU« gegenüber China nicht durchsetzen könne; offensichtlich sei der Einfluss nicht so groß, wie in Referaten und Presseveröffentlichungen glauben gemacht wird.
In Betrieben, Verwaltungen und unter Wirtschaftsfunktionären nehmen Diskussionen über die Ausführungen der Genossen Ulbricht und Chruschtschow zur Entwicklung unserer nationalen Wirtschaft einen großen Umfang ein. Dabei wird die enge Verbindung zwischen Parteiarbeit, Politik und Ökonomie wiederholt begrüßt und die Betonung durch den VI. Parteitag, die Erhöhung der Arbeitsproduktivität sei der Hebel zum höheren Lebensniveau, als richtig befunden.
Neben den überwiegend aufgeschlossenen und zustimmenden Äußerungen haben pessimistische, unklare und zum Teil ablehnende Meinungen einen geringen Umfang, sind jedoch in allen Bezirken, besonders unter Arbeitern, vorhanden. Wiederholt werden in solchen Argumenten Zweifel hinsichtlich der Verwirklichung unserer Programmziele geäußert, wobei daran erinnert wird, die Hauptaufgabe »Erreichung und Überholung des Pro-Kopf-Verbrauchs der Bevölkerung Westdeutschlands« sei ebenfalls nicht erfüllt worden.15 Weiter wird darauf aufmerksam gemacht, die Arbeitsproduktivität Westdeutschlands würde ebenfalls nicht stehen bleiben, sondern entwickle sich weiter, und dadurch würden wir den Anschluss sowieso nicht erreichen.
Bei der Gegenüberstellung des zzt. noch höheren Standes der Arbeitsproduktivität in Westdeutschland trat in mehreren Bezirken bei Arbeitern die Meinung auf, in den westdeutschen Betrieben seien die Investitionen weit höher als bei uns. In der DDR solle jedoch eine Erhöhung der Produktion zulasten der Arbeitskraft der Werktätigen und bei Verringerung der Löhne erreicht werden. Von einigen Arbeitern werden Beispiele angeblich ungerechtfertigter Lohnkürzungen, Normenveränderungen und Preiserhöhungen bei Konsumgütern und Lebensmitteln angeführt.
Teilweise war mit einer baldigen Verbesserung des Lebensniveaus durch Aufnahme von Krediten, Wirtschaftsbeihilfen aus dem sozialistischen Ausland usw. gerechnet worden. Eine »baldige Verbesserung der Lebenslage in der DDR sei jedoch nach den Ausführungen auf dem VI. Parteitag vorläufig nicht erreichbar«. Daraus erklären sich pessimistische und sektiererische Auffassungen wie:
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Westdeutschland handelt, aber wir reden nur und erarbeiten Pläne, die von vornherein nicht zu erfüllen sind.
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Wo bleiben die von uns vorausgesagten Krisen in Westdeutschland, dort geht es den Arbeitern besser als in der DDR.
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Bei uns wird zu allgemein und anonym geredet und es ändert sich nichts.
Unter Wirtschaftsfunktionären trat wiederholt die Ansicht auf, in der DDR bestehe eine Differenz zwischen der ökonomischen Zielstellung und dem Stand der Planung; trotz aller guten Vorsätze zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität sei bisher kein Weg zur sofortigen Überwindung der Disproportionen gefunden worden (z. B. Mitarbeiter des Instituts für Volkswirtschaftsplanung16).
In diesem Zusammenhang wird – in den letzten Tagen nur noch in geringem Umfange – die Annahme geäußert, mit der Ablösung des Genossen Mewis17 von seiner Funktion als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission18 würde sich eine Veränderung in der Planpraxis andeuten. Verschiedentlich wird auch spekuliert, mit der Ablösung des Genossen Mewis sei eine »Säuberung im Wirtschaftsapparat« eingeleitet worden.
Von einigen Dozenten und Mitarbeitern der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst werden u. a. weitere Ablösungen von Wirtschaftsfunktionären und Umbildungen im Verwaltungsapparat der Volkswirtschaft erwartet.
In geringem Umfang werden als »Argumente« für die Ablösung des Genossen Mewis die von den NATO-Sendern verbreiteten Zwecklügen angeführt.
In den umfangreichen Diskussionen über die Erhöhung der Arbeitsproduktivität wird besonders von Arbeitern wiederholt die Forderung gestellt, genauere Bestimmungen über das System der materiellen Interessiertheit zu schaffen, um Arbeiter und Angestellte an der Erfüllung und Übererfüllung der Pläne zu beteiligen.
Unter Wissenschaftlern und Angehörigen der technischen Intelligenz wurde die Forderung aktiviert, es bestehe eine erhöhte Notwendigkeit, Vergleichsmaterial über Arbeitsproduktivität und Weltniveau aus Westdeutschland und anderen kapitalistischen Staaten zu beschaffen, um Anregungen für weitere Entwicklungen oder Verbesserungen zu erhalten (z. B. Fakultät für Maschinenwesen der TU Dresden). Von einigen Wissenschaftlern und Angehörigen der technischen Intelligenz wird die Meinung vertreten, es sei angebracht, wieder verstärkt Reisen zu Fachtagungen im kapitalistischen Ausland zuzulassen.
In der Landwirtschaft haben die vom VI. Parteitag gestellten Ziele19 zu einer breiten Aussprache geführt, die jedoch besonders in den wirtschaftsschwachen LPG noch intensiviert und fortgeführt werden müsse. Neben den Problemen der Erhöhung landwirtschaftlicher Erzeugnisse werden von den Genossenschaftsbauern vornehmlich Fragen der Verbesserung der Leitungstätigkeit auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Organisierung einer guten genossenschaftlichen Arbeit diskutiert. Vom überwiegenden Teil der Genossenschaftsbauern wird dabei Bereitschaft zur Erfüllung der Aufgaben bekundet.
In einigen Fällen, besonders stark aber in den bisher noch wirtschaftsschwachen LPG, werden Bedenken gegen die Streichung staatlicher Zuschüsse und gegen die Notwendigkeit, eigenes Geld zum Kauf der Technik anzuwenden, geäußert. Der Einsatz persönlicher Geldmittel im Falle der Ausschöpfung des unteilbaren Fonds wäre mit einem Risiko verbunden. In wirtschaftsschwachen LPG wird vielfach die Ansicht vertreten, mit der Übernahme der Technik und der Neuanschaffung von Maschinen würde sich die Unwirtschaftlichkeit noch erhöhen, da der damit verbundene Arbeitskräfteaufwand und die Instandsetzung der Maschinen und Geräte zusätzliche Kosten verursache.
Eine umfangreiche Aussprache hat unter Traktoristen begonnen. Überwiegend sind Traktoristen sofort bereit, sich der LPG anzuschließen, besonders dann, wenn es sich um LPG mit verhältnismäßig hoher Auszahlung handelt. Mehrfach herrscht jedoch noch unter Traktoristen zur Eingliederung in die LPG Ablehnung. Sie befürchten eine niedrigere Bezahlung und den Einsatz zu anderer Arbeitsleistung, z. B. in den Feldbaubrigaden der LPG.
Einen großen Umfang nehmen Diskussionen unter der Bevölkerung aller Schichten und Bezirke über die Erreichung des Volkswohlstandes und eines hohen Lebensniveaus sowie über Fragen der Versorgung der Bevölkerung ein.
Im Allgemeinen wird in allen Bezirken der DDR die reale Darstellung der Versorgungslage in der DDR, wie sie im Referat des Genossen Ulbricht zum Ausdruck kommt, begrüßt.20 Einen bedeutenden Umfang nehmen jedoch in diesem Zusammenhang pessimistische und teilweise unzufriedene Diskussionen ein, in denen zum Ausdruck kommt, sie hätten sich vom Parteitag eine bessere Perspektive erhofft. Eine möglichst baldige Einholung Westdeutschlands sei zunächst »abgeschrieben«. Auf der einen Seite verlange Genosse Ulbricht eine Einschränkung im Fleisch- und Butterverbrauch, auf der anderen Seite sollten die Werktätigen höhere Produktionsergebnisse erzielen. Hierin wird verschiedentlich ein Widerspruch gesehen. Einige Personen versuchen die Ausführungen des Genossen Ulbricht als »Aufruf zum Maßhalten«, ähnlich wie in Westdeutschland, auszulegen, gewinnen mit diesen Diskussionen jedoch keine Basis.
Wiederholt wird in diesem Zusammenhang auf die Zusammenarbeit im RGW verwiesen und geäußert, dass im Referat des Genossen Chruschtschow Zugeständnisse auf zusätzliche Warenlieferungen aus der Sowjetunion oder anderen sozialistischen Ländern erwartet wurden.
Im Zusammenhang mit der Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Entwicklung des Volkswohlstandes besteht in geringem Umfang besonders bei Arbeitern Unverständnis über angeblich fehlende Festlegungen durch den VI. Parteitag hinsichtlich notwendiger Veränderungen im Verwaltungs- und Wirtschaftsapparat. Besonders auf dem Gebiet der Industrie werden Veränderungen erwartet zur Beseitigung von »Schlendrian« und »Bürokratismus«. Der »Abbau unproduktiver Verwaltungsorgane« würde maßgeblich zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur Entwicklung des Volkswohlstandes beitragen.
Einen größeren Umfang nahmen in allen Bezirken der DDR, vor allem im demokratischen Berlin und in ländlichen Gebieten, die vom Genossen Ulbricht dargelegten Perspektiven im Wohnungsbau ein.21 Dabei wird den Hinweisen auf eine gerechtere Verteilung des Wohnraumes zugestimmt. Mehrfach wird eine konkretere Fassung dieser Darlegungen gewünscht und die Vorstellung entwickelt, die vorhandene Wohnungskapazität auf eine gerechtere Verteilung zu überprüfen. Die z. T. großzügige Abgabe von Wohnraum in den AWG-Bauten in Berlin wird als ungerecht empfunden und bedürfe einer Überprüfung.
Unverständnis wird in geringem Umfang über den bevorzugten Bau von Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen geäußert, und es wird die Ansicht vertreten, diese Bauplanung wäre zu kurzsichtig und würde bereits in einigen Jahren zu einem erneuten Wohnraummangel für Familien mit Kindern führen.
In den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen nimmt die Diskussion über die mögliche Erhöhung der SV-Beiträge zugunsten der Besserung der Mindestrenten einen großen Umfang ein. Im Allgemeinen herrscht grundsätzlich Zustimmung zur Erhöhung der Renten, besonders bei den Rentnern, die bereits Spekulationen über den möglichen Zeitpunkt der Erhöhung der Renten anstellen, jedoch sind die niedrigen Lohngruppen mehrfach der Auffassung, eine Veränderung der SV-Beiträge müsse lediglich bei den höheren Lohn- und Gehaltsgruppen vorgenommen werden, vornehmlich bei denen mit einem Verdienst über 600 DM.22
Weitere Vorstellungen, eine Erhöhung der Renten ohne Veränderung der SV-Beiträge zu erreichen, gehen dahin, die »Intelligenzrenten«23 zu kürzen bzw. eine gewisse Angleichung dieser Renten an die Grundrenten vorzunehmen und hohe Gehälter von Angestellten und Funktionären zu kürzen. In Einzelfällen wird eine Veränderung der Besoldung der NVA-Offiziere zugunsten der Rentner oder eine Einstellung der »Rüstung« und »Ausrüstung der NVA« verlangt.
In Kreisen der Kulturschaffenden – nur sehr vereinzelt bei der übrigen Bevölkerung – werden rege Diskussionen über die Perspektiven in der sozialistischen Kunst in Verbindung mit den Veröffentlichungen vor und während des Parteitages geführt.24 Dabei werden überwiegend die »Aufmerksamkeit der Partei« für die verschiedensten Strömungen in der Kunst anerkannt und die Anregungen zu weiteren Auseinandersetzungen für gut befunden. Vereinzelt wird die Ansicht verbreitet, den Fragen der Kultur und den Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet sei während des Parteitages zu viel Zeit eingeräumt worden; damit solle ein Problem »aufgezäumt« werden, das in Wirklichkeit gar keins wäre (verschiedene Schriftsteller im Bezirk Magdeburg, Mitarbeiter der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst).
Wenn es auch einige unliebsame Erscheinungen auf diesem Gebiet geben würde, so sei das Problem keine Verschiebung der Proportionen wert (u. a. Studenten der Humboldt-Universität). Wiederholt wird von einem »Tauwetter« gesprochen, das in den verschiedensten Kunstgebieten in den letzten Jahren eingetreten sei und das jetzt durch einen »harten Kurs« abgelöst werde. Dabei wird an verschiedene Schriften und Bücher erinnert, die »sogar in anderen sozialistischen Ländern verlegt werden könnten« – vornehmlich in Polen, aber auch in der Sowjetunion –, in der DDR jedoch nicht veröffentlicht würden.
Unter Hinweis auf die im ND veröffentlichten Diskussionen über Gebrauchsgrafik25 wird darauf verwiesen, die »Bewegungsfreiheit« junger Künstler würde in der DDR eingeschränkt (u. a. Mitarbeiter für Kulturpolitik im Radio DDR).
Es wird überwiegend erkannt, dass eine Reihe von Künstlern von der Parteilinie abgewichen sind, und es wird die Meinung geäußert, offenbar seien besonders einige Schriftsteller mit einer künstlerischen Auffassung aufgetreten, die bereits vor Jahren ideologisch eine Abfuhr erhalten habe. Die Partei würde »jonglieren«, um oppositionelle Teile abzufangen. Mehrfach werden in Kreisen Kulturschaffender Spekulationen darüber angestellt, wen das insbesondere betreffen könnte. Dabei werden wiederholt Namen wie Anna Seghers,26 Willi Bredel,27 Stephan Hermlin28 oder auch die Schauspielerin Helene Weigel29 genannt.
Verschiedene positive Schriftsteller sind mit dem Diskussionsbeitrag des Genossen Bredel auf dem VI. Parteitag nicht einverstanden, da er die berechtigte Kritik des ZK an der Arbeit der Deutschen Akademie der Künste30 nicht anerkannt und die alleinige Schuld dem parteilosen Schriftsteller Peter Huchel31 »zugeschoben« habe. Bredel griff – nach Ansicht dieser Kreise – sogar in versteckter Form die Kritik des ZK an.32 Die Kritik des Genossen Pisnik33 sei jedoch daraufhin zu hart gewesen. Als sehr gut wird von vielen Schriftstellern dagegen der Diskussionsbeitrag des Genossen Paul Verner34 eingeschätzt, der es verstanden habe, differenziert auf die Probleme der Künstler und Schriftsteller einzugehen (u. a. Schriftsteller Hermann Kant,35 Christa Wolf,36 Otto Braun,37 Herbert Nachbar38).
Ein anderer Teil von Schriftstellern und Kulturschaffenden äußert sich zur Diskussion über kulturpolitische Fragen negierend und ablehnend. Vor allem solche Künstler, mit denen bereits wegen irriger Kunstauffassungen Aussprachen stattfanden, versuchen vereinzelt in hinterhältiger Weise gegen Parteifunktionäre zu opponieren (z. B. beim DEFA-Studio für Spielfilme). Dabei wird unterstellt, in der DDR würde nur das veröffentlicht, das eine »strenge Zensur« durchlaufen habe oder von der SED »angewiesen« sei.
Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzungen auf ideologischem Gebiet ist das »Deutsche Theater« Berlin. Von einigen Künstlern wird die Distanzierung der Parteileitung vom Stück »Die Sorgen und die Macht«39 als Einwirkung des »Druckes von oben« eingeschätzt. Über die Art der Distanzierung von dem Stück gibt es im »Deutschen Theater« eine Reihe negierender Äußerungen, da der Autor des Stückes Hacks40 nicht davon unterrichtet worden sei und auch in einer Zusammenkunft der Parteileitung nicht nach seiner Meinung befragt worden wäre. Darauf sei zurückzuführen, dass Hacks bisher unbelehrbar geblieben sei. In Theaterkreisen herrscht große Spannung auf die Reaktion Wolfgang Langhoffs,41 der sich zum Kuraufenthalt befindet. Im »Berliner Ensemble« wird die Methode des Absetzens des Stückes »Die Sorgen und die Macht« nicht gebilligt, da sich nach Meinung der Schauspieler das Stück von selbst »totgelaufen« hätte. Durch die konzentrierte Kritik sei es jedoch für viele erst einmal »interessant« gemacht worden.