Republikflucht des stv. Leiters der DDR-Kammervertretung in Istanbul
21. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 111/63 über den Verrat des stellvertretenden Leiters der Kammervertretung der DDR in Istanbul/Türkei [Vorname Name], geb. am [Tag, Monat] 1929 in Dresden
[Name] wurde mit seiner Ehefrau am 16.2.1963 von Istanbul aus republikflüchtig. Einzelheiten über die näheren Umstände und Ursachen sind noch nicht bekannt. [Name] hat seine ganze politische und fachliche Entwicklung unter den denkbar günstigsten Voraussetzungen in der DDR genommen und war seit 1951 ständig in verantwortlichen Stellungen tätig.
Er entstammt der Arbeiterklasse und kam über die Antifa-Jugend zur FDJ. 1946 wurde er Mitglied der SED, besuchte die Kreisparteischule und wurde zur Arbeiter- und Bauernfakultät delegiert. 1950 schloss er sein Studium der Rechtswissenschaft an der Karl-Marx-Universität in Leipzig als Voll-Jurist ab und arbeitete bis 1952 in der Staatlichen Plankommission.1 Nach seiner freiwilligen Meldung zur Volkspolizei wurde er im Büro für Wirtschaftsfragen beim Ministerpräsidenten eingesetzt und vom MdI als Hauptmann übernommen. Im Zusammenhang mit Reorganisationsmaßnahmen wurde er 1953 Leiter der Rechtsabteilung beim damaligen Ministerium für Transportmittel- und Landmaschinenbau. Nach einjährigem Besuch der Parteihochschule war er dann Justitiar und Leiter der Rechtsabteilung bei der Deutschen Warenvertriebsgesellschaft,2 ließ sich dann aber auf eigenen Wunsch wieder ins MdI versetzen. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen Leistungen nahm man ihn in die Kaderreserve des MfAA auf und sah ihn für den Auslandsdienst vor.
Sowohl in der Deutschen Warenvertriebsgesellschaft als auch in der Kaderreserve des MfAA gehörte er der Parteileitung an.
Sein erster Einsatz im Ausland erfolgte 1958 bis 1959 als stellvertretender Leiter des Handelsrates und als kommissarischer Leiter der Kammervertretung3 der DDR in Holland. Weil es untragbar erschien, dass seine Ehefrau – eine Zahnärztin, die vorher eine eigene Praxis in Berlin-Falkensee4 unterhielt – als Schreibkraft in der Kammervertretung arbeitete, wurde [Name] abgelöst. Er arbeitete dann bis zu seinem neuen Einsatz in Istanbul als stellvertretender Generaldirektor der DIA5 Genussmittel.
Aufgrund seiner ganzen Entwicklung und seiner Fähigkeiten hielt das MfS den [Name] für eine Unterstützung bei Abwehraufgaben für geeignet und nahm Kontakt mit ihm auf. In der Folgezeit – im Wesentlichen aber erst seit September 1962 – wurde jedoch festgestellt, dass es bei [Name] eine Reihe Erscheinungen gab, die seinen weiteren in erster Linie auch beruflichen Einsatz nicht ratsam erscheinen ließen. So wurde bekannt, dass [Name] mehrere Male die Wachsamkeit verletzte, stark dem Alkohol zuneigte, andere moralische Schwächen zeigte und von Unzufriedenheit getragene negative Diskussionen führte.
In erster Linie muss jedoch die weitaus stärkere negative Einstellung seiner Ehefrau und ihre Einflussnahme auf [Name] gesehen werden. Frau [Name] ist sieben Jahre älter als ihr Ehemann und stammt aus bürgerlichen Kreisen. Ihre Mutter lebt in Westberlin. Nachdem Frau [Name] in der früheren Vergangenheit ein gutes gesellschaftspolitisches Interesse zeigte und keine Schwankungen bei ihr festgestellt werden konnten, trat sie seit ihrer Anwesenheit in Istanbul in immer stärkerer Form negativ auf. Sie neigte zur Überheblichkeit und zeigte sich stark materiell interessiert. Sie sprach am 7. Oktober 1962 offen aus, dass die Auslandsentschädigung nicht ausreichend sei und dass sie »Vegetieren« müssen. Sie sei gewohnt, in der Heimat monatlich 4 000 DM6 auszugeben. Ferner sagte sie, dass sie in der Vertretung nicht arbeiten könnte, weil sie nicht sozialistisch (nicht Mitglied der SED) sei. Sie äußerte sich abfällig über die DDR-Erzeugnisse und gab an, dass ihr Kind – zwei Jahre alt – nur mit Westpräparaten groß gezogen wurde, die sie als kostenlose Ärzte-Musterpackungen von westdeutschen Firmen erhielt. Sie dramatisierte die zeitweiligen Schwierigkeiten in der Versorgung der DDR.
Im Zusammenhang mit dem Umstand, dass es in der Türkei viele Analphabeten gibt, erklärte sie verleumderisch, dass es sowas in der DDR auch noch heute gibt. Bei Bekanntwerden des erfolgreichen Gruppenfluges der sowjetischen Kosmonauten sagte sie zu ihrem Mann ablehnend: »Nun brüll doch nicht gleich wieder los.«
In dieser Form steigerte sie sich immer mehr in ihre negative Haltung gegenüber der DDR und dem sozialistischen Lager. Als die Frau eines anderen Delegaten mit nach Berlin fahren wollte, riet ihr Frau [Name] mit den sinngemäßen Worten ab: Fahren Sie nicht mit, sonst werden Sie von Berlin aus nicht mehr rauskommen. Frau [Name] hielt ihren Mann nicht vom übermäßigen Alkoholgenuss ab – er kam öfters selbst zu Dienstbesprechungen in angetrunkenem Zustand –, sondern nutzte dies aus, um immer größeren Einfluss auf ihn auszuüben. So unterstützte [Name] seine Frau darin, dass die Auslands-Entschädigung zu niedrig sei und stellte sich gegen den Beschluss, 10 % zu transferieren. ([Name] ließ sich vor seinem Einsatz in Istanbul für 1 500 DM auf Kosten des Staates einkleiden.) Beide verbrauchten in Istanbul Unmengen amerikanischer Zigaretten, Whisky, Schokolade, Parfüm und anderes, was sie sich zum bevorzugten Preis besorgen ließen.
In einer am 8.10.1962 erfolgten Auseinandersetzung mit [Name] in der Vertretung zeigten sich bei ihm politisch-ideologische Unklarheiten. Er zeigte jedoch kein ehrliches Ringen, um Klarheit zu schaffen, sondern trat borniert und überheblich auf und pochte auf seine soziale Herkunft. Er erklärte aber auch, dass es ihm bisher nicht gelungen sei, die politisch-ideologischen Unklarheiten bei seiner Frau zu beseitigen und gab zu, mit ihr »in einen finanziellen Wettstreit getreten zu sein, mehr zu verdienen als seine Frau«.
Bei einem Flug nach Istanbul (nach einem Besuch in der DDR) flog [Name] nicht wie angewiesen, sondern nahm in Prag eine Umbuchung über Zürich vor und traf einen Tag später in Istanbul ein. Ferner ließ er als Frachtgut Kisten mit Bekleidung, Schreibmaschine und anderem nach Istanbul schicken. (Der Umfang solcher Sendungen ist sonst nicht üblich.)
Aufgrund dieser negativen Erscheinungen wurde in Absprache und in Übereinstimmung mit dem Staatssekretär Genossen Sölle,7 dem Stellvertreter des Ministers Genossen Weiss8 und der Abteilung Handel beim ZK der SED versucht, [Name] in die DDR zurückzuholen. Zunächst wurde versucht, [Name] nach Sofia zu bestellen; dann wurde er im Zusammenhang mit der Ablösung des Leiters der Vertretung zur Übernahme nach Berlin bestellt.
In beiden Fällen begründete er sein Nichtkommen damit, dass er kein Wiederausreisevisum besitzt. Gleichzeitig wurde er als Leiter eingereicht, ihm wurde dieses mitgeteilt und er wurde mit der kommissarischen Leitung beauftragt. Er wurde angewiesen, alle Möglichkeiten zur Beschaffung eines Wiedereinreisevisums auszunutzen, um an der Frühjahrsmesse und der danach stattfindenden Handelsratstagung teilnehmen zu können. Anfang Februar teilte [Name] mit, dass er das Visum erhalten hat, er aber zur Messe nicht kommen kann, da sonst kein bankbevollmächtigter Vertreter der DDR vorhanden ist und er deshalb den Parteisekretär zur Messe delegiert.
Danach erfolgte seine Republikflucht.
Wie festgestellt wurde, hat auch hier die Ehefrau des [Name] ihn entscheidend beeinflusst, den Aufforderungen, nach Berlin zu kommen, nicht Folge zu leisten. Offensichtlich hat sie ihn auch so lange beeinflusst, bis er bereit war, den Verrat zu begehen. Weitere Maßnahmen zur Aufklärung der Zusammenhänge, Ursachen, möglicher Verbindungen besonders der Frau [Name] wurden eingeleitet.
Bei Vorliegen entsprechender Ergebnisse wird ergänzend berichtet.