Schriftstellertagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg (2)
1. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 72/63 über die Tagung der »Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg« in Berlin-Weißensee
Die vom 25. bis 27.1.1963 im Stöcker-Stift1 Berlin-Weißensee stattgefundene Tagung nahm den bereits mit der Information vom 24.1.1963 (54/63) angekündigten Verlauf.2 Bei den etwa 40 Teilnehmern handelte es sich größtenteils um Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und auf verschiedenen Gebieten publizistisch tätige Personen aus Westdeutschland, Westberlin und aus der DDR (namentlich bekannte Teilnehmer siehe Anhang). Ein Teil der westdeutschen Teilnehmer gehört der »Gruppe 47«3 an. An der öffentlichen Schriftstellerlesung am 26.1. nahmen mehr Personen teil, überwiegend Angehörige der »Jungen Gemeinde«4 und ältere Kirchgänger. Die Leitung der Tagung hatte – wie ebenfalls angekündigt – der Pfarrer Gerhard Bassarak5 (Leiter der Akademie6), unterstützt von der Vikarin Ilsegret Fink.7 Weitere auf der Tagung vertretene Mitarbeiter der Akademie waren der Vikar Walter Beltz8 und die Sekretärin Waltraut Hopstock.9
Mit dieser Information soll nicht der gesamte Verlauf der Tagung wiedergegeben, sondern es soll lediglich auf einige bekannt gewordene, die Zielsetzung und den Inhalt der Tagung charakterisierende Gesichtspunkte hingewiesen werden.
Charakteristisch für den Inhalt und Verlauf der Tagung ist vor allem die Tatsache, dass von den Teilnehmern nicht offen und direkt gegen die sozialistische Ordnung in der DDR gehetzt wurde, jedoch teilweise in versteckter Form Angriffe gegen die Kulturpolitik von Partei und Regierung und gegen die politisch-ideologische Erziehungsarbeit der Partei geführt wurden. In den Referaten und in der Diskussion kam die Absicht zum Ausdruck, Gedankengut der bürgerlichen idealistischen Philosophie und sogenannte liberalistische Auffassungen zu verbreiten, bei gleichzeitiger Hervorhebung eines angeblich neutralen Standpunktes.
Die als Referenten oder in der Diskussion aufgetretenen Teilnehmer aus Westdeutschland und Westberlin benutzten die Tagung vor allem dazu, die bürgerliche Ideologie auf dem Gebiet der Kulturpolitik zu verbreiten und die in der DDR geführten Auseinandersetzungen indirekt negativ zu beeinflussen. Schriftsteller aus der DDR, die auf der Tagung und auf der öffentlichen Schriftstellerlesung auftraten, bekundeten dort zum Teil ihre nihilistischen bzw. pessimistischen Auffassungen. Stephan Hermlin10 und Walter Janka,11 von denen offensichtlich eine in dieser Richtung liegende Stellungnahme erwartet wurde, haben sich trotz persönlicher Aufforderung nicht an der Diskussion beteiligt, sondern lediglich den »lächelnden Zuschauer« gespielt. Aufgrund des Verhaltens einiger auf der Tagung anwesender Schriftsteller, die bereits bei anderen Gelegenheiten Tendenzen der geschilderten Art erkennen ließen, kann angenommen werden, dass sie die Möglichkeiten prüfen wollten, inwieweit die Evangelische Akademie für ihre Interessen ausgenutzt werden kann.
Auf der öffentlichen Schriftstellerlesung wurde vor allem die Tendenz sichtbar, sich nicht zu gesellschaftlichen Problemen der DDR zu äußern.
Wie aus dem Verhalten des Leiters der Akademie (Bassarak) schon vor und während der Tagung ersichtlich wurde, war er sich darüber im Klaren, dass sich die Tagung zu einem Forum entwickeln konnte, auf dem von den Teilnehmern feindliche Angriffe gegen die DDR geführt werden könnten. In verschiedenen Gesprächen hatte er geäußert, dass die Tagung schon vor ihrem Beginn große Aufmerksamkeit vor allem bei zuständigen staatlichen Organen hervorgerufen habe und er vor den zu erwartenden Diskussionen Angst habe.
In seiner Eröffnungsansprache betonte Bassarak, dass der Termin dieser Tagung nicht kurzfristig festgelegt worden sei und mit dem Zeitpunkt unmittelbar nach dem VI. Parteitag12 keine provokatorischen Absichten verbunden seien. Wie bekannt ist, wurde der Zeitpunkt der Tagung bei der Ausarbeitung des Jahrestagungsprogrammes für 1963 im Oktober vorigen Jahres festgelegt. Seit Oktober 1962 wurden auch die Tagungsvorbereitungen getroffen.
Bassarak habe weiter betont, dass bestimmte Diskussionen nicht von der Akademie, sondern nur im Schriftstellerverband geführt werden könnten, da die Akademie »kein Petöfi-Club«13 sei.
In diesem Zusammenhang verdient jedoch auch eine Mitteilung der Vikarin Ilsegret Fink auf der Eröffnungsveranstaltung Beachtung, wonach außer den als Referenten vorgesehenen westdeutschen Teilnehmern fünf weitere Westdeutsche »den Sprung über die Mauer getan« hätten.
Dr. Klaus Wagenbach,14 Lektor im Frankfurter Fischer-Verlag, entwickelte in seinem Referat die Theorie, dass Dogmatismus und Demagogie eng miteinander verstrickt und Dogmatiker und Demagogen deshalb stets in einer »offenen Konfession« verbunden seien. Er benutzte seinen Vortrag über das Thema »Sprache im technischen Zeitalter/dargestellt am Werk von Günter Grass«,15 um die DDR indirekt der Unterdrückung der »geistigen Freiheit« anzuklagen. Dabei führte er u. a. an, dass Grass mit seinem Werk »Die Blechtrommel« großes Aufsehen erregt habe und für die DDR »der eigentliche16 Anwalt der Historie«, das Buch selbst, unsichtbar bleibe. Seit diesem Zeitpunkt könnten westdeutsche Schriftsteller in der DDR nicht mehr auftreten, außer auf der Evangelischen Akademie und in Westberlin.
Dr. Manfred Bierwisch17 (Westberlin), der über »Sprache und Sprachkritik« referierte und sich selbst als einen »nichtengagierten Sprachwissenschaftler« bezeichnete, versuchte ausführlich und breit seine These von der Trennung zwischen Denken und Sprache und zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Sprache zu begründen.
Das Auftreten von Prof. Hans Mayer18 (Leipzig), der am letzten Tag (27.1.) über »Dürrenmatt19 und Brecht20 zur Funktion von Komödie und Tragödie« referierte, und die auf seinen Ausführungen basierende Abschlussdiskussion wurden von Teilnehmern als Höhepunkt der Tagung angesehen.
Nach Auffassung der Quellen habe Prof. Mayer Brecht als dialektischen Materialisten und Dürrenmatt (Schweizer Schriftsteller) als subjektiven Idealisten und Metaphysiker richtig charakterisiert, jedoch positive Schlussfolgerungen vermissen lassen. Dadurch sei der Eindruck entstanden, dass Brecht und Dürrenmatt gleichberechtigt nebeneinander stehen würden. In der Diskussion seien viele Probleme ungeklärt und eine Reihe falscher Thesen Dürrenmatts unwidersprochen geblieben. Einer der Sprecher habe hervorgehoben, dass Brechts Weltanschauung nicht als eine bloße »Verwirrung« betrachtet werden dürfe. Und weiter wörtlich: »Wir können mit dem Kommunismus einen echten Dialog führen, wir können ihn überwinden, indem wir ihn furchtlos betrachten. Wir müssen tun, was der Kommunismus versäumt hat, sonst erstarren wir in einer Ideologie.«
In einem anderen Zusammenhang wurde u. a. erklärt, dass der Zuschauer für Brecht keine Rolle gespielt habe, sondern Brecht habe nur überlegt, auf welche Gruppen er einen wirksamen marxistischen Einfluss ausüben könne. Von einem weiteren Diskussionsredner wurde betont, Dürrenmatt habe sich damit beschäftigt, inwieweit das Ziel Brechts, die Menschen marxistisch zu beeinflussen, eine »Illusion« gewesen sei.
Unwidersprochen sei auch die Behauptung geblieben, dass Dürrenmatt, Brecht und Keller21 die Wirklichkeit als Modelle benutzt haben, diese Modelle jedoch der Wirklichkeit nicht gerecht geworden seien. Die Diskussionen gingen bis zu der Behauptung, dass ein gemeinsames Auftreten gegen die Atombombe aufgrund der unterschiedlichen Interessen beider Gesellschaftssysteme nicht möglich sei.
In der weiteren Diskussion seien auch solche Probleme aufgeworfen worden: Gibt es eine absolute Gerechtigkeit und eine absolute Schuld. Kann man Gangster als Bürger darstellen. Ist der Gegensatz zwischen Brecht und Dürrenmatt nur scheinbar usw.
Wie weiter bekannt wurde, habe Prof. Mayer aus den anwesenden jungen Schriftstellern aus der DDR u. a. Manfred Bieler22 ausgewählt, um ihn in Kürze zu einer Schriftstellerlesung im Rahmen der westdeutschen »Gruppe 47« zu entsenden, wo der Wettstreit um den Literaturpreis der »Gruppe 47« ausgetragen wird.
In diesem Zusammenhang wird auf die von Manfred Bieler stammende und von ihm auf der öffentlichen Schriftstellerlesung vorgetragene Erzählung »Der Geburtstag meines Vaters«23 hingewiesen. Seine Erzählung stellt eine Mischung zwischen der Anprangerung des Spießertums und der Verherrlichung westdeutscher Zustände dar. Es gibt in der Erzählung nur gegenüber der DDR negativ eingestellte Personen, wobei gleichzeitig der Versuch unternommen wird, diese Menschen als »unpolitisch« darzustellen und in versteckter Form die angebliche Überlegenheit der bürgerlichen Ideologie hervorzuheben.
Es wird weiter auf die von Pfarrer Bassarak ausgesprochene Absicht hingewiesen, Schriftstellertagungen dieser Art in den kommenden Jahren zu wiederholen und von der Evangelischen Akademie aus mit den an der Tagung beteiligten Personen in Verbindung zu bleiben.
Anlage zur Information Nr. 72/63
Teilnehmerliste24
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Prof. Hans Mayer, Leipzig
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Dr. Bierwisch, Westberlin25
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Dr. Klaus Wagenbach, Frankfurt/M., Mitglied der »Gruppe 47«
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Verlagslektor Schonauer26 (Westdeutschland)
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Schriftsteller Fabian27 (Westdeutschland)
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Schriftsteller Hans Werner Richter,28 Mitglied der »Gruppe 47«, München
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Schriftsteller Lettau,29 Mitglied der »Gruppe 47«, Hamburg
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ein Mitarbeiter des Kölner Rundfunks
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Christa Reinig,30 wissenschaftliche Assistentin für Museumskunde, demokratisches Berlin
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Heinz Kahlau,31 Schriftsteller, demokratisches Berlin
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Bobrowski,32 Schriftsteller, demokratisches Berlin
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Klaus Seifert,33 Literaturwissenschaftler
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Elmar Jansen,34 Kunstgeschichtler
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Gerhard Schneider,35 Literaturwissenschaftler
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Arendt,36 Berlin-Treptow, Lyriker
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Bartuscheck,37 Leipzig, Lyriker
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Hanna-Heide Kraze,38 Schriftstellerin Dresden, mit Ehemann
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Stephan Hermlin
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Katja Salomon,39 Journalistin
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Carl Ordnung,40 Abteilungsleiter für Kirchenfragen bei der Parteileitung der CDU
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Manfred Bieler, demokratisches Berlin, Schriftsteller
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Richter,41 Berlin, Mitarbeiter der Evangelischen Verlagsanstalt
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[Vorname Name], Organist
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Anneliese Voigt42
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Adelheid Christoph43
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Walter Janka und Ehefrau44
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René Schwachhofer,45 Falkensee
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Friedemann Berger,46 Theologiestudent
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Hempel
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Helmut Ullrich,47 Berlin, Mitarbeiter »Neue Zeit«