Stimmung der Bergarbeiter im Steinkohlenrevier Zwickau/Oelsnitz (2)
5. Juni 1963
2. Einzelinformation Nr. 358/63 über die Stimmung der Bergarbeiter in den Steinkohlenwerken »Martin Hoop« Zwickau und Oelsnitz/Erzgebirge
Ergänzend zu den in unserer Information 320/63 vom 21.5.1963 genannten Einzelheiten sieht sich das MfS veranlasst, erneut darüber zu informieren.
Die Kumpel verrichten nach den vorliegenden Informationen ordnungsgemäß ihre Arbeit.
Die nach der Lohnzahlung vom 15.5.1963 aufgetretenen negativen Diskussionen unter der Belegschaft des Steinkohlenwerkes »Martin Hoop«1 über die niedrigen Lohnzahlungen sind jedoch immer noch vorhanden. Sehr auffallend ist dabei, dass die Kumpel sich unter Tage bei jeder beliebigen Gelegenheit immer wieder ihre Verärgerung über die Lohneinbußen gegenseitig zu verstehen geben.
In den letzten Tagen haben sich unter einem Teil der Belegschaften der Steinkohlenwerke »Karl Marx«2 (Brigaden »Frank« und Andrä – 1. Abteilung) sehr stark die negativen Diskussionen über die lohnpolitischen Maßnahmen verbreitet.
Die gegenwärtige Zusammensetzung z. B. des »Martin-Hoop-Werkes« (von 7 200 Produktionsarbeitern ca. 500 Rückkehrer bzw. Erstzuzüge sowie ein beträchtlicher Teil Vorbestrafter bzw. Strafgefangener) bietet einen äußerst günstigen Nährboden für negative Kräfte.
Als Ursachen der Nichterfüllung werden allgemein die schlechten geologischen Verhältnisse im »Martin-Hoop-Werk« und die Verringerung der Kohlevorräte im Oelsnitzer Steinkohlenwerk angegeben.
In vielen Diskussionen wird immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass die Planung in beiden Werken falsch sei und die unzureichende geologische Erkundung bzw. die rückläufigen Kohlevorräte in der Planungsarbeit ungenügend beachtet worden wären.
Zur Einführung des neuen Lohnsystems – Entlohnung der Komplex-Brigaden – wurde als Maßnahme eine neue Entlohnungsform (Lohntabelle 10) mit den Brigadeleitern und Schießern am 27.5.1963 beraten. Von den anwesenden Brigadeleitern wurde die neue Form der Entlohnung nach harten Auseinandersetzungen abgelehnt. Zehn Brigadeleiter lehnen es ab, weiterhin als Brigadeleiter tätig zu sein. Sie sehen in der neuen Entlohnung keine vernünftige Form der Gestaltung des materiellen Anreizes und befürchten eine Lohnminderung.
Daraufhin haben die betrieblichen Partei- und Gewerkschaftsorgane sowie Vertreter der Werkleitung erneut mit den zehn Brigadeleitern beraten. Neun von ihnen zogen daraufhin ihre Ablehnung zurück und werden weiterhin die Funktion des Brigadeleiters ausüben. Der Brigadeleiter Kirsch3 dagegen lehnte es bisher ab, weiterhin diese Funktion zu bekleiden. Kirsch ist Mitglied der Partei und mit dem Orden »Banner der Arbeit« ausgezeichnet, ist Mitglied des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands und Mitglied des Zentralvorstandes der IG Bergbau. Bei der zweiten Aussprache äußerte er seine Meinung wie folgt: » … wenn die einschneidenden Lohnmaßnahmen nicht gekommen wären, dann wären auch keine Hakenkreuze und Hetzlosungen geschmiert worden. Wozu werden zwei Grubeninspektoren gebraucht, wenn die Planaufschlüsselung diktiert und geschaukelt wird und die Materialversorgung nicht klappt. Was da mit dem Lohnabbau gemacht wird, ist ein Betrug an der Gesellschaft. Warum wird immer bei den kleineren Funktionären angefangen und nicht beim Werkleiter? Das Produktionsaufgebot vereinbart sich nicht mit der Lohnerhöhung bei den Obersteigern.«
Andere Brigadeleiter lehnten mit dem Hinweis, dass ja nicht soviel Kohlenstoß vorhanden sei, womit die Kumpel ihr Geld verdienen könnten, die neuen Lohnmaßnahmen ab.
In einer Beratung der VVB Steinkohle Zwickau im Zusammenwirken mit einer Brigade des Volkswirtschaftsrates4 – HA Kohle – wurde entschieden, bei einer Untererfüllung des Planes im Monat Mai einen Lohn für eine 100 %ige Planerfüllung zu zahlen.
Die Planerfüllung im genannten Monat beträgt
- –
StKW Oelsnitz 91,0 %,
- –
StKW »Karl-Marx« 100,1 %,
- –
StKW »Martin Hoop« 95,2 %,
- –
StKW »Willi Agatz« 108,2 %,
- –
StKW Plötz 101,1 %,
- –
gesamt: VVB Zwickau 95,1 %,
sodass für den Monat Mai in den betreffenden Betrieben der ausgezahlte Lohn nicht mit den materiellen Leistungen übereinstimmen wird. Diese Maßnahme kann nach den bekannt gewordenen Faktoren nur als eine zeitweilige und provisorische Lösung betrachtet werden, da es nur möglich ist, ökonomisch zweckmäßige Lohnformen anzuwenden, wenn die verantwortlichen Leitungskräfte in der Lage sind, die günstigsten Produktionsbedingungen für die Kumpel zu schaffen.
Gegenwärtig kritisieren die Kumpel des »Martin-Hoop-Werkes« die Leitungs- und Führungstätigkeit der Werkleitung und fordern auch, dass das ingenieurtechnische Personal und die wirtschaftsleitenden Kader stärker als bisher leistungsabhängig entlohnt werden.
Unter dem genannten Personenkreis im »Martin-Hoop-Werk« ist bereits weitestgehend Verständnis über diese Forderungen nach Einführung von leistungsabhängigen Kennziffern erreicht worden.
In den Steinkohlenwerken »Karl Marx« und Oelsnitz gibt es jedoch unter diesem Personenkreis heftige und negative Diskussionen. Sie meinen u. a., die Arbeiter erhielten einen Grundlohn garantiert, der durch die Normerfüllung sich jedoch ständig erhöhen würde, ihr Grundlohn wäre eben das derzeitige Gehalt.
Als Spiegelbild der Stimmung unter den Kumpeln kann die am 26.5.1963 durchgeführte Bataillonsübung der Kampfgruppen5 angesehen werden. Die Beteiligung betrug nur etwa 40 % aller Kämpfer. Von etwa 40 Politstellvertretern beteiligten sich nur acht an den Übungen.
Erneut haben bisher unbekannte Täter im »Martin-Hoop-Werk«, 8. Abteilung, mit Kreide eine Hetzlosung geschmiert (»Nieder mit dem Kommunismus und seinen Funktionären«).
Außerdem wurden erstmalig in dem Steinkohlenwerk Oelsnitz anonyme Lohnforderungen in provokatorischer Form gestellt. Am 18.5. wurde im Revier Süd an zwei Hunte mit Kreide »Fordert 13 % Lohnerhöhung« angeschmiert.
Vereinzelt wurden Diversionsakte verübt, die jedoch nach den vorliegenden analytischen Vergleichen nicht in unmittelbaren Zusammenhängen mit den gegenwärtigen Missstimmungen unter den Bergarbeitern betrachtet werden können.
Im Steinkohlenwerk Oelsnitz wurde im Friedrich-Engels-Schacht an der 5. Gezähekammer von bisher unbekannten Tätern ein Vorhängeschloss am Fahrdraht der Grubenbahn befestigt, was zu einem Kurzschluss bzw. Brand hätte führen können.
In der gleichen Schachtanlage hatte ein ehemaliger westdeutscher Bergmann (Neuzuzug) die Kupplung eines Huntes in einem mit Waschberge beladenen Hunt verladen, damit diese in die Blasmaschine gelangt. Eine größere Störung wäre unvermeidlich eingetreten, hätte nicht ein Bläser durch seine umsichtige Handlungsweise die Förderstörung verhindern können. (Der Täter wurde festgenommen.)
Weiterhin konnte in der letzten Woche eine Hetzschmiererei in der 5. Abteilung des Steinkohlenwerkes »Karl Marx« aufgeklärt werden. Gegen den Täter, der bereits mehrmals negativ aufgefallen ist, wurde ein Ermittlungsverfahren ohne Haft eingeleitet.