Verhinderte Fahnen- und Republikflucht mit Panzer nach Westberlin
5. Juli 1963
Einzelinformation Nr. 422/63 über eine versuchte Fahnenflucht in Verbindung mit dem Versuch eines schweren Grenzdurchbruchs am 4. Juli 1963
Am 4.7.1963, gegen 16.30 Uhr, versuchten der Gefreite – Richtschütze [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1941 in Babelsberg, wohnhaft Potsdam-Babelsberg, [Straße, Nr.], NVA seit 4.4.1962 (Wehrpflichtiger), FDJ seit Mai 1962, und die Zivilperson [Name 2, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944 in Potsdam, wohnhaft Potsdam-Babelsberg, [Straße, Nr.], ohne erlernten Beruf, zurzeit Mechanikerlehrling im GRW Teltow,1 gewaltsam vom Objekt des MSR 2 Stahnsdorf aus mit einem Panzer T 34/85 die Grenze nach Westberlin zu durchbrechen.2
Die sofort vom MfS eingeleiteten Untersuchungen ergaben bisher folgenden Sachverhalt:
[Name 1], der in der Vergangenheit seinen Dienst zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten versah, befriedigende bis gute Ergebnisse in der politisch-militärischen Ausbildung zeigte und als Militärschöffe gewählt war, trug sich seit ca. zwei bis drei Wochen mit der Absicht, nach Westberlin fahnenflüchtig zu werden. ([Name 1] weilte vor dem 13.8.19613 wiederholt in Westberlin bei seiner Großmutter zu Besuch.) Seine ursprüngliche Absicht, zu Fuß nach Westberlin zu gelangen, verwarf er und arbeitete darauf hinaus, mittels eines Panzers die Grenze nach Westberlin gewaltsam zu durchbrechen. (Durch seine Ausbildung als Richtschütze in einer Panzer-Kompanie hatte er die Möglichkeit, sich auch allgemeine Kenntnisse der Fahrpraxis mit einem Panzer anzueignen.)
Von diesem Plan setzte [Name 1] den ihm seit längerer Zeit bekannten [Name 2] am 3.7.1963 gegen 19.00 Uhr in Kenntnis, als er [Name 2] während eines Stadtausgangs in Potsdam-Babelsberg traf. [Name 1] kannte [Name 2] angeblich durch ihre gemeinsamen Interessen am Radsport, will sich jedoch nicht planmäßig mit ihm getroffen haben. Sie vereinbarten, sich am 4.7. zwischen 16.15 und 16.45 Uhr auf dem Sportplatz vor dem Objekt des MSR 2 in Stahnsdorf zu treffen. Da die Kompanie, der [Name 1] angehörte, in den Morgenstunden des 4.7.1963 zum Schießplatz Lehnin verlegt wurde, [Name 1] aber in seiner Eigenschaft als Schöffe zum Militärgericht Berlin für die Zeit vom 8. bis 10.7.1963 kommandiert war, wurde [Name 1] unbeaufsichtigt im Objekt Stahnsdorf zurückgelassen.
Diese Gelegenheit benutzte [Name 1], um sich die Schlüssel für das Geschäftszimmer des Hauptfeldwebels und damit die in diesem Zimmer aufbewahrten Schlüssel zur Panzerhalle zu beschaffen. Er bemächtigte sich eines Gefechtspanzers T 34/85, der voll munitionisiert war, entnahm weiter aus der versiegelten MG-Munitionskiste die Trommeln und brachte sie an den beiden MG des Panzers an. Dann fuhr er gegen 16.30 Uhr mit dem Panzer aus der Panzerhalle des Gefechtsparkes in Richtung des 20 bis 25 m entfernten Tores zum Sportplatz. [Name 1] durchbrach dieses Tor und nahm auf dem Sportplatz den [Name 2] auf. Anschließend durchbrach er einen Holzzaun, fuhr die Heinrich-Zille-Straße entlang des Objektes des MSR in Richtung Gaststätte »Sonnen-Eck«. Dort fuhr er in unmittelbarer Nähe einen Baum um, beschädigte die Umzäunungsmauer eines Grundstückes und setzte seine Fahrt in Richtung Güterfelde fort.
Die Ausfahrt aus der Panzerhalle wurde vom Pendelposten IV des Objektes, Gefreiter [Vorname Name 3], festgestellt, der sofort die Wache verständigte und worauf die drei verantwortlichen Offiziere des Truppenteiles Major [Name 4], Hauptmann [Name 5] und Hauptmann [Name 6] mit einem P 34 den Panzer verfolgten. Nachdem sie den Panzer erreicht hatten, versuchten die drei Offiziere, die inzwischen ihren P 3 verlassen hatten, den Panzer zum Halten zu zwingen. [Name 1] nahm davon jedoch keine Notiz, und nur durch das entschlossene Eingreifen Hauptmann [Name 5], der auf den fahrenden Panzer aufsprang, wurde der Panzer zum Halten gebracht.
Durch die Fahrt [Name 1] mit dem Panzer und die dabei hervorgerufenen Schäden kam es in der Folgezeit zu einer größeren Menschenansammlung, die sich den entstandenen Schaden betrachtete. Den konkreten Verlauf des Stellens des Panzers und der Täter haben nach Angaben der beteiligten Offiziere ca. acht bis zehn Zivilpersonen beobachtet, ohne dass sie jedoch aus dem Tathergang Schlussfolgerungen auf einen versuchten Grenzdurchbruch ziehen konnten. In Übereinstimmung mit der Leitung der 1. MSD wurde festgelegt, sowohl gegenüber den Angehörigen des MSR 2 als auch gegenüber der Zivilbevölkerung in Stahnsdorf so zu argumentieren, als hätte sich [Name 1] aus Abenteuerlust und jugendlichem Geltungsbedürfnis unter grober Verletzung der Dienstvorschriften in den Besitz eines Panzers gebracht, um mit seinem Freund eine Schwarzfahrt zu unternehmen. (Mit der Beseitigung der Schäden wurde sofort begonnen.)
Folgende Umstände – besonders die Nichtbeachtung von Befehlen und Anweisungen durch Offiziere und Unteroffiziere des Truppenteiles – haben diese Provokation ermöglicht und begünstigt:
Der Kompanie-Chef Hauptmann [Name 7] prüfte nicht exakt, ob der Verbleib [Name 1] im Zusammenhang mit seiner Schöffen-Kommandierung bereits ab 4.7.1963 unbedingt erforderlich war. Er meldete weder dem Leiter des Nachkommandos, noch einem anderen verantwortlichen Offizier, dass er [Name 1] im Objekt zurücklässt. Damit war [Name 1] faktisch unbeaufsichtigt.
Der Leiter des Nachkommandos Hauptmann [Name 8], der [Name 1] zufällig am Nachmittag des 4.7.1963 im Bataillonsbereich sah, beauftragte diesen mit der Erledigung von Ordnungsarbeiten, wozu [Name 1] das Zimmer des Hauptfeldwebels betreten musste. Den Schlüssel zu diesem Zimmer erhielt er vom Läufer des Diensthabenden des Bataillons ausgehändigt. Dadurch konnte [Name 1] ohne Begleitung dieses Zimmer betreten. Die Schlüssel zu den Hallen des Panzerparkes hängen offen im Dienstzimmer des Hauptfeldwebels und sind damit jeder Person zugängig gewesen.
Der Offizier vom Parkdienst Oberleutnant [Name 9] gewährleistete nicht die Einhaltung der Vorschrift, dass nur geschlossene Einheiten unter Führung eines Verantwortlichen bzw. einzelne Soldaten nur in Begleitung des Vorgesetzten, den Panzerpark betreten dürfen.
Oberleutnant [Name 9] hatte keine Übersicht über den im Park beschäftigten Personalbestand und kann nicht angeben, wann [Name 1] den Park betreten hat.
Weitere Untersuchungen besonders hinsichtlich der Ursachen, der begünstigenden Umstände und des Persönlichkeitsbildes der Täter wurden vom MfS eingeleitet.
Nach den bisherigen Überprüfungen haben keine weiteren Personen Kenntnis von der versuchten Fahnenflucht und vom geplanten schweren Grenzdurchbruch durch [Name 1] und [Name 2].5
Zum Persönlichkeitsbild des [Name 2] ist bisher bekannt, dass er im Frühjahr 1962 sein Abitur ablegte und zurzeit – bis zur Aufnahme seines geplanten Studiums – als Mechanikerlehrling [im] GRW Teltow beschäftigt ist. Sein Vater soll Ingenieur in Potsdam sein. Vor dem 13.8.1961 hielt er sich öfters in Westberlin zu Besuch bei Bekannten auf.