Verhinderter Fluchtversuch nach Westberlin mittels Omnibus (1)
13. Mai 1963
Einzelinformation Nr. 303/63 über den Versuch eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs am 12. Mai 1963 am KPP Invalidenstraße
Bei dem Versuch eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs mittels eines gestohlenen Omnibusses der BVG1 vom Typ H 6, polizeiliches Kennzeichen [Nr.], am 12.5.19632 gegen 12.55 Uhr, am KPP Invalidenstraße wurden von den Grenzsicherungstruppen acht Personen festgenommen.3
Bei den Festgenommenen handelt es sich um
1. [Name 1, Vorname 1], geb. [Tag, Monat] 1936 in Berlin, Beruf: Kfz-Schlosser, zuletzt tätig als Kfz-Schlosser bei der BVG, Omnibusreparatur-Werkstatt Treptow, wohnhaft Berlin-Weißensee, [Straße, Nr.]
2. [Name 1, Vorname 2], geb. [Tag, Monat] 1938 in Berlin, Beruf: Industriekaufmann, zuletzt Lohnbuchhalterin bei der BVG Hauptverwaltung Berlin C 2, Liebknechtstraße,4 wohnhaft Berlin-Weißensee, [Straße, Nr.]
3. [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1942 in Berlin, Beruf: ohne, zuletzt Fensterputzer, Dienstleistungskombinat Weißensee, wohnhaft Berlin NO 55, [Straße, Nr.]
4. Massenthe, Manfred, geb. [Tag, Monat] 1944 in Rutenau, Beruf: ohne erlernten, zuletzt Kfz-Schlosser bei der BVG, wohnhaft Mühlenbeck, Kreis Königs Wusterhausen, [Straße, Nr.]
5. [Name 3, Vorname 1], geb. [Tag, Monat] 1939 in Berlin, Beruf: Lackierer, zuletzt Möbellackierer bei der [Firma] in Berlin NO 55, wohnhaft Berlin N 4, [Straße, Nr.]
6. [Name 3, Vorname 2], geb. [Tag, Monat] 1942 in Berlin, Beruf: kaufmännische Angestellte, zuletzt Sekretärin im Verlag »Technik« in Berlin C 2, wohnhaft Berlin N 54, [Straße, Nr.]
7. [Name 4, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1942 in Berlin, Beruf: ohne, zuletzt Hilfsmaschinist beim VEB Berliner Brauerei in Berlin-Schöneweide, wohnhaft Berlin NO 55, [Straße, Nr.]
8. [Name 5, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1936 in Küstrin, Beruf: Stenotypistin, zuletzt Sekretärin im Verlag »Technik« in Berlin C 2, wohnhaft Schulzendorf bei Berlin, [Straße, Nr.].
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS führten zu folgendem Ergebnis:
Die [Name 1, Vorname 2], erfuhr Ende April 1963 durch Arbeitskollegen, dass es angeblich im April 1963 einer Gruppe von Personen gelungen sein soll, mit einem Lkw die Grenzsicherungsanlagen nach Westberlin zu durchbrechen. Nachdem sie davon ihrem Ehemann [Vorname 1 Name 1] berichtet hatte, kamen beide überein, auf gleiche Weise illegal die DDR zu verlassen, wobei [Name 1] seine beruflichen Möglichkeiten als Kfz-Schlosser bei der BVG ausnutzen wollte, um sich in den Besitz eines Omnibusses seiner Arbeitsstelle zu setzen.
Am 2. Mai 1963 trafen sie angeblich zufällig mit dem [Vorname Name 2] zusammen, von dem sie wussten, dass er vor dem 13.8.19615 als Grenzgänger6 in Westberlin gearbeitet hatte und dass er bereits im Jahre 1961 wegen versuchten Grenzdurchbruchs inhaftiert war. [Name 2] stimmte dem Vorschlag der [Name 1] hinsichtlich eines gemeinsamen Grenzdurchbruchs zu.
In der Wohnung der Familie [Name 1] legten die drei Personen – [Name 1, Vorname 1], [Name 1, Vorname 2] und [Name 2, Vorname] – die näheren Einzelheiten des Grenzdurchbruchs fest, wobei sie übereinkamen, einen durch [Name 1, Vorname 1] zu beschaffenden BVG-Bus zu benutzen. [Name 1] sollte den Bus unter Vortäuschung einer Probefahrt vom Gelände des Omnibushofes Treptow stehlen und mit Stahlplatten, die er gleichfalls entwenden sollte, versehen. Die Stahlplatten sollten den Innenraum des Busses absichern, um die mitfahrenden Personen vor einem eventuellen Eingreifen der Grenzsicherungskräfte und vor Einschüssen zu schützen.
In den nächsten Tagen wurden durch die drei Personen fünf weitere ihnen bekannte Personen angesprochen und zur Beteiligung am Grenzdurchbruch gewonnen.
Durch [Name 2, Vorname] wurden die Personen [Name 3, Vorname 1] und dessen Schwester [Name 3, Vorname 2] sowie [Name 4] gewonnen.
[Name 1, Vorname 1] gewann seinen Arbeitskollegen Massenthe, und die [Name 3, Vorname 2] ihre Arbeitskollegin [Name 5, Vorname], für die Beteiligung am gewaltsamen Grenzdurchbruch.
Entsprechend getroffener Vereinbarungen zwischen [Name 2, Vorname], [Name 3, Vorname 1] und dem Ehepaar [Name 1] suchten diese Personen am 9. Mai 1963 gegen 19.00 Uhr den KPP Invalidenstraße auf, wo sie sich längere Zeit aufhielten und sich über die vorhandenen Sicherungsanlagen, die Standorte der Grenzposten und das Kontrollsystem informierten. Gleichzeitig beobachteten sie verschiedene Kraftfahrzeuge, die die Slalomstrecke passierten, wobei sie zu der Auffassung kamen, dass es möglich sei, den KPP trotz aller Sicherungsanlagen mit einem Omnibus gewaltsam zu durchbrechen.
Am 10. Mai 1963, gegen 17.00 Uhr, wurde der KPP Invalidenstraße durch [Name 1, Vorname 1], [Name 2] und [Name 3, Vorname 1] erneut beobachtet, wobei sie angeblich in ihrer Auffassung, der gewaltsame Durchbruch könne gelingen, bestärkt worden seien.
Am 11. Mai 1963 orientierte sich [Name 1] auf dem Omnibushof Treptow über die Möglichkeiten, einen geeigneten Bus für den Grenzdurchbruch zu entwenden.
Den am 11. Mai 1963 in seiner Wohnung zusammengetroffenen Personen – [Name 2], [Name 3, Vorname 1 und Vorname 2], Massenthe – teilte [Name 1] mit, dass die Durchführung des Vorhabens gefährdet sei, da augenblicklich kein geeignetes Fahrzeug auf dem Omnibushof zur Reparatur stünde. Er schloss aber die Möglichkeit nicht aus, dass in kürzester Zeit ein geeigneter Bus zur Reparatur gebracht werde.
Es wurde vereinbart, [Name 1] sollte am 12.5.1963 um 9.30 Uhr seine Ehefrau von seiner Arbeitsstelle aus telefonisch benachrichtigen, wann ein geeignetes Fahrzeug vorhanden ist. [Name 2] sollte sich kurz darauf bei der [Name 1, Vorname 2] über den Inhalt des Gesprächs informieren und die anderen Personen benachrichtigen. Eine Benachrichtigung des Massenthe erübrigte sich, da er gemeinsam mit [Name 1] am 12.5.1963 bis 12.00 Uhr Dienst hatte. Die weitere Festlegung sah vor, dass sich alle an der Grenzprovokation teilnehmenden Personen am 12.5.1963, 12.00 Uhr, in der Wohnung der Familie [Name 1] einfinden sollten.
Massenthe, der bisher an keiner Besichtigung des Kontrollpunktes teilgenommen hatte, wurde während der Zusammenkunft am 12. Mai anhand einer Skizze mit dem Gelände des KPP Invalidenstraße vertraut gemacht.
(Bei der Durchsuchung der Wohnung der Familie [Name 1] wurde die Skizze sichergestellt.)
Die Vorbereitungen am 12.5. verliefen wie vereinbart, nachdem [Name 1] seine Ehefrau um 9.30 Uhr über einen in der Nähe befindlichen privaten Telefonanschluss verständigt hatte, dass der geplante Grenzdurchbruch stattfinden wird.
[Name 1, Vorname 1], erschien [am] Mittag vor seiner Wohnung mit dem gestohlenen BVG-Bus, den er angeblich zu einer Probefahrt benutzte. [Name 1] fuhr mit [Name 2], [Name 3], [Name 4] und Massenthe in eine unbelebte Straße in Berlin-Malchow, wo sie gemeinsam den Innenraum (Seitenwände und Rückwand des hinteren Wagenteils) und die Fahrerkabine (links- und rechtsseitig) des Busses mit den von [Name 1] auf seiner Arbeitsstelle entwendeten 5- bis 10-mm-Stahlplatten sicherten. Die Scheiben des Busses wurden mit Gardinen verhängt. Danach wurden in Weißensee die drei weiblichen Personen in den Bus aufgenommen. Während der Fahrt zum KPP wurden die einzelnen Personen von [Name 1] eingewiesen, welche Plätze sie einnehmen sollten. [Name 1], Massenthe und [Name 2] nahmen im Führerhaus Platz, während die anderen Personen im hinteren Teil des Omnibusses zwischen den Stahlplatten untergebracht wurden. [Name 2] erhielt die Aufgabe, die an den Frontscheiben des Fahrzeuges angebrachten Stahlplatten zu stützen und [Name 1] – der den Bus fuhr – zu dirigieren. Dabei hatte [Name 2] als Beifahrer die Möglichkeit, durch ein in die Stahlplatte eingelassenes Loch die Straße zu übersehen.
Vereinbarungsgemäß nahmen die Grenzverletzer mit dem Bus den Weg durch die Scharnhorststraße in Richtung KPP Invalidenstraße, da dort gemäß ihrer Beobachtungen außer einem Maschendrahtzaun keine weiteren Sicherungen angebracht waren, während von der Invalidenstraße her Stahlrohrbarrieren zu überwinden gewesen wären. Mit hoher Geschwindigkeit durchbrachen sie den Maschendrahtzaun, der das KPP-Gelände umgibt, wobei es [Name 1] nicht sofort gelang, in die Invalidenstraße einzubiegen. Nachdem [Name 1] zunächst auf einen Sperrzaun, der unmittelbar am Bürgersteig verläuft, aufgefahren war, stieß er mit dem Fahrzeug zurück, passierte die erste Slalombarriere, geriet dort aber auf den Fußweg und fuhr gegen einen Baum. Es gelang ihm, den Bus zurückzufahren und den Slalom vollständig zu passieren. An der letzten Sicherung – der Panzermauer – verklemmte sich der Bus trotz dreimaligen Versuchs, diese zu durchbrechen, wobei er unter Anwendung von Waffengewalt zum Stehen gebracht wurde. [Name 1], Massenthe und [Name 2] wurden dabei schwer verletzt. Sie befinden sich im VP-Krankenhaus und sind zzt. vernehmungsunfähig.
Von den Grenzsicherungsposten wurde der heranfahrende Bus in der Scharnhorststraße bemerkt. Sie nahmen zunächst an, der Fahrer habe die Gewalt über das Fahrzeug verloren, beobachteten jedoch weiter, dass der Bus in Richtung Grenze die 1. Slalomstrecke durchbrach. Zum gleichen Zeitpunkt eröffnete der unmittelbar an der Staatsgrenze eingesetzte Posten das Feuer in Richtung Bus. Kurz danach versuchten auch die übrigen an der Scharnhorststraße und an der Invalidenstraße eingesetzten Sicherungsgruppen den Bus durch Zielschüsse zu stoppen. Insgesamt wurden 120 Schüsse aus der MPi und 18 Schüsse aus der Pistole auf den Bus abgegeben.
In der Vernehmung der festgenommenen Personen über die Motive des geplanten illegalen Verlassens der DDR sagte die [Name 1] aus, sie und ihr Ehemann hätten sich, angeregt durch Hetzsendungen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen und durch Westberlin-Besuche vor dem 13.8.,7 in Westberlin bessere Lebensverhältnisse versprochen. [Name 3] beabsichtigte angeblich, sich der Wehrpflicht8 in der DDR zu entziehen. [Name 2] wollte Arbeit bei der Westberliner Firma aufnehmen, bei der er bis zum 13.8. als Grenzgänger tätig war. [Name 4] gibt an, er wollte mit seinem in Westberlin wohnhaften Vater zusammenleben. Die [Name 3] und [Name 5] sagen aus, ihre Verlobten seien in Westberlin wohnhaft.
Bisher bestreiten die Personen, im Zusammenhang mit der von ihnen durchgeführten Grenzprovokation Verbindung zu Westberliner Dienststellen oder in deren Auftrage tätige Personen aufgenommen zu haben.
Zum Zeitpunkt des Grenzdurchbruchs war die Besetzung des Westberliner Kontrollpunktes normal. Erst etwa zehn Minuten nach Eröffnung des Feuers durch die Grenztruppen der NVA wurden insgesamt ca. 50 Duensing-Polizisten9 zusammengezogen. Außerdem erschienen drei Fahrzeuge der britischen Militärpolizei und mehrere Kameraleute.
Auf unserem Gebiet kam es unmittelbar nach dem versuchten Grenzdurchbruch zu Ansammlungen kleinerer Personengruppen, die durch umsichtigen Einsatz der Volkspolizei zum Verlassen der Umgebung des KPP veranlasst wurden.
Nach dem versuchten Grenzdurchbruch wurden durch Pioniere der NVA und Einsatzkräfte der Feuerwehr das Gelände des KPP außerhalb der Drahtumgrenzung an der Invalidenstraße und Scharnhorststraße mit Betonplatten abgesichert.
Das MfS führt zzt. Untersuchungen, inwieweit die festgenommenen Personen mit Westberliner Terrorbanden wie z. B. der Girrmann-Gruppe10 oder mit in deren Auftrag tätigen Personen Verbindung hatten, wobei die Ermittlungsarbeit durch die Vernehmungsunfähigkeit der Personen [Name 1], Massenthe und [Name 2] noch erschwert wird.