Verhinderter Fluchtversuch nach Westberlin mittels Omnibus (2)
[ohne Datum]
Einzelinformation Nr. 330/63 über den Versuch eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs mittels Omnibusses am 12. Mai 1963 am KPP Invalidenstraße (Ergänzungsbericht)
In Ergänzung unserer Einzelinformation vom 13.5.1963 Nr. 303/63 über den Versuch eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs am 12.5.1963 am KPP Invalidenstraße wurde dem MfS noch Folgendes bekannt:1
Im Verlaufe der weiteren Untersuchungen durch das MfS wurde ermittelt, dass an den Vorbereitungen des gewaltsamen Grenzdurchbruchs der Westberliner Bürger [Name 6, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1936 in Berlin, Beruf: Speditionskaufmann, zuletzt Expedient bei der Spedition Hamacher in Berlin NW 21, Heidestraße, wohnhaft Berlin-Tempelhof, [Straße, Nr.], beteiligt war.
[Name 6] verließ 1954 illegal die DDR nach Westdeutschland, angeblich wegen verschiedener Differenzen mit seinem Vater. Bei der VP lief gegen ihn im Juni 1954 ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Kontrollratsdirektive 38, Art. III A III,2 da er an Mitglieder der FDJ in Berlin, Tucholskystraße, während des II. Deutschlandtreffens3 die Hetzschrift »Freie Junge Welt« verteilt hatte. Das EV wurde im Dezember 1954 eingestellt.
1951 wurde seitens der VP gegen [Name 6] ein Ermittlungsverfahren wegen Diebstahl bearbeitet, das auf dem Wege eines Gnadenerweises eingestellt wurde.
Nach seiner Republikflucht war [Name 6] bis 1958 in verschiedenen Berufen in Westdeutschland tätig. 1958 verlegte er seinen Wohnsitz nach Westberlin, wo er bei verschiedenen Speditionsfirmen Beschäftigung fand.
Da [Name 6] noch im Besitz seines westdeutschen Personalausweises war, war es ihm möglich, regelmäßig in die DDR einzureisen und seine in Berlin C 2, [Straße, Nr.] wohnhaften Eltern sowie mehrere Bekannte, u. a. die Familie [Name 3], die an dem Versuch des gewaltsamen Grenzdurchbruchs beteiligt war, aufzusuchen.
[Name 6] wurde von den Sicherheitsorganen im Zuge einer Fahndung am 13.5.1963, als er vom demokratischen Berlin4 aus nach Westberlin zurückfahren wollte, am KPP Bahnhof Friedrichstraße festgenommen.
Bereits im März 1963 hatte [Name 6] von [Vorname 1 Name 3] erfahren, dass er sich mit dem Gedanken trägt, die DDR illegal zu verlassen, um sich der Wehrpflicht5 zu entziehen.
Beide kennen sich nach übereinstimmenden Aussagen aus früherer gemeinsamer Wohngegend, und [Name 6] überbrachte häufig Zigaretten und Grüße von den Geschwistern des [Name 3], die in Westberlin leben.
[Name 6] wurde nach bisherigen Ermittlungen am 9. April 1963 in der Wohnung des [Name 1] mit der Gruppe um [Name 1] bekannt gemacht und gebeten, von Westberlin aus bei dem beabsichtigten Grenzdurchbruch behilflich zu sein.
Bei dieser Zusammenkunft in der Wohnung des [Name 1] wurde festgelegt, am 12. April 1963 vom Omnibushof der BVG Berlin-Treptow aus die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin gewaltsam zu durchbrechen. Dabei wurde von [Name 1] dem für die Provokation vorgesehenen Personenkreis anhand selbstgefertigter Skizzen das Gelände des Omnibushofes der BVG erläutert.
An dieser Zusammenkunft nahmen teil: [Name 1, Vorname 1], dessen Ehefrau [Name 1, Vorname 2], [Name 2, Vorname], Massenthe, Manfred, [Name 3, Vorname 1], [Name 7, Vorname], [Name 8, Vorname] und [Name 9, Vorname] und der Westberliner [Name 6, Vorname].
[Name 6] gab anhand von Skizzen den Anwesenden Einzelheiten über die Absicherung der Staatsgrenze und die dort angebrachte Lichtanlage bekannt.
Auf Vorschlag des [Name 1] wurde am 9. April beschlossen, den Grenzdurchbruch am 12.4.1963 bei Einbruch der Dunkelheit durchzuführen und am 11.4.1963 eine letzte Besprechung vorzunehmen. [Name 1] schlug weiter vor, die innerhalb des Geländes des BVG-Omnibushofes patrouillierenden Angehörigen der Grenztruppen (Doppelstreife) niederzuschlagen und sich in den Besitz ihrer Waffen und Uniformen zu setzen.
Zu diesem Zweck wollte [Name 1] gemeinsam mit Massenthe auf dem Hof des Betriebsgeländes ([Name 1] und Massenthe sind, wie im 1. Bericht ausgeführt, Angehörige der BVG) eine Omnibusreparatur vortäuschen bzw. ein Fahrzeug vorsätzlich beschädigen, um eine Begründung für die erforderlichen Reparaturmaßnahmen zu haben.
Die am Überfall auf die Grenzposten beteiligten Personen sollten sich im Innern des Omnibusses aufhalten. Bei Annäherung der Doppelstreife war geplant, gegen sie einen Schaumlöscher (Feuerlöscher) einzusetzen.
Die sich im Omnibus aufhaltenden Personen sollten auf ein bestimmtes Klopfzeichen hin die Doppelstreife mithilfe von bereitzustellenden Schlagwaffen – Knüppeln oder anderen – niederschlagen.
Nach dem Überfall sollten die Angehörigen der Grenztruppen entwaffnet und ihrer Uniformen beraubt werden. Zwei an dem Grenzdurchbruch beteiligte Personen wurden benannt, die die Uniformen zur Abdeckung des Vorhabens anziehen und so lange tragen sollten, bis alle Beteiligten sich über das Schuppendach abgeseilt und nach Überquerung des dort verlaufenden Flutgrabens auf Westberliner Seite angekommen wären.
[Name 6] Aufgabe sollte darin bestehen, am 12. April 1963 auf Westberliner Seite zu erscheinen und die dort diensthabenden Streifen der Duensing-Polizei6 von der geplanten Grenzprovokation zu unterrichten. Er sollte sie um Feuerschutz für die Grenzdurchbrecher ersuchen und sie gleichzeitig informieren, dass zwei der Personen Uniformen der Grenztruppen der DDR tragen.
Eine in der Nähe des Schuppens angebrachte Lampe, die der Beleuchtung der Grenzsicherungsanlagen dient, sollte mit einem Luftdruckgewehr zerschossen werden. Die Zerstörung der Lampe, so wurde mit [Name 6] vereinbart, war das Signal für den Beginn der Aktion; gleichzeitig sollte erreicht werden, dass sich die vom Schuppen abseilenden Grenzdurchbrecher nicht unmittelbar im Lichtkegel dieser Lampe befinden.
[Name 1] und Massenthe schleusten am 12.4.1963 verabredungsgemäß die am Grenzdurchbruch teilnehmenden Personen auf das Betriebsgelände der BVG (in Gruppen aufgeteilt in einem BVG-Bus bzw. im Kofferraum des Wagens) und versteckten sie im Abstellraum der Spritzlackiererei und in der Malerei des Betriebes.
[Name 6] war auf der West-Seite wie verabredet erschienen. Er bestreitet jedoch, bereits Kontakt zur Duensing-Polizei aufgenommen zu haben.
Die Durchführung der Grenzprovokation misslang, da die Streifentätigkeit der Grenztruppen verstärkt worden war (aus Gründen des Ausfalls der Beleuchtung entlang der Staatsgrenze).
Am darauffolgenden Tage trafen sich [Name 1], [Name 2] und [Name 6], wobei sich [Name 6] erneut bereit erklärte, ihnen jederzeit Unterstützung zu gewähren. Er forderte sie auf, ihn zum gegebenen Zeitpunkt von eventuellen neuen Plänen zu informieren.
Noch im Verlaufe des Monats April 1963 trug sich die Gruppe um [Name 1] mit dem Gedanken, [sich] von der auf dem Gelände des Omnibushofes gelegenen Betriebskantine durch ein Fenster auf die Westberliner [Seite] abzuseilen und anschließend den dort verlaufenden Flutgraben zu überwinden. Auch in diesem Falle sollte [Name 6] Verbindung zur West-Polizei aufnehmen, um deren Unterstützung bei der Grenzprovokation zu erlangen. Da diese Stelle von einem Beobachtungsturm der Grenztruppen einzusehen war, sollte die Westberliner Polizei durch Einsatz von Scheinwerfern die Beobachtungsmöglichkeiten der Grenztruppen einschränken. Zur Verwirklichung dieses Planes kam es nicht, da er den Beteiligten als zu gefährlich erschien.
Anfang Mai 1963 wurde erwogen, mittels eines Omnibusses der BVG einen gewaltsamen Grenzdurchbruch am KPP Friedrichstraße/Zimmerstraße durchzuführen. Das Ehepaar [Name 1] und [Name 3] beobachteten daraufhin den KPP Friedrich-/Zimmerstraße, fanden jedoch den KPP für ein derartiges Vorhaben ungeeignet, da festgestellt wurde, dass bis zur Grenzlinie weitere zwei Schlagbäume überwunden werden müssen. Von dem Plan, am KPP Friedrich-/Zimmerstraße gewaltsam durchzubrechen, wurde Abstand genommen.
Die Beobachtungen wurden daraufhin am anderen KPP weitergeführt, wobei die Gruppe übereinkam, den Durchbruch am KPP Invalidenstraße durchzuführen.
[Name 1] und [Name 2] äußerten Bedenken, dass möglicherweise zum Zeitpunkt des Durchbruchs Fahrzeuge aus Richtung Westberlin den KPP passieren und dadurch das Vorhaben vereiteln könnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, von ihrem Vorhaben, die Westberliner Polizei zu benachrichtigen und diese um entsprechende Unterstützung zu ersuchen. Diese Aufgabe sollte [Name 6] übernehmen, wobei die Westberliner Polizei auf Veranlassung [Name 6] zum Zeitpunkt des Durchbruchs Maßnahmen zur Sperrung des Fahrzeugverkehrs in Richtung demokratisches Berlin einleiten sollte.
Daraufhin gab die [Name 3, Vorname 2], in den Abendstunden des 10. Mai 1963 beim Haupttelegrafenamt Berlin ein Telegramm an [Name 6] auf mit dem Inhalt »Komme dringend am 11.5.1963 vorbei, [Vorname 2]«.
[Name 6] erschien aufgrund des Telegramms am Abend des 11.5.1963 in der Wohnung der Eltern der [Name 3]. Von dort wurde er von der [Name 3, Vorname 2] zur Wohnung des [Name 1] gebracht, wo sich bereits alle Personen, die an der Grenzprovokation am 12.5. am KPP Invalidenstraße beteiligt waren, versammelt hatten. Die Anwesenden ersuchten [Name 6], entsprechende Kontakte mit der Westberliner Polizei aufzunehmen und der Grenzprovokation zum Erfolg zu verhelfen.
[Name 6] erklärte sich bereit, am Sonntag, dem 12. Mai 1963, zwischen 12.00 und 13.00 Uhr die Westseite des Kontrollpunktes Invalidenstraße aufzusuchen und Beobachtungen über den geplanten Durchbruch des Omnibusses anzustellen. Er sicherte zu, die Westberliner Polizei am KPP von dem Vorhaben zu unterrichten und durch diese zum Zeitpunkt des Durchbruchs die Sperrung des Fahrzeugverkehrs aus Richtung Westberlin zu veranlassen.
Vereinbarungsgemäß wurde der Versuch des Grenzdurchbruchs am 12.5.1963 gegen 12.55 Uhr unternommen – wie in unserer Einzelinformation Nr. 303/63 vom 13.5.1963 geschildert – und von den Grenzsicherungskräften vereitelt.
Nach den Aussagen des [Name 6] hat er sich in den Mittagsstunden des 12.5.1963 auf die Westberliner Seite des KPP Invalidenstraße begeben. Von einer sofortigen Verbindungsaufnahme mit den diensttuenden Angehörigen der Duensing-Polizei will er Abstand genommen haben, weil er befürchtete, beim Aufsuchen des am KPP gelegenen Kontrollhäuschens der Duensing-Polizei beobachtet und fotografiert zu werden und dann eventuell Einreiseverbot für die Hauptstadt der DDR und zum Besuch seiner Eltern zu erhalten. Er habe sich lediglich in der Nähe des KPP aufgehalten und dort einem Angehörigen des Zolls die geplante Grenzprovokation angekündigt, wobei er ihn bat, den Fahrzeugverkehr ab etwa 13.00 Uhr umzuleiten oder gänzlich zu stoppen. Auf Ersuchen des Angehörigen des Westberliner Zolls habe sich [Name 6] mit seinem westdeutschen Personalausweis ausgewiesen.
Nach den bisherigen Aussagen des [Name 6] soll sich der Angehörige des Westberliner Zolls angeblich weder ablehnend noch zustimmend zu der Forderung des [Name 6] verhalten haben. Er hätte lediglich zum Ausdruck gebracht, dass der für den Durchbruch auserwählte KPP Invalidenstraße ungeeignet für ein derartiges Vorhaben sei und habe sich erkundigt, ob es [Name 6] nicht möglich sei, die Provokateure zu verständigen und sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. [Name 6] will erklärt haben, eine Verständigung sei nicht mehr möglich, da ihm der gegenwärtige Aufenthaltsort der beteiligten Personen unbekannt sei. Angeblich habe sich [Name 6] danach in ein in der Nähe des KPP gelegenes Gartenlokal begeben, ohne darauf zu achten, ob Absperrungsmaßnahmen getroffen würden. Als er am KPP Schüsse hörte, wäre er zum KPP gelaufen. Von dem Zöllner, mit dem er vorher gesprochen hatte, sei er in das Gelände des KPP – Westberliner Seite – eingelassen worden. Er habe jedoch weiter keine Wahrnehmungen machen können.
Weitere Untersuchungen zur Aufklärung der Unterstützung des Grenzdurchbruchs durch Westberliner Dienststellen werden noch geführt.