Verhinderter Fluchtversuch von vier Jugendlichen mit Lkw in Wartha
7. September 1963
Einzelinformation Nr. 539/63 über einen verhinderten schweren Grenzdurchbruch am 7. September 1963 am KPP Wartha
Am 7.9.1963, gegen 1.45 Uhr, unternahmen vier Jugendliche einen schweren Grenzdurchbruchsversuch am KPP Wartha. Sie benutzten dazu den Tatra-Kipper1 LB 24–78 von der Baustelle Luisenthal, [Bezirk] Gotha (Ohra-Talsperrenbau). Es handelt sich dabei um die Jugendlichen [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943 in Freihaus, wohnhaft in Haarhausen, [Straße, Nr.], beschäftigt als Hilfsmonteur, Energieversorgung Erfurt, Meisterei Arnstadt; [Name 2, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943 in Arnstadt, wohnhaft in Arnstadt, [Straße, Nr.], beschäftigt: Talsperrenbau Weimar, Tiefbauarbeiter; [Name 3, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944 in Neudietendorf, wohnhaft in Neudietendorf, [Straße, Nr.], beschäftigt als Brückenbauer RB Neudietendorf2/Schlosser; [Name 4, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1946, Haarhausen, wohnhaft in Haarhausen, [Straße, Nr.], beschäftigt: RTS Erfurt als Lehrling.
Nachdem die Jugendlichen mit diesem Lkw gegen 1.30 Uhr den Schlagbaum Ramsborn (5-km-Grenzgebiet) durchbrochen hatten und in Richtung Grenzübergang KPP Wartha weiterfuhren, verständigten die Sicherungskräfte vom Schlagbaum Ramsborn den KPP Wartha. Daraufhin wurde im KPP Wartha Alarm ausgelöst, die Sicherungskräfte in Feuerstellung eingewiesen und Reifentöter gelegt. Ferner wurden zur Abriegelung am Posten 8 und Posten 6 je ein Westdeutscher Lkw quergestellt, die sich gerade am Kontrollpunkt befanden.
Unmittelbar darauf durchbrach der Lkw mit hoher Geschwindigkeit bereits den geschlossenen Schlagbaum am Posten 8, wobei er dem vor dem Schlagbaum 8 befindlichen Lkw auswich, indem er rechts auf die Grünfläche des Parkplatzes und anschließend durch die Traversen fuhr.
Auf dem vor Posten 6 querstehenden Lkw (einem westdeutschen Fahrzeug der Fa. Munz, pol. Kennzeichen NA3-Y 733) fuhr er dann jedoch auf, wurde frontal zerstört und kam zum Halten. (Am westdeutschen Lkw wurde der Dieseltank zerstört. Die sofortige Reparatur wurde veranlasst.)
Als die vier Jugendlichen anschließend vom Lkw sprangen und versuchten, zu Fuß durchzubrechen, wurde das Feuer eröffnet.
Insgesamt wurden 23 Schuss aus MPi und vier Schuss aus Pistole abgegeben. Dabei wurden [Name 3] an der Hand und [Name 4] am rechten Bein verletzt.
Während [Name 1], [Name 2] und [Name 3] sofort festgenommen wurden, gelang es [Name 4] trotz seiner Verletzung vorläufig zu entkommen. Er wurde nach ca. einer halben Stunde, auf einem ca. 500 m vom Objekt entfernten Feld liegend, festgenommen. Auf westdeutsches Gebiet wurden keine Schüsse abgegeben.
Durch dieses Vorkommnis musste der Verkehr auf der Straße Wartha bis gegen 5.45 Uhr gesperrt werden. Zur Zeit des Vorkommnisses wurden weder auf DDR-Seite noch auf westdeutscher Seite Beobachtungen oder Ansammlungen festgestellt.
Zur Vorbereitung des geplanten gewaltsamen Grenzdurchbruchs und zur Person der Festgenommenen:
Hauptinitiator war der festgenommene [Name 1], der im Dezember 1962 in die DDR zurückkehrte. [Name 1] wollte sich nur kurze Zeit in der DDR bei seiner Mutter aufhalten (sein Vater war kurz vorher verstorben) und dann wieder illegal nach Westdeutschland zurückkehren. Dieses Vorhaben schob er aber auf, angeblich, weil ihm die zugewiesene Arbeitsstelle gefiel.
Im Mai 1963 beschloss er dann zusammen mit seinem Freund [Name 4] noch im Frühjahr 1963 die Staatsgrenze bei Nordhausen, Wartha oder Eisfeld zu durchbrechen, mit der Hoffnung, von seinen dort wohnhaften Verwandten dabei Unterstützung zu erhalten.
Im Juni 1963 teilte [Name 1] diesen Entschluss seinem früheren Schulkameraden [Name 2] mit, als er ihn zufällig in Arnstadt traf. ([Name 2] plante bereits im Jahre 1962 einmal die Staatsgrenze zu durchbrechen, verwirklichte dies aber aus Angst nicht.)
Bei einem erneuten Zusammentreffen [Name 1] und [Name 2] in Arnstadt am 6.9.1963 legten sie dann konkret fest, wie sie den Grenzdurchbruch bewerkstelligen wollten. [Name 2] schlug vor, die Staatsgrenze mit einem Fahrzeug zu durchbrechen und deshalb einen 10 t Tatra-Baukipper auf seiner Arbeitsstelle Talsperrenbau Luisenthal zu entwenden. Dieses Fahrzeug sei nach Meinung [Name 2] besonders geeignet, weil es einen guten Kugelschutz durch die über das Führerhaus gezogene Ladewanne biete, schwer und geländegängig sowie mit drei Achsen und Zwillingsreifen ausgestattet ist, sodass es auch bei Beschuss noch fahrbar sei. Bei diesem Treffen schlug [Name 2] vor, seinen Freund [Name 3] einzuweihen, während [Name 1] den [Name 4] verständigte.
Am Abend des 6.9.1963 trafen sich diese vier Jugendlichen in der Gaststätte in Haarhausen und legten den konkreten Ablauf des Grenzdurchbruchs wie folgt fest:
[Name 1] wertete seine aus westdeutschen Zeitungen stammenden »Kenntnisse über Grenzdurchbrüche« aus und wies die übrigen darauf hin, dass es trotz der Sicherungsmaßnahmen nach dem 13.8.4 Personen gelungen sei, nach Westdeutschland durchzubrechen. Diese Personen erhielten sofort Arbeit, Wohnung und Geld, würden als »Helden« gefeiert und als »politische Flüchtlinge« anerkannt. Somit brauchten sie sich keine Sorgen um ihre Zukunft in Westdeutschland zu machen.
Ferner wies [Name 1] darauf hin, dass der westdeutsche Bundesgrenzschutz bei solchen Durchbrüchen »Feuerschutz« gebe, besonders wenn sie durch »Schießereien« auf dem Territorium der DDR aufmerksam gemacht würden. [Name 1] führte auch Bespiele an, dass Angehörige der DDR-Sicherungskräfte dabei schon getötet wurden.
Aufgrund dieser Darstellungen schlug [Name 1] vor, die Staatsgrenze bei Wartha zu durchbrechen, weil sie mit Sicherheit annahmen, dass westlicherseits stationierte Bundesgrenzschutzsoldaten ihnen Feuerschutz geben würden.
Ferner vereinbarten sie sich selbst ebenfalls zu bewaffnen. Dabei erwogen sie, im Falle einer Kontrolle nur durch einen Doppelposten diese zu überwältigen und zu entwaffnen und mit diesen Waffen den gewaltsamen Grenzdurchbruch zu erzwingen. Außerdem schlug [Name 2] vor, den ABV von Haarhausen zu überfallen und ihm die Dienstwaffe zu entwenden. [Name 1] und [Name 2] wollten dazu den ABV ansprechen, während [Name 3] ihn in diesem Augenblick hinterrücks mit einem Knüppel niederschlagen sollte. Der ABV sollte dann in einer außerhalb gelegenen Scheune versteckt werden, um eine Entdeckung vor dem geplanten Durchbruch zu vermeiden. ([Name 1] und [Name 4] planten schon einmal Monate vorher einen Überfall auf diesen ABV, um in den Besitz von Waffen zu kommen.)
Ferner versuchten sie eine KK-Pistole des [Name 4], in der normale KK-Munition jedoch nicht verschossen werden kann, auf das entsprechende Kaliber aufzubohren, was aber misslang. Außerdem bewaffneten sie sich mit Messern.
[Name 2] drängte darauf, den Durchbruch noch am Abend des 6.9. durchzuführen, weil an diesem Abend der Diebstahl des vorgesehenen Fahrzeuges am leichtesten sei (Arbeitsruhe auf der Baustelle). Dem stimmten die drei anderen Jugendlichen zu.
Zuerst versuchten sie den Überfall auf den ABV auszuführen, der am gleichen Abend in Zivil die Gaststätte für kurze Zeit betrat. Nachdem er die Gaststätte wieder verließ, folgte ihm [Name 2], um den geplanten Überfall auszuführen. Durch die noch sehr belebte Straße musste er jedoch davon Abstand nehmen.
Nach 21.00 Uhr begaben sie sich zur Baustelle Luisenthal und brachen in die Garage ein. [Name 1] hielt mit einem Hirschfänger in der Hand Wache am Garagentor in der Absicht, jede eventuell sich nähernde Person niederzustechen, während [Name 2] den Kipper in Gang brachte.
Das Fahrzeug wurde von [Name 2], der keine Fahrerlaubnis besitzt, gesteuert. Auf der Fahrt nach Wartha legten sie fest, jeden zu überfahren, der sich ihnen in den Weg stellt. [Name 2] erklärte [Name 1] die Bedienungsweise des Kippers, damit im Falle einer Verletzung [Name 1] den Kipper fahren kann. Sie gingen davon aus, dass auf den Fahrer zuerst geschossen würde und kalkulierten eine tödliche Verletzung ein.
Die Festgenommenen, besonders [Name 1], verherrlichten die Verhältnisse in Westdeutschland, empfingen die westdeutschen Fernseh- und Rundfunkprogramme, lasen Schundliteratur (die bei den Hausdurchsuchungen zum Teil sichergestellt wurde) und waren der Ansicht, in Westdeutschland ein »besseres Leben« führen zu können. Auf ihrer Fahrt nach Wartha sangen sie bezeichnenderweise ein Lied der Fremdenlegionäre.
Sie beabsichtigten nach gelungenem Grenzdurchbruch – anknüpfend an die Darstellung [Name 1] – vor Presse und Funk in Westdeutschland aufzutreten und ihre »Anerkennung als politische Flüchtlinge« zu erwirken.