Vorkommnis in der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin
20. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 107/63 über ein Vorkommnis am 16. Februar 1963 in der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin
Am 16.2.1963, um 20.45 Uhr, wurde während einer Radsport-Veranstaltung in der Werner-Seelenbinder-Halle von der Stehgalerie hinter der Ehrentribüne aus eine Gläser-Spülbürste in die Ehrentribüne geworfen, die unmittelbar hinter dem 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und Mitglied des Politbüros, Genossen Stoph,1 auftraf.
Die Vernehmung des vom MfS sofort festgestellten Täters [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1943, wohnhaft Berlin N 58, [Straße, Nr.], sowie zahlreiche weitere Vernehmungen von Tatzeugen, Freunden und Bekannten des [Name 1], eingehende Tatortbesichtigungen, genaue Rekonstruktion des Tatherganges und die Überprüfung aller weiteren eventuell mit diesem Vorkommnis in Verbindung stehenden Umstände ergaben:
[Name 1] traf mit seinen Freunden und Bekannten [Name 2, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Dreher im VEB Fahrzeugausrüstung Berlin, [Name 3, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Schlosser in der PGH Bauschlosserei – Handwerk Berlin, Schönhauser Allee, [Name 4, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Dreherlehrling im VEB Fahrzeugausrüstung Berlin, [Name 5, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1941, Fernmeldemonteur beim Fernmeldebauamt Berlin-O. 17, gegen 19.00 Uhr in der Werner-Seelenbinder-Halle ein, nachdem sie sich gegen 18.45 Uhr vor der HO-Gaststätte in der Prenzlauer Allee »Zur Nordmark« getroffen hatten. Sie begaben sich zu ihrem ständigen »Stammplatz« auf der Stehplatz-Galerie hinter der Ehrentribüne, wo sie noch den ihnen bekannten [Name 6, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1944, Dreherlehrling des VEB Fahrzeugausrüstung Berlin, trafen.
Alle Personen sind seit Jahren regelmäßige Besucher von Radsportveranstaltungen in der Seelenbinder-Halle. Außerdem befand sich an dieser Stelle der Stehplatzgalerie noch eine Anzahl weiterer Jugendlicher, die den Vorgenannten nur vom Sehen her – aufgrund der ebenfalls regelmäßigen Teilnahme an Radsport-Veranstaltungen – bekannt waren.
Nachdem sie ihre Mäntel abgelegt hatten, begaben sich die namentlich genannten Jugendlichen zum Bierausschank in den unteren rechten Seitengang (vom Haupteingang aus gesehen). Zum Zeitpunkt des Eintreffens des Genossen Stoph und seiner Begrüßung durch den Sprecher befanden sich die Jugendlichen noch am Bierausschank und tranken Bier. [Name 1] trank zusätzlich eine 0,2 Liter-Flasche Weinbrand-Verschnitt aus, die er sich bereits auf dem S-Bahnhof Prenzlauer Allee gekauft hatte, während [Name 2] eine gleiche Flasche mit den übrigen Jugendlichen teilte. Erst gegen 19.45 Uhr nahmen sie ihren Stehplatz auf der Galerie wieder ein.
Nach 20.00 Uhr begaben sich auf Anregung [Name 5] er und [Name 1] noch einmal zum Bierausschank, um Bier zu trinken. Dabei entwendete [Name 1] aus dem Spülbecken des Bierausschanks eine Gläser-Spülbürste. Auf dem Rückweg zur Galerie nahm [Name 5] die Bürste an sich, hantierte mit ihr herum und hielt sie, auf der Galerie angekommen, dem [Name 3] ins Gesicht. Als [Name 5] erneut mit der Bürste auf der Galerie vor den dort stehenden Personen herumhantierte, riss [Name 1] ihm die Bürste aus der Hand und warf sie – mit dem Rücken zur Ehrentribüne stehend – mit der rechten Hand über die rechte Schulter in die Zuschauer auf der Tribüne. [Name 6], der dies beobachtet hatte, sagte zu [Name 1] sinngemäß: »Du musst doch blöd sein, Du hättest Willi Stoph treffen können, denn der sitzt da unten!«
Aufgrund dieser Äußerung war [Name 1] sehr erschrocken. Als unmittelbar darauf mehrere uniformierte Volkspolizisten auf der Galerie erschienen, forderte [Name 1] den [Name 6] auf, mit ihm zur Toilette zu gehen. Auf dem Weg dorthin gab [Name 1] ihm zu verstehen, dass er nicht gewusst habe, dass sich auf der Ehrentribüne Genosse Stoph befindet.
In der Befragung gab [Name 1] sofort zu, die Spülbürste geworfen zu haben. Über das Motiv seiner Handlungen in den weiteren Vernehmungen des [Name 1] befragt, erklärte er, aus reinem Übermut ([Name 1] hatte bis zu diesem Vorfall außer der Flasche Weinbrand noch ca. sieben bis acht Glas helles Bier getrunken und war dadurch leicht angetrunken) die Bürste gestohlen und später geworfen zu haben, ohne zu wissen, dass Genosse Stoph anwesend war, ohne gezielt zu haben und ohne sich etwas dabei zu denken. Er bereute seine Handlung mehrmals gegenüber den vom MfS befragten Personen. In allen Zeugenvernehmungen wurde übereinstimmend der geschilderte Sachverhalt bestätigt. Es konnten trotz Prüfung aller Möglichkeiten keinerlei Anhaltspunkte erbracht werden, dass diese Handlung vorbereitet war und eine feindliche Zielsetzung verfolgte.
Einige Angaben zur Person des [Name 1]:
[Name 1] und seine Eltern sind bisher politisch nicht in Erscheinung getreten. Er hält sich in seiner Freizeit, meist zusammen mit den übrigen genannten Jugendlichen, in Lokalen auf und benimmt sich nach Alkoholgenuss mitunter rowdyhaft. Deshalb kam es auch bereits zu Spannungen zwischen ihm und seinem Stiefvater. Vor dem 13.8.19612 verkehrten [Name 1] und seine Freunde in Westberlin, wo sie öfter Kinoveranstaltungen besuchten. Auf seiner Arbeitsstelle, dem VEB Ingenieur-Hochbau, arbeitet [Name 1] als Maurergeselle in einer Brigade, die wegen ihrer schlechten Arbeitsmoral bekannt ist. Es wird jedoch eingeschätzt, dass [Name 1] der Vernünftigste in dieser Brigade ist, keine Bummelstunden hat und sich von Trinkereien in der Brigade fernhält.
Bis auf [Name 3], der in einem Heim für Schwererziehbare untergebracht war und eine schlechte Arbeitsmoral hat, werden die übrigen genannten Personen positiv beurteilt und als gute Facharbeiter eingeschätzt.
Es wird um Einverständnis gebeten, den gesellschaftlichen Organisationen im Betrieb des [Name 1] Hinweise über die Vorkommnisse zu geben, damit sie sich im Betrieb ernsthaft mit dem rowdyhaften Verhalten [Name 1] auseinandersetzen und ihn zur Verantwortung ziehen.
Vom MfS wird [Name 1] und die anderen Jugendlichen operativ unter Kontrolle gehalten.
Ferner wurde mit den leitenden Genossen der Sportbewegung in der DDR Rücksprache genommen, damit auch von dieser Seite durch geeignete vorbeugende Maßnahmen eine Wiederholung solcher und ähnlicher Vorkommnisse verhindert wird.
(Bis hierher wurde diese Information auch an Genossen Stoph gegeben.)
Zur Person des [Name 3] wurde weiter festgestellt, dass er öfters seine Arbeitsstellen wechselte und im Wohngebiet keinen guten Leumund besitzt. Er ist als Trinker bekannt. Sein Vater war Angehöriger der Waffen-SS, verließ 1945 Berlin und hält sich in Westdeutschland auf. [Name 3] brachte [Name 1] mit dem im Januar 1963 wegen Kuppelei inhaftierten [Name 7, Vorname], 23 Jahre alt, wohnhaft Berlin NO 58, [Straße, Nr.] in Verbindung, wo sie gemeinsam mit minderjährigen Mädchen »feierten«.
Vom MfS werden neben der operativen Kontrolle der Personen auch weitere geeignete operative Maßnahmen eingeleitet.