Westliche Kontaktaufnahmen/Versuche zu DDR-Grenzsoldaten
6. August 1963
Bericht Nr. 483/63 über versuchte und erfolgte Kontaktaufnahmen des Gegners mit Angehörigen der NVA/Grenze im 1. Halbjahr 1963 an der Staatsgrenze nach Westberlin
Bereits seit den Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.1961,1 besonders aber in den letzten Monaten, versucht der Gegner in verstärktem Maße – vor allem an der Staatsgrenze nach Westberlin – mit den vielfältigsten Mitteln und Methoden unsere Grenzsicherungskräfte negativ zu beeinflussen, ihre Kampfkraft zu zersetzen und sie zur Fahnenflucht zu bewegen.
Als hauptsächlichste Methode muss dabei die Vielzahl der Versuche zur persönlichen Kontaktaufnahme durch die gegnerischen Kräfte gesehen werden.
Versuchte Kontaktaufnahmen:
Allein in der Zeit vom 1.1. bis 30.6.1963 wurden insgesamt 1 625 Kontaktaufnahmeversuche festgestellt, wobei der Abschnitt der 1. Grenzbrigade2 Berlin mit 1 052 Fällen einen absoluten Schwerpunkt bildet.
An den insgesamt 1 625 Kontaktaufnahmeversuchen waren beteiligt
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in 756 Fällen Zivilpersonen, besonders Jugendliche,
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in 745 Fällen Angehörige der Westberliner Sicherungskräfte und
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in 125 Fällen NATO-Besatzer, vorwiegend US-Besatzer.
Tatsächlich dürften aber die Kontaktaufnahmeversuche noch weitaus höher liegen, weil sie von den Grenzsoldaten zum Teil verschwiegen werden.
Das Vorgehen der gegnerischen Kräfte bei den Kontaktaufnahmeversuchen erfolgt in der Mehrzahl der festgestellten Fälle einheitlich und übereinstimmend. Um einen »harmlosen« Charakter der Kontaktaufnahmeversuche vorzutäuschen, wird das Gespräch von den Westberliner Kräften zunächst mit dem Tagesgruß eröffnet. Mit Grüßen und in der weiteren Folge mit kurzen Zurufen über allgemeine Dinge (Wetter, Vergleich der Uhrzeit und dgl.) soll die Reaktion unserer Sicherungsposten getestet werden. Wird von unseren Posten nicht reagiert, so versuchen sie häufig mit weiteren gleichen Zurufen und Wiederholen des Tagesgrußes eine Antwort zu erhalten. Reagieren unsere Posten nur mit knappen Antworten, versuchen die Westberliner Provokateure durch Näherkommen an die Grenzsicherungsanlagen das Gespräch weiterzuführen, den Kontakt zu unseren Sicherungskräften zu erweitern und längere Gespräche zu führen. Erwidern unsere Posten den Tagesgruß oder die Zurufe der gegnerischen Kräfte und kommt ein Gespräch zwischen ihnen zustande, führen die Westberliner Provokateure meistens die Diskussion systematisch und mit konkreter Sachkenntnis über die Lage und Situation in dem jeweiligen Grenzabschnitt fort. Diese Sachkenntnis erhalten sie insbesondere durch den Verrat von fahnenflüchtigen NVA-Angehörigen. Sie nutzen diese Kenntnisse aus, um unseren Kräften bei Kontaktgesprächen ihre Überlegenheit zu zeigen und durch prahlerisches Auftreten ihr Vertrauen zu gewinnen und den Gesprächen eine bestimmte Richtung aufzuzwingen.
So besitzen Westberliner Posten häufig konkretes Wissen über Ausbildungsmethoden unserer Grenztruppen und über die Dienstordnung; sie kennen Namen der Dienstvorgesetzten und bestimmte Vorkommnisse innerhalb der Einheiten.
Während die gegnerischen Kräfte Sachkenntnisse über Lage und Situation in unserem Grenzabschnitt besitzen und dadurch in der Lage sind, das Gespräch in ihrem Sinne zu lenken, fehlen unseren Sicherungskräften – wenn schon entgegen den Befehlen das Gespräch aufgenommen wurde – die Sachkenntnis über die Situation im gegenüberliegenden Grenzabschnitt und Gegenargumente zu den von den gegnerischen Kräften vorgebrachten Problemen. Ist der Kontakt hergestellt, befinden sich unsere Sicherungskräfte während der Gespräche meist in der Defensive und stimmen den feindlichen Argumenten mehrfach auch noch zu.
Im Verlaufe der Kontaktgespräche bedient sich der Gegner wiederholt solcher Argumente wie:
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Wir sind doch alles Deutsche, und Deutsche sollen nicht auf Deutsche schießen.
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Wir haben auf beiden Seiten der Grenze den gleichen Dienst zu versehen, der tägliche Gruß müsste aus Höflichkeit ausgetauscht werden.
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Die Losung »Deutsche an einen Tisch« hat auch für uns Gültigkeit; wir stehen uns nicht als Feinde gegenüber.
Die ideologische Vorbereitung für derartige Kontaktaufnahmen trifft der Gegner durch spezielle Hetzschriften und Rundfunksendungen, durch inhaltlich gleiche Aufrufe und Ausführungen im »Studio Stacheldraht«3 und durch das Anbringen und Aufstellen von Hetzlosungen, Plakaten usw. entlang der Staatsgrenze.
Ein immer wieder angewandtes Lockmittel zur Kontaktaufnahme sind Genussmittel wie Zigaretten, Alkohol, Schokolade und andere Westwaren. So werfen die Provokateure besonders Zigaretten als Anknüpfungspunkt für Gespräche auf oder vor den K 10.4 Sie wollen damit gleichzeitig erreichen, dass sich die Initiative zur Kontaktaufnahme auch auf die Angehörigen unserer Grenzsicherungskräfte überträgt (eventuell durch Bedanken oder Bitten um weitere ähnliche Geschenke).
Zur Erreichung von Kontakten werden vom Brandt-Senat5 und von Spionage- und Agentenzentralen6 in Westberlin an die Westberliner Polizei und gekaufte Elemente Anweisungen über Inhalt der Gespräche und Art der Geschenke gegeben. Die von gegnerischen Kräften bei Kontaktaufnahmeversuchen verausgabten Geldbeträge für Zigaretten, Schokolade, Alkohol usw. werden vom Westberliner Senat zurückerstattet.
Bei Misslingen von Kontaktaufnahmeversuchen durch Westberliner ist häufig festzustellen, dass der Gegner – insbesondere Angehörige der Westberliner Sicherungskräfte und NATO-Besatzer – zu übelster Verleumdung, Bedrohung mit der Waffe u. a. gefährlichen Provokationen übergeht.
Erfolgte Kontaktaufnahmen:
Im Zeitraum des 1. Halbjahres 1963 haben nachweislich insgesamt 16 Unteroffiziere und 117 Soldaten während ihres Grenzdienstes mit Westberliner Polizeikräften, Zoll, Zivilpersonen und in zwei Fällen mit NATO-Besatzern Kontakte unterhalten. In einigen Fällen wurden diese Kontakte auf Initiative unserer Sicherungskräfte hergestellt.
Aber auch hier dürfte die Gesamtzahl der Kontaktaufnahmen – insgesamt 133 – höher liegen. Die Ergebnisse von Untersuchungen und Befragungen von Sicherungskräften weisen z. B. immer wieder aus, dass weitere bisher nicht registrierte Kontaktaufnahmen stattgefunden haben, wobei die Kontakte in den meisten Fällen von Westberliner Seite aus hergestellt wurden, verschiedentlich aber auch auf Initiative unserer Grenzposten entstanden.
Bei den Untersuchungen wurde ferner festgestellt, dass von den meisten Kontaktgesprächen ein weiterer großer Teil NVA-Angehöriger Kenntnis hatte, sie duldete und den Vorgesetzten darüber keine Meldung erstattete.
Nachgewiesene Kontaktaufnahmen erfolgten vor allem von den zur Sicherung eingesetzten NVA-Angehörigen
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am KPP Heinrich-Heine-Straße (35. GR 1. GBr.),
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am KPP Bahnhof Staaken (34. GR 2. GBr.7),
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am KPP Oberbaumbrücke (37. GR 1. GBr.),
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am KPP Drewitz-Drei Linden (48. GR 4. GBr.8) und
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in der 2. GBr. im Abschnitt Standroh9 an der Fernverkehrsstraße 01.
Weiter haben sich folgende Schwerpunkte für Kontaktaufnahmen herausgebildet:
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Posten an der Clara-Zetkin-Straße,
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Posten an der rückwärtigen Begrenzung Brandenburger Tor – Leitlinie,
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Posten am Potsdamer Platz,
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Posten an der Stresemannstraße.
Die in den letztgenannten Postenbereichen diensthabende 1. Kompanie, GR 25, 1. GBr., musste wegen nachgewiesener Kontakte und Verdachts weiterer Kontakte vorläufig aus dem Grenzdienst herausgelöst werden. Zwei Gefreite dieser Kompanie waren am 28.7.1963 bei einer Kontaktaufnahme mit Westberliner Personen, von denen sie Westzigaretten übernahmen, gestellt worden.
Während der Übernahme der Zigaretten wurden unsere Posten von Westberliner Seite aus fotografiert.
In der Untersuchung wurde festgestellt, dass beide Gefreite sowie andere Grenzsoldaten dieser Kompanie seit Längerem Kontakte zu Westberliner Personen unterhalten haben. Eine Schrankkontrolle ergab, dass weitere elf Angehörige des 1. Zuges dieser Kompanie Westzigaretten, Niveacreme u. a. westliche Erzeugnisse aufbewahrten. Ferner wurden im 3. Zug dieser Kompanie bei zwei Soldaten im Schrank Westerzeugnisse, darunter Westzeitungen, sichergestellt, die ebenfalls bei Kontakten übernommen wurden.
Auch aus anderen Einheiten gibt es mehrere Hinweise über aufgenommene Kontakte.
Zum Beispiel wurde dem MfS im Juni 1963 bekannt, dass sich am KPP Drewitz zwei NVA-Angehörige der 4. Kompanie, 46. GR, 4. GBr., mehrfach während des Grenzdienstes auf Westberliner Gebiet begaben, dort Kontakte zu Angehörigen der Westpolizei aufnahmen, mit ihnen Gespräche führten und Geschenke entgegennahmen. Außerdem wurden den Westpolizisten von unseren Grenzsicherungskräften Ansichtskarten zur Weiterleitung an ihre in Westdeutschland lebenden Verwandten übergeben.
Von der gleichen Einheit hatten in den letzten Monaten 13 weitere Angehörige der NVA – davon zwei Unterführer – Verbindungen zu Westberliner Polizisten und Zollangestellten des Westberliner Kontrollpunktes Dreilinden-Drewitz aufgenommen und führten teilweise mit diesen bis zu 20 Kontaktgespräche.
Eine größere Anzahl Angehöriger dieser Einheit hatte Kenntnis von diesen Vorfällen, ohne Bericht darüber zu erstatten. Die unterrichteten NVA-Angehörigen – hauptsächlich Nachbarposten, welche die Kontaktaufnahmen genau beobachten konnten –, wurden von den beteiligten Sicherungskräften mit Westzigaretten usw. korrumpiert, um die Kontaktaufnahme den Vorgesetzten zu verschweigen.
Befragungen der NVA-Angehörigen ergaben, dass diese Kontakte zu Angehörigen der NVA anfänglich von West-Polizisten und Zollangestellten im Zusammenwirken mit weiblichen Angestellten der unmittelbar an der Staatsgrenze gelegenen Autobahnraststätte hergestellt und später von den Angehörigen der NVA aufrechterhalten wurden. Teilweise wurden dann aufgrund von Hinweisen von solchen Kontakt unterhaltenden Grenzsoldaten neue Kontakte von weiteren Grenzsoldaten aufgenommen. Anknüpfungspunkte zur Herstellung dieser Kontakte waren Westzigaretten, die den Angehörigen der NVA von Westberliner Polizisten angeboten und geschenkt wurden. Weiter nahmen sie andere Genussmittel wie Bier, Schokolade usw. an, die von Angestellten der genannten Autobahn-Raststätte den Grenzsoldaten ausgehändigt wurden. Von Angestellten der Raststätte nahmen die NVA-Angehörigen in mehreren Fällen auch warme oder kalte Speisen entgegen.
In der Folgezeit war teilweise zu verzeichnen, dass sich Angehörige der NVA in diesem Gebiet derartige Genussmittel erbettelten.
In den Unterhaltungen mit Westberliner Polizisten gaben Angehörige der NVA die verschiedensten Angaben preis, u. a. ihre Wohnanschrift, den Familienstand, die Höhe ihres Wehrsoldes und die Dauer ihres Wehrdienstes. Außerdem wurden Gespräche über die Lebensverhältnisse in der DDR, in Westberlin und in Westdeutschland geführt.
Ende Juli 1963 wurde dem MfS bekannt, dass ein Unteroffizier, Gruppenführer in der 1. Kompanie, GR 48, seit Mai 1963 Kontakt zu einer in Grenznähe auf Westberliner Gebiet wohnenden weiblichen Person unterhält. Mehrere Angestellte des Zuges, dem der Unteroffizier angehörte, hatten von der Kontaktaufnahme Kenntnis, erstatteten jedoch keine Meldung an ihre Vorgesetzten.
In wiederholten Fällen hatte in den letzten Wochen ein Gefreiter der 4. Kompanie, 44. GR, 4. Grenzbataillon, von sich aus Kontakte zur Westberliner Polizei und zu Zivilpersonen während des Grenzdienstes aufgenommen und dabei Westzigaretten erhalten. Obwohl weitere NVA-Angehörige von diesen Vorfällen Kenntnis hatten, erstatteten sie den Vorgesetzten keine Meldung, weil sie früher selbst Kontakte unterhalten hatten und diese Tatsache – über die wiederum andere NVA-Angehörige informiert waren – vertuschen wollten. Von einigen Posten wurden Kontakte zu US-Besatzern teilweise unter Verwendung von Schul-Englisch-Kenntnissen hergestellt.
Auch die 4. Kompanie, 44. GR, 4. Grenzbataillon, musste zur Aufklärung der bestehenden Kontakte nach Westberlin zeitweilig aus dem Grenzdienst herausgelöst und einzelne NVA-Angehörige zur weiteren Untersuchung dem Militärstaatsanwalt übergeben werden.
In der 4. Kompanie, 46. GR, 4. Grenzbataillon, wurden ebenfalls schwere Dienstvergehen und wiederholte Verbindungsaufnahmen zu Westberliner Kräften festgestellt.
Die Kontaktaufnahme zu unseren Grenzposten hat sich im Allgemeinen – wie bereits bei den Versuchen erwähnt – abgewickelt (Entbieten des Tagesgrußes, Austausch der Uhrzeiten, Bemerkungen über das Wetter usw). In wiederholten Fällen waren danach unseren Grenzposten Westerzeugnisse – hauptsächlich Zigaretten, Alkohol, Schokolade – angeboten und von ihnen auch ohne Weiteres angenommen worden. In mehreren Fällen wurden Westberliner Kräfte nach Eröffnung des Gespräches um Zigaretten und andere Genussmittel angebettelt, indem unsere NVA-Angehörigen u. a. zum Ausdruck brachten, die Westware sei qualitativ besser als unsere. In anderen Fällen kam ein Gespräch dadurch zustande, dass NVA-Angehörige Westberliner Personen durch Gesten aufforderten, Genussmittel über die Grenzsicherungsanlagen zu werfen.
Mehrfach wurden unsere Grenzposten anschließend an allgemeine Gespräche durch Westberliner über die Durchführung des Grenzdienstes der NVA (Dauer des Streifendienstes, Dauer des Urlaubs oder der Ausgehzeit, Wehrsold usw.) ausgefragt. Dabei wollten die gegnerischen Kräfte wissen, wie unseren Grenzposten der Dienst an der Grenze gefällt, wie die Verpflegung sei, wie sie mit der Unterbringung zufrieden sind usw. Vereinzelt konnte nachgewiesen werden, dass von unseren Grenzposten während der mit Westberliner Polizeiangehörigen geführten Gespräche Dienstgeheimnisse preisgegeben wurden wie z. B. die Ablösezeiten, Dauer des Grenzdienstes und Umfang des zu sichernden Grenzabschnittes usw.
In diesen Gesprächen wird von den Westberliner Kräften ihre offizielle politische Linie vertreten und versucht, unsere NVA-Angehörigen in diesem Sinne negativ zu beeinflussen und ihre Kampfkraft zu untergraben.
Einige der überführten NVA-Angehörigen stimmten unter Außerachtlassung aller in der politischen Schulung vermittelten Kenntnisse der falschen politischen Linie der gegnerischen Kräfte zu und unterstützten sie durch negative und teilweise verleumderische Äußerungen noch. Andere NVA-Angehörige legten gegenüber den gegnerischen Kräften ihre angebliche Unzufriedenheit wegen eines verstärkten Grenzdienstes, eines verweigerten Urlaubs oder der »Uneinsichtigkeit« ihrer Vorgesetzten dar.
Weitere Kontaktgespräche hatten Fluchten von NVA-Angehörigen aus der betreffenden Einheit zum Inhalt, wobei die gegnerischen Kräfte mehrfach konkrete Kenntnis von diesen Vorfällen besaßen.
Von Westberliner Kräften dazu aufgefordert, aber auch aus eigener Initiative, lassen NVA-Angehörige Westberliner Personen an fahnenflüchtige Grenzsoldaten der gleichen Einheit in mündlicher oder schriftlicher Form Grüße bestellen. Zur Übermittlung schriftlicher Grüße werden, entweder auf »Anraten« oder aus eigenem Entschluss, entsprechend beschriftete Zettel über die Grenzsicherungsanlagen geworfen.
In Einzelfällen interessierten sich Westberliner Kräfte in Gesprächen mit NVA-Angehörigen für ihre Verwandten und Bekannten in Westdeutschland und Westberlin. Unter dem Vorwand, dort Grüße ausrichten zu wollen, versuchten sie deren Adressen in Erfahrung zu bringen, was ihnen teilweise auch gelang. Während eines derartigen Gespräches übernahmen zwei NVA-Angehörige von Westberliner Polizisten zwei frankierte Ansichtskarten, beschrifteten sie und übergaben sie zur Weiterleitung an ihre Verwandten in Westdeutschland wieder den Westpolizisten.
Von einigen NVA-Angehörigen wurden während solcher Kontakte Schundliteratur, Westzeitungen und Hetzmaterial entweder zur Kenntnis genommen oder einbehalten. Vereinzelt wurden Zeitungen westlicher Herkunft sowie Flugblätter in die Unterkünfte eingeschleust, dort gelesen oder weitervermittelt. Unter Ignorierung aller dienstlichen Weisungen erstatteten die von diesen Vorkommnissen wissenden anderen NVA-Angehörigen den Vorgesetzten keine Meldung.
Weitere Mittel und Methoden der Westberliner Kräfte sind das Erzählen von »Witzen« oder Austausch von Kenntnissen auf Kfz-technischem Gebiet.
In einzelnen Fällen wurden unseren NVA-Angehörigen pornografische Schriften übergeben.
Mit weiblichen Personen aus Westberlin wurden Adressen ausgetauscht mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Verbindung. Ein Grenzposten erhielt von Westberliner Zollangehörigen ein Kleinstradio geschenkt.
In acht Fällen wurden nachweisbar durch Grenzposten von Westberliner Polizeiangehörigen alkoholische Getränke entgegengenommen und während des Grenzdienstes unter Beteiligung von mehreren Grenzposten ausgetrunken.
In einem Falle wurde einem NVA-Angehörigen von gegnerischen Kräften während eines Gespräches im Postenbereich Geld angeboten mit der Aufforderung, fahnenflüchtig zu werden.
Am KPP Drewitz wurden einem Grenzsoldaten von einer Westberliner Zivilperson 1 000 Westmark und eine »sichere« Arbeitsstelle in Westberlin mit einem Monatseinkommen von 600 Westmark zugesichert. Als Gegenleistung sollte er eine Personenschleusung nach Westberlin ermöglichen.
Am gleichen KPP wurden zwei Soldaten von einer Zivilperson ebenfalls 600 Westmark für eine Personenschleusung angeboten.
Neben den von Westberliner Kräften angewandten Mitteln und Methoden zur Erlangung von Kontakten gibt es mehrere Fälle, in denen die Initiative zur Kontaktaufnahme von unseren Sicherungskräften ausging:
Zum Beispiel stellten Grenzsoldaten am KPP Drewitz von sich aus Kontakt zu Westberliner Zivilpersonen und Polizeiangehörigen her, übergaben diesen 200 DM der DNB10 und tauschten dafür Zigaretten, Kaffee und einen Nylonmantel ein.
Bei den erfolgten Kontaktaufnahmen wurde mehrfach zum Zwecke der Weiterführung des Gesprächs oder zur besseren Verständigung von unseren Posten Westberliner Gebiet betreten. Dabei wurden vorhandene Tore in den Drahtsperren und andere Möglichkeiten zum Übertritt ausgenutzt.
Teilweise erfolgten die Kontaktaufnahmen auch an Schlagbäumen und von Beobachtungstürmen aus.
Direkte Vereinbarungen zwischen NVA-Angehörigen und Westberliner Kräften über Aufrechterhaltung der Verbindungen, wobei die Initiative von unseren Grenzposten ausging, sind bisher nur vereinzelt nachgewiesen worden. Obwohl Kontakte in mehreren Fällen über längere Zeit hinaus bestanden (es wurden mehrfach bis zu 20 und mehr Kontaktgespräche geführt), ist die wiederholte Verbindungsaufnahme meist ohne vorherige Absprache oder Verabredung zustande gekommen. NVA-Angehörige gaben an, dass sich unsere Grenzsoldaten und die auf gegnerischer Seite diensthabenden Posten sowie die in Grenznähe auf Westberliner Gebiet wohnenden Zivilpersonen dem Ansehen nach kennen. Dieser Umstand begünstigt eine Verbindungsaufnahme und mit dem Entbieten des Tagesgrußes entstehe dabei leicht die Möglichkeit einer Gesprächsaufnahme.
Vereinbarungen über die Aufrechterhaltung der Verbindungen durch Initiative unserer Sicherungskräfte erfolgten in Einzelfällen, um ständig in den Besitz von Westzeitungen zu gelangen. Zum Beispiel wurde in einem Falle der weitere Kontakt zwischen unseren Sicherungskräften und Westberliner Zollangehörigen absprachegemäß folgendermaßen aufrechterhalten: Gemeinsam wurde während des Grenzdienstes ein Versteck (ein am Strand liegendes Boot) in unmittelbarer Nähe der Grenzmarkierung im Bereich des 36. GR, 2. GBr., ausfindig gemacht und vereinbart, dass von Zollangehörigen in bestimmten Abständen Zigaretten und Schundliteratur hinterlegt werden. Durch ein in der Grenzsperre vorhandenes Tor wurde das Versteck auf Westberliner Gebiet von unseren NVA-Angehörigen regelmäßig aufgesucht, wobei die abgelegten Westerzeugnisse entnommen wurden. Fanden unsere Posten keine Gegenstände vor, wurden durch sie von ihrem Postenbereich aus vorher verabredete Blinkzeichen gegeben, mit denen die Zollangestellten aufmerksam gemacht wurden, Westerzeugnisse im verabredeten Versteck abzulegen.
Ein anderes Versteck – ebenfalls zum Ablegen von Westwaren – befand sich in einer Mauer am KPP Heinrich-Heine-Straße. Teilweise wurde nur ein geringer Teil der von westlichem Gebiet aus übergeworfenen Gegenstände zur Täuschung der Vorgesetzten und zur eigenen Tarnung nach Rückkehr vom Grenzdienst abgegeben. Der andere Teil wurde von NVA-Angehörigen einbehalten mit der Absicht, ihn später selbst zu verbrauchen.
Wie bereits angeführt, hatte ein beträchtlicher Teil von NVA-Angehörigen Kenntnis von bestehenden Kontakten, ohne ihren Vorgesetzten davon Meldung zu erstatten. Im Gegenteil führte es in der Folgezeit mehrfach dazu, dass solche NVA-Angehörige selbst Kontakte zu Westberliner Kräften aufnahmen.
Als besonders begünstigend wirkte sich aus, dass Unterführer und Gruppen- und Postenführer an den Verbindungsaufnahmen beteiligt waren oder davon Kenntnis hatten, ohne etwas dagegen zu unternehmen oder erzieherisch auf die betreffenden Sicherungskräfte einzuwirken. Dadurch wurden die Soldaten in ihren Handlungen noch ermuntert bzw. sie fühlten sich »sicher«, da die Möglichkeiten einer Aufdeckung durch die Mitwisserschaft des unmittelbaren Vorgesetzten eingeengt waren.
Um die bestehenden Kontaktaufnahmen vor weiteren Vorgesetzten zu verschleiern, wurden zwischen den betreffenden NVA-Angehörigen Abmachungen getroffen, wonach bei eventueller Aufdeckung strengstes Stillschweigen über die Vorfälle zu wahren sei.
Nicht an den Kontaktaufnahmen unmittelbar beteiligte NVA-Angehörige, die jedoch die Vorfälle beobachtet und geduldet hatten, wurden durch Korruption mittels Westzigaretten und anderen Westerzeugnissen zum Schweigen veranlasst. In anderen Fällen wurden sie mit solchen Hinweisen unter Druck gesetzt, dass im Falle einer Meldung den Vorgesetzten dann auch Kenntnis von Ausgangsüberschreitungen oder anderen Verfehlungen dieser an Kontakten nicht beteiligten NVA-Angehörigen gegeben werde.
Bei den durch Postenführer unterhaltenen Kontakten wurde festgestellt, dass von ihnen unter glaubwürdigen Gründen die Posten zu Sicherungsaufgaben ins Hinterland geschickt wurden. Während sich der Postenführer allein im Bereich der Grenzsicherungsanlagen befand und eine Beobachtung durch seinen Dienstpartner ausgeschlossen war, erfolgte dann durch ihn die Verbindungsaufnahme.
Posten, die voneinander über bestehende Kontakte wussten, vereinbarten Signale, die beim Auftauchen von Kontrollen angewandt werden sollten. (Pfeifsignale, Nachahmen eines Vogelrufes, Blinkzeichen usw.) Nach den entsprechenden Signalen sollten Kontaktgespräche sofort abgebrochen, angenommene und im Besitz der Posten befindliche Westgegenstände versteckt und eine vorschriftsmäßige Streifenkontrolle durchgeführt werden, um Beanstandungen durch die diensthabenden Kontrolloffiziere zu vermeiden.
Die Kontaktaufnahmen und länger währenden Verbindungen zu gegnerischen Kräften wurden u. a. durch Unzulänglichkeiten in den Grenzeinheiten und teilweise durch unkorrekte und labile Dienstdurchführung der Vorgesetzten noch begünstigt.
Im Wesentlichen wurden die Kontaktaufnahmen durch folgende Faktoren begünstigt:
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mangelhafte Teilnahme von Vorgesetzten am praktischen Grenzdienst und ungenügende Durchführung von Kontrollen, vor allem von gedeckten Kontrollen (Kontrollen werden nur in größeren Abständen durchgeführt, wobei sich die Streifenposten die Zeit des nächsten Kontrollganges errechnen können);
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Duldung von labiler Dienstdurchführung, ungenaues Einhalten der Dienstvorschriften (z. B. trennen sich die beiden Posten während ihres Dienstes, obwohl lt. Dienstordnung die Postenpaare ständig während der Dienstzeit zusammen bleiben müssen);
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oberflächliche Belehrung über die Dienstvorschriften vor Antritt des Postenganges, ungenügender Ernst und mangelhafte Disziplin während der Vergatterung (in Einzelfällen wird die Vergatterung überhaupt nicht vorgenommen);
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Unterlassung der Meldepflicht seitens verantwortlicher Kader über erfolgte Kontaktaufnahme und Unterschätzung der Gefährlichkeit der Verbindungsaufnahme durch NVA-Angehörige, teilweise auch durch Offiziere;
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oberflächliche Untersuchungen der Vorfälle nach Bekanntwerden erfolgter Kontaktaufnahmen;
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ungenügende Praxisverbundenheit der politischen Schulung, ungenügendes Eingehen auf solche die Einheit betreffenden Schwerpunkte (z. B. mangelhafte Klärung der Bedeutung von Kontaktaufnahmen).
Die Hauptursache der Verbindungsaufnahme sind politisch-ideologische Unklarheiten. Bei einem Teil der NVA-Angehörigen (Grenze) ist das Freund-Feind-Problem nicht klar, was seinen Ausdruck u. a. darin findet, dass verschiedene Soldaten (z. B. der 4. Kompanie, 44. GR) äußerten, sie würden nie eine Schusswaffe auf Grenzverletzer oder Angehörige der bewaffneten Kräfte Westdeutschlands oder Westberlins richten; das seien auch Deutsche und man könne von ihnen ruhig Zigaretten oder andere Gegenstände annehmen. (Einzelne Soldaten verweisen in der Diskussion über Freund-Feind auf ihre in Westberlin oder Westdeutschland lebenden Verwandten.)
Typisch für NVA-Angehörige, die Kontakte unterhielten, sind Äußerungen wie:
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Die Westberliner Polizeiangehörigen und die an der Grenze auftauchenden Zivilpersonen seien auch Deutsche; Geschenke von ihnen könne man aus Höflichkeit nicht ablehnen.
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Die lange Dienstzeit an der Grenze (mehrere Stunden hintereinander auf Grenzstreife) sei ohne Abwechslung zu anstrengend, ein Gespräch mit anderen Personen verkürze die Zeit.
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In Einzelfällen: Es sei gut, überall Freunde zu haben, man wisse nicht, wie man mit ihnen wieder einmal zusammentreffen könne.
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Man müsse sich nach zwei Seiten informieren, um zu einer eigenen Meinung zu gelangen.
In der Untersuchung der Kontaktaufnahmen erklärten die betreffenden NVA-Angehörigen, die bestehenden Befehle und Weisungen seien ihnen bekannt. Aus ihren Äußerungen war jedoch mehrfach zu erkennen, dass sie sich über die Schwere ihrer Handlungen nicht bewusst waren und versuchten, die Kontaktaufnahme zu bagatellisieren. Dabei war einem großen Teil der an Kontakten beteiligten NVA-Angehörigen die feindliche Rolle der Westberliner Polizei nicht klar.
Das labile und politisch unklare Verhalten bestimmter NVA-Angehöriger (Grenze) wird u. a. durch das Einwirken von NATO-Sendern11 noch genährt. Die Funktion der westlichen Rundfunksender als Zentrum der politisch-ideologischen Diversion12 ist einer Reihe von NVA-Angehörigen unklar. So gibt es eine Reihe von Beispielen, dass NVA-Angehörige (Grenze) mittels Kofferradio zum Teil gemeinsam in den Unterkünften oder während des Postenganges an der Grenze Sendungen westlicher Rundfunkstationen, besonders Musiksendungen und die »Schlager der Woche« hören.
In der 4. Kompanie, 44. GR, waren eine Anzahl Tonbänder, bespielt mit Musik von ausländischen und westdeutschen Sendern, vorhanden.
Dazu kommen in Einzelfällen Unlust zum Dienst und Unzufriedenheit, hervorgerufen durch Mängel und Schwächen in der Leitungstätigkeit der politischen und militärischen Führungskader. Wiederholt äußerten Grenzsoldaten der 4. Kompanie, 36. GR, 2. GBr., sie hätten die »Schnauze« voll und keine Lust mehr zum Grenzdienst. Der Grenzdienst sei zu hart, stundenlanges Herumlaufen an einem Grenzabschnitt sei »nicht zum Aushalten« und Freizeit werde nur in zu geringen Abständen gewährt. Unter einigen Soldaten war eine gewisse Opposition gegenüber den Vorgesetzten zu verzeichnen, wobei sich die Soldaten über den Umgangston ihrer Offiziere beklagten.
Unter Angehörigen der 2. Kompanie, 48. GR, 4. GBr., bestand starke Unzufriedenheit über mangelhafte sanitäre Einrichtungen und über eine unbefriedigende Unterkunft.
Von Soldaten vorgetragene Missfallensäußerungen werden häufig von Offizierskadern ungenügend oder erst nach längerem Drängen überprüft. Bei Bestätigung vorgebrachter Beschwerden wird nur schleppend oder ungenügend Abhilfe geschaffen, sodass das Vertrauensverhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften durch diese Vorfälle noch verschlechtert wird.
Weitere Ursachen der noch häufig bestehenden politisch-ideologischen Unklarheiten sind in einer oftmals noch unqualifiziert durchgeführten politischen Schulung zu suchen. Von den Vorgesetzten erfolgen zwar Belehrungen hinsichtlich des Verbots von Kontaktaufnahmen an der Grenze, diese werden jedoch sehr allgemein durchgeführt, wobei die Soldaten ungenügend auf die nach Kontakten möglicherweise eintretenden Folgen aufmerksam gemacht und die Verbote zur Verbindungsaufnahme ungenügend begründet werden.
Insgesamt muss eingeschätzt werden, dass die Ursachen der Handlungen dieser Grenzsoldaten im Wesentlichen in ihrem nicht gefestigten politischen Bewusstsein, in der nicht richtigen Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR gegenüber der Westdeutschlands und Westberlins und in dem Einfluss der politisch-ideologischen Diversion liegen.
Hinzu kommt die mangelnde politisch-ideologische Erziehungsarbeit durch die Vorgesetzten innerhalb der Grenzkompanien sowie eine oberflächliche, teilweise unsystematische Tätigkeit der Partei- und FDJ-Organisation.
Ein weiteres Moment für Kontaktaufnahmen liegt darin, dass die Angehörigen der NVA/Grenze daran interessiert waren, kostenlos in den Besitz von westlichen Genussmitteln und Esswaren zu kommen.
Alle angeführten Faktoren treffen – wenn auch in wesentlich geringerem Maße – für die Linieneinheiten an der Staatsgrenze West zu.
Zur Einschätzung der Kontaktaufnahmen wären u. a. nachstehend vorgeschlagene Maßnahmen zweckmäßig:
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Von den Kommandeuren, Partei- und Politorganen sowie der FDJ müsste den erfolgten und versuchten Kontaktaufnahmen eine stärkere Beachtung beigemessen werden. Diesen Verfehlungen müsste eine ständige Erziehung und eine gute politisch-ideologische Schulung entgegengesetzt werden. Dabei müsste die Rolle und der Charakter der Westberliner Polizei, des Zolls und der aufgeputschten Zivilpersonen als Provokateure besonders erläutert und die Freund-Feind-Frage überzeugend geklärt werden.
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Die Kontroll- und Führungstätigkeit durch die Vorgesetzten, besonders durch die Gruppenführer, sollen unbedingt verbessert werden. Die Gruppenführer sollten auch während des praktischen Grenzdienstes in ihrer Gruppe verbleiben, um einen ständigen Einfluss auf ihre Gruppe ausüben zu können.
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Es sollte eine ständige Überprüfung der Streifenwege und Standposten an gefährdeten Punkten entlang der Grenze erfolgen mit dem Ziel, bei maximaler Grenzsicherung je nach Lage Veränderungen im Einsatz von Grenzposten vornehmen und Kontaktaufnahmeversuchen des Gegners vorbeugen zu können.
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Einsatz besser ausgewählter, überprüfter und zuverlässiger Grenzsoldaten an den vordersten Punkten und besonders provokationsgefährdeter Stellen entlang der Staatsgrenze.