Zum Verlauf der Passierscheinerteilung an Westberliner, 10. Bericht
31. Dezember 1963
10. Bericht Nr. 814/63 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Über die Ausgabe von Anträgen und die Erteilung von Passierscheinen1 sowie über die Ein- und Ausreise Westberliner Bürger am 29. und 30.12. liegen bis jetzt folgende Angaben vor:
Am 30.12. wurden 192 397 Antragsformulare mit nach Westberlin genommen. Davon wurden am 30.12. 89 962 ausgegeben. Unbeschrieben zurückgebracht wurden 102 435. Insgesamt wurden vom 18.12. bis 30.12. 824 235 Antragsformulare ausgegeben.
Am 30.12. wurden 76 371 Anträge gestellt und genehmigt, auf denen 134 183 Personen und 16 205 Kfz erfasst sind.
Insgesamt wurden vom 18. bis 30.12. 577 487 Anträge gestellt und genehmigt, auf denen 1 115 213 Personen und 132 391 Kfz erfasst sind.
Das bedeutet, dass 246 748 Antragsformulare
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sich noch in Westberlin befinden,
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nach Aushändigung an Westberliner Bürger verlorengingen,
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verschrieben und vernichtet wurden oder für ungültig erklärt werden mussten.
Bis zum 30.12. wurden insgesamt 495 003 Passierscheine ausgegeben.
Seit dem 18.12. genehmigte Passierscheine (einschließlich 1 070 inzwischen verfallener Passierscheine) wurden noch nicht abgeholt: 6 113.
Am 31.12. sind neu genehmigte Passierscheine auszugeben: 76 371. Insgesamt: 577 487.
Nach den bisher ausgegebenen Passierscheinen ist in den folgenden Tagen mit folgender Einreise Westberliner Bürger zu rechnen:
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31.12.: 83 816 Personen mit 6 949 Kfz,
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1.1.: 111 798 [Personen mit] 13 971 [Kfz],
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2.1.: 53 585 [Personen mit] 5 231 [Kfz],
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2.1.: 54 542 [Personen mit] 5 394 [Kfz],
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3.1.: 63 317 [Personen mit] 6 351 [Kfz],
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4.1.: 205 684 [Personen mit] 24 336 [Kfz],
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5.1.: 204 052 [Personen mit] 25 544 [Kfz].2
Am 29.12. besuchten 155 226 Westberliner Bürger mit 16 634 Kfz das demokratische Berlin.3 Am 30.12. waren es 29 503 Westberliner Bürger mit 2 959 Kfz. Damit haben bisher insgesamt 442 644 Westberliner Bürger das demokratische Berlin besucht.
Trotz des starken Besucherstroms am 29.12. (höchste Einreisequote pro Stunde zwischen 9.00 und 10.00 Uhr 25 472 Personen mit 2 134 Kfz) verlief die Abfertigung an den KPP im Wesentlichen reibungslos.
An allen KPP war die Ausreise in der Zeit von 0.10 Uhr bis 1.00 Uhr im Wesentlichen abgeschlossen.
Während der Einreise in den Vormittagsstunden bildeten sich auf der Westberliner Seite größere Fahrzeugschlangen, sodass es ein Teil der Besucher vorzog, ohne Kfz in das demokratische Berlin einzureisen. Besucher gaben an, dass sie zum Teil auf Westberliner Seite bis zu zwei Stunden warten mussten. Die Abfertigung an unseren KPP erfolgte zügig und ohne Wartezeiten.
Die Ausreise begann am 29.12. früher als an den vorangegangenen Tagen und setzte bereits gegen 20.00 Uhr ein. Gegen 22.00 Uhr waren ca. 27 % der Personen und 37 % der Kfz ausgereist.4
Innerhalb des Stadtgebiets des demokratischen Berlin kam es am 29.12. zeitweilig zu Verkehrsstauungen, die eine Umleitung des Fahrzeugverkehrs erforderten. Die eingesetzten Kräfte der Verkehrspolizei reagierten gut auf diese Situation und waren in der Lage, die Stauungen innerhalb kurzer Zeit zu beseitigen.
Auch während der Ausreise war die Arbeit an den KPP so organisiert, dass es zu keinen Wartezeiten kam.
Am 29.12. sind im Verlauf des Tages zwei Personen, die auf Passierschein einreisten, verstorben. Es handelt sich um Adolf Hoffmann, geb. [Tag, Monat] 1894, wohnhaft Zehlendorf, und Otto Thiele, geb. [Tag, Monat] 1903, wohnhaft Spandau.
Die Ehefrau des Letzteren erhielt die Genehmigung, die Nacht im demokratischen Berlin zu verbringen.
Am KPP Sonnenallee wurde der DDR-Bürger [Vorname Name 1], geb. [Tag, Monat] 1945, wohnhaft Berlin-Weißensee, Lehrling im VEB Hochbau Lichtenberg, wegen Verdacht der Personenschleusung vorläufig festgenommen. [Name 1] befand sich im Pkw eines Westberliner Verwandten und konnte angeblich wegen des starken Fahrzeugverkehrs das Fahrzeug nicht vor Erreichung des KPP verlassen. Er war nicht im Fahrzeug versteckt.
Am KPP Invalidenstraße wurde der DDR-Bürger [Vorname Name 2], geb. [Tag, Monat] 1943, wohnhaft Berlin-Weißensee, Bauhilfsarbeiter, festgenommen, da er versuchte, in das Gebiet des KPP einzudringen und in Richtung Westberlin die Grenze zu überschreiten. [Name 2] war in angetrunkenem Zustand.
Im Verlauf des 29.12. wurden verschiedene Westberliner Bürger festgestellt, die ihren Tagespassierschein verloren hatten. Nach eingehender Überprüfung der Identität dieser Personen und nach genauer Kontrolle, ob auf ihren Schein bereits andere Personen ausgereist waren, wurde die Ausreise genehmigt.
Zahlreiche Westberliner Bürger machten von der Möglichkeit des Geldumtauschs Gebrauch. Die Beträge lagen zwischen 2,00 und 10,00 DM. Das Umtauschverhältnis5 wurde von den meisten ohne Kommentar akzeptiert. Teilweise wurde die Meinung vertreten, dass die DDR damit »ein Geschäft machen« wolle.
An der Wechselstelle am KPP Bahnhof Friedrichstraße trat der Mangel auf, dass sie nicht über genügend Kleingeld verfügte. Auch an den S-Bahnschaltern konnte nicht gewechselt werden. Einige Westberliner Bürger verkauften an Bürger der DDR Zigaretten, um in den Besitz von Kleingeld zu kommen.
Zahlreiche Westberliner Bürger suchten an den KPP nach Auskunftspersonen, um sich über die günstigsten Fahrverbindungen zu informieren.
Mängel bei der Beförderung von Westberliner Bürgern von den KPP in das demokratische Berlin durch die BVG traten insofern auf, als ihnen Beförderungsbedingungen, wie beispielsweise der ZZ-Betrieb,6 unbekannt waren. Aus Mangel an Kleingeld konnten sie in den Mittelwagen häufig das Fahrgeld nicht entrichten.
Am KPP Chausseestraße wurde festgestellt, dass die eingesetzten Taxen zu spät eintrafen.
Nach dem Passieren der Kontrollpunkte brachten Westberliner Besucher mehrfach ihr Lob über die schnelle Abfertigung zum Ausdruck. Sie wiesen auf den Gegensatz zu den langen Wartezeiten in Westberlin hin und gaben vielfach dem Senat daran die Schuld.
Die Passierscheinstellen wurden auch am 30.12. vorfristig zwischen 12.30 Uhr und 12.45 Uhr geöffnet (Steglitz, Schöneberg und Wilmersdorf noch früher) und pünktlich 18.00 Uhr geschlossen.
Es herrschte allgemein ein geringerer Andrang als an den Vortagen. Es kam kaum zu Schlangenbildungen. Die Wartezeit in Steglitz beispielsweise betrug in der letzten Stunde der Öffnungszeit nur noch fünf Minuten. Andere Ausgabestellen waren z. T. nicht mehr voll ausgelastet.
Im organisatorischen Ablauf und in der guten Arbeit der Postangestellten7 der DDR gab es keine Veränderungen.
Die Abholung von Anträgen bzw. Passierscheinen durch Vertreter der Großbetriebe hatte wieder größeren Umfang (1 500 beispielsweise in Wedding, 200 für die Westberliner Post in Reinickendorf, 300 für die BVG Schöneberg). Aus einer Meldung geht hervor, dass der BGL-Vorsitzende des RAW Tempelhof es abgelehnt habe, sich um die Beschaffung von Passierscheinen zu kümmern.
In mehreren Aufgabestellen wurde von Antragstellern und auch von Westberliner Polizeiangehörigen gefragt, ob das Passierscheinabkommen über den 5.1.1964 hinaus verlängert wird, zum Teil unter Berufung auf westliche Rundfunkmeldungen. In Wedding wollten einige Westberliner Bürger bereits Anträge für den 7.1. und später abgeben. Sie beriefen sich auf Meldungen des RIAS. Die Postangestellten der DDR verwiesen in allen Fällen auf die bisher bekannten Vereinbarungen.
Der RIAS griff auch am 30.12. wieder mit desorientierenden Meldungen in die Tätigkeit der Ausgabestellen ein und verbreitete, in Spandau seien die Abfertigungskapazitäten nicht ausgelastet. Es tauchten bereits am 30.12. zahlreiche Bürger aus anderen Bezirken in dieser Ausgabestelle auf, und es wird eingeschätzt, dass es am 31.12. noch mehr sein werden.
Während in der Mehrzahl der Ausgabestellen die Hilfe durch die Westberliner Seite am 30.12. zufriedenstellend war, meldete Kreuzberg ein weiteres Nachlassen der Unterstützung durch die Westberliner Hilfskräfte. Sie verzögerten die Eröffnung der Ausgabestellen und das Ein- und Ausschleusen in den Abfertigungsraum besonders bei der Abholung der Passierscheine. Die als Helfer in Kreuzberg eingesetzten Schüler arbeiteten ebenfalls mangelhaft. So wurden beispielsweise die Antragsteller dahingehend informiert, dass auf einem Antrag die Einreise für drei bis vier verschiedene Tage beantragt werden könne. Ebenso wurde wiederholt für jede einzelne Person einer Familie ein gesonderter Antrag ausgestellt. Von der Westberliner Seite wurde zugesagt, diese Mängel schnellstens zu beheben.
In Schöneberg verbreitete auch am 30.12. die Westberliner Polizei wieder die Meldung, dass rote Antragsformulare am 30.12. ihre Gültigkeit verlieren würden. Es wurde Einfluss darauf genommen klarzustellen, dass alle Westberliner Bürger abgefertigt werden, die noch im Besitz derartiger Anträge sind.
In Tempelhof wurde von dem Westberliner Postangestellten Dr. [Name 3] mehrfach versucht, hinter die Schaltertische zu gelangen und Einblick in die Unterlagen zu bekommen. Er wurde energisch zurückgewiesen und entschuldigte sich dann selbst für sein Verhalten.
Mit provokatorischen Äußerungen gegenüber den DDR-Angestellten trat am 30.12. der verantwortliche Offizier für die Außenabsicherung der Ausgabestelle Kreuzberg der Westberliner Polizei auf, der bereits durch unangemessenes Verhalten gegenüber der Westberliner Bevölkerung bekannt geworden war. Von dem Verantwortlichen des Senats in der Ausgabestelle wurde schnelle Klärung und Abhilfe verlangt.
In mehreren Passierscheinstellen wurden am 30.12. in den Klassenräumen, in denen die Wartenden untergebracht sind, Hetzplakate festgestellt (in Charlottenburg eine Deutschlandkarte unter Angabe der Grenzen der DDR, der Bundesrepublik und Westberlins mit der Aufschrift »Niemals«; in Spandau Plakate mit dem Brandenburger Tor und der Losung »Mach das Tor auf«).
Bestechungs- und Korrumpierungsversuche wurden am 30.12. gegenüber den DDR-Angestellten nicht unternommen. Es häuften sich aufgrund des geringeren Arbeitsanfalls Kontaktversuche vonseiten der Westberliner Hilfskräfte.
Der Leiter des Postamtes 65 aus dem Bezirk Wedding versuchte, den Leiter der Gruppe der DDR-Angestellten in ein Gespräch zu verwickeln, was aber zurückgewiesen wurde. Auch in Zehlendorf und Steglitz wurden unsere Angestellten auf technische Einzelfragen ihrer Tätigkeit bei der Post angesprochen. Alle Fragen wurden unter Hinweis auf die in den Ausgabestellen zu leistende Arbeit zurückgewiesen.
Einen Kontaktversuch unternahm der Senatsfahrer des Kuriers für Wedding. Er erbat propagandistisches Material, erklärte, im KZ gewesen zu sein und äußerte sich negativ über die politischen Zustände in Westberlin. Der Kurier gab keinerlei Auskunft.
Westliche Pressevertreter hielten sich am 30.12. nicht in den Passierscheinstellen auf. Einige Personen, die im Abfertigungsraum in Neukölln fotografierten, wurden von der Westberliner Polizei (im Falle eines amerikanischen Reporters nach Einspruch der DDR-Angestellten) aus dem Raum verwiesen.
Über die sogenannte Beratungsstelle8 des Westberliner Senats am Fehrbelliner Platz berichtete ein Westberliner Bürger, Republikflüchtigen wurde erklärt, dass kein Inhaber eines Passierscheins im demokratischen Berlin inhaftiert würde. Sie sollten sich allerdings nicht an Menschenansammlungen beteiligen und Zusammentreffen mit Polizisten oder SED-Mitgliedern vermeiden.
In der Passierscheinstelle Neukölln wurde am 28.12. festgestellt, dass einige Personen gehortete Antragsformulare unter den Augen der Westberliner Polizei für 25,00 DM verkauften. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen wartenden Westberliner Bürgern und einem gewissen [Vorname Name 4] (Berlin 36, [Straße]), der von der Polizei für kurze Zeit festgenommen, aber dann wieder freigelassen wurde. Ein ähnlicher Fall wurde von der Ausgabestelle Kreuzberg bekannt. Hier handelte es sich um [Vorname Name 5] (Berlin 61, [Straße, Nr.]). Auf Beschwerden der Wartenden reagierten die anwesenden Polizisten mit Beleidigungen der DDR-Angestellten, die angeblich dafür verantwortlich wären.
Über die Entwicklung des illegalen Kurses in den Westberliner Wechselstuben wurden folgende Angaben bekannt: Er wurde am 27.12. wieder auf 1,00 Westmark = 3,00 DM/DNB festgesetzt, nachdem er in den Tagen vorher auf 1,00 = 2,9 bzw. 1,00 = 2,8 abgesunken war. Es wird gefolgert, dass illegal DM/DNB nach Westberlin transferiert wurden.
Die Stimmung unter der Westberliner Bevölkerung im Zusammenhang mit der Passierscheinerteilung wird allgemein als nach wie vor positiv eingeschätzt. Mehrfach wurden aus der Westberliner Bevölkerung Befürchtungen laut, dass zum Jahreswechsel von Westberliner Seite aus provokatorische Handlungen geplant seien, die die Atmosphäre vergiften und die DDR dazu veranlassen könnten, ihre Grenzen zu schließen. Der offiziellen Unterstützung der Passierscheinregelung durch den Senat sei nicht zu trauen. Insgeheim würden durch gelenkte Kräfte Störaktionen organisiert.
Westberliner Bürger äußerten deshalb, am Silvester-Abend schon zeitig vom Besuch im demokratischen Berlin zurückkehren zu wollen.9
Zur Grenzprovokation am 25.12.10 äußerten Westberliner Besucher am KPP Invalidenstraße am 29.12., durch solche »Unbelehrbaren« dürfe die Passierscheinregelung nicht gefährdet werden. Ähnliche Äußerungen wurden auch von anderen Westberliner Bürgern bekannt.
In den Stimmungsberichten aus der Westberliner Bevölkerung tritt immer mehr die Hoffnung auf weitere Vereinbarungen in der Passierscheinfrage in den Vordergrund. Die »warnenden« Hetzkommentare in Westberliner Blättern werden allgemein verurteilt.
Im Zusammenhang mit den Meldungen über die weitere Verhandlungsbereitschaft beider Seiten äußerten Westberliner Bürger, die Regelung müsse so verändert werden, dass sich die Wartezeiten an den Ausgabestellen vermindern.
Von einigen Westberliner Bürgern wurden bereits Gerüchte über künftige technische Regelungen verbreitet, denen gemeinsam ist, dass Passierscheine künftig bezahlt werden müssten (eine DM für einen möglichen Verwandtenbesuch im Monat; Dauerpassierscheine für zwölf Besuche zu 25,00 DM).
Im Grenzgebiet des demokratischen Berlin fanden auch am 29.12. wieder mehrfach Familienzusammenkünfte in Klubhäusern und Gaststätten statt. In Baumschulenweg (Heidekampweg) kam es zur Missstimmung, da Angehörige der VP Westberliner Bürger aus den Wohnungen herausbaten, in die sie ohne Kontrolle gelangt waren.