Zum Verlauf der Passierscheinerteilung an Westberliner, 5. Bericht
[ohne Datum]
5. Bericht Nr. 792/63 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Wie aufgrund der bisher ausgegebenen Passierscheine1 an Westberliner Bürger bereits feststand, besuchte am Sonntag, dem 22.12.1963, die bisher größte Zahl Westberliner Bürger die Hauptstadt der DDR.
Es reisten 23 686 Westberliner Bürger mit 3 046 Kfz über die KPP
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Bahnhof Friedrichstraße (2 587 Personen),
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Chausseestraße (5 456 Personen, 923 Kfz),
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Invalidenstraße (5 128 Personen, 603 Kfz),
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Sonnenallee (5 802 Personen, 1 520 Kfz),
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Oberbaumbrücke (4 713 Personen)
ins demokratische Berlin2 ein.
(Damit besuchten bisher insgesamt 33 423 Westberliner mit Passierscheinen das demokratische Berlin.)
Trotz der großen Zahl der an den KPP abzufertigenden Besucher verliefen die Einreisen zügig und ordnungsgemäß ohne alle Zwischenfälle.
Die Spitzenzeiten der Einreise lagen zwischen 8.00 und 10.00 Uhr, in dieser Zeit passierte fast die Hälfte aller am 22.12.1963 einreisenden Westberliner Bürger die KPP in Richtung demokratisches Berlin.
Die lediglich in dieser Zeit auftretenden kurzen Wartezeiten schwankten zwischen fünf und 15 Minuten. Am KPP Sonnenallee, der den größten Andrang zu bewältigen hatte, betrugen sie zeitweise 20 bis 25 Minuten.
Eine noch größere Konzentrierung auf zwei Stunden (22.00 bis nach 24.00 Uhr) gab es bei der Ausreise.
Durch eine Verstärkung der Kontrollkräfte an den KPP und durch die exakte Arbeit aller eingesetzten Kräfte konnte jedoch auch die Ausreise reibungslos abgewickelt und Wartezeiten über 15 Minuten vermieden werden.
In Anbetracht der großen Zahl der abzufertigenden Westberliner Bürger, der Konzentrierung auf die genannten Schwerpunktzeiten und der Gewährleistung der notwendigen Kontrolle müssen diese kurzen Wartezeiten als durchaus normal eingeschätzt werden.
Bei der Ausreise benutzten einige Westberliner Bürger anstelle des für sie vorgesehenen KPP Chausseestraße den KPP Invalidenstraße, was aufgrund des Andranges und im Interesse einer schnellen Abwicklung von den Kontrollkräften als einmalige3 Ausnahme akzeptiert wurde.
Der übrige Reiseverkehr erreichte am 22.12.1963 mit insgesamt 16 760 Personen (normaler Tagesdurchschnitt 9 000 bis 10 000 Personen) ca. 33 % des Reiseverkehrs mit Passierscheinen.
Es reisten 1 482 Ausländer ein, 1 712 aus (408 Kfz), 7 631 Westdeutsche ein, 5 102 aus (1 556 Kfz), 390 Westberliner ein, 443 aus (120 Kfz).
Die meisten Ausländer kamen aus den USA (68), Italien (56), Österreich (53) und 49 waren im Ausland lebende Westdeutsche.4
Besondere Vorkommnisse mit den Westberliner Bürgern, von denen ein beträchtlicher Teil zusammen mit Bürgern des demokratischen Berlin den Weihnachtsmarkt und die Geschäftsstraßen besuchte, wurden nicht festgestellt.
Gegen 9.00 Uhr erschienen am KPP Invalidenstraße zwei Angehörige des Westzolls am weißen Strich und erkundigten sich, wie sie die Abfertigung unterstützen könnten. Sie erboten sich, über Lautsprecher bestimmte Aufforderungen an die Westberliner Bürger durchzugeben. Den Westzöllnern wurde freigestellt, mit Pkw einreisende Westberliner Bürger aufzufordern, ihren Passierschein bereitzuhalten und festgestellte Fehler bei Beginn der Kontrolle anzugeben.
Gegen 17.00 Uhr erschienen am KPP Bahnhof Friedrichstraße zwei Kameraleute der BBC und wollten den grenzüberschreitenden Verkehr der Westberliner Bürger filmen, was ihnen aber untersagt wurde.
Ebenfalls am Bahnhof Friedrichstraße wollte ein Reporter aus den USA an der Einreise-U-Bahn für Westberliner Bürger Auskunft über die Kapazität der einreisenden Westberliner haben. Dabei teilte er mit, dass die Westzöllner die einreisenden Personen zählen und er von ihnen darüber Auskunft erhalten habe.
Aus Westberlin, wo die Passierscheinstellen am 22.12.1963 geschlossen waren, wurden dem MfS folgende Hinweise bekannt:
Von Westberliner Bankinstitutionen wurden in verstärktem Maße DM der Deutschen Notenbank5 zum Schwindelkurs angeboten und eine ganze Anzahl Westberliner Bürger hat von diesem Angebot Gebrauch gemacht.
Senator Albertz6 hat am Sonnabend, dem 21.12.1963, abends eine Anordnung über das Verfahren bei der Abfertigung in den zwölf Westberliner Passierscheinstellen erlassen, die am Montag früh in Kraft treten soll. Danach werden in den Ausgabestellen an Antragsteller verschiedenfarbige und mit Ordnungszahlen versehene Kontrollkarten ausgegeben, die entsprechend der jeweiligen Farbe zur bevorzugten Abfertigung in bestimmten Zeiträumen dienen sollen.
Ebenfalls sollen Körperbehinderte mit amtlichem Ausweis, werdende Mütter und Mütter mit Kleinkindern bevorzugt, noch vor den Kontrollkarteninhabern, abgefertigt werden. Die Nummerngruppen der auszugebenden Passierscheine sollen über Lautsprecher vor den Passierscheinstellen bekannt gegeben werden.
Westberliner, die bis Schließung der Passierscheinstellen ihren Passierschein noch nicht erhalten konnten, sollen mit Tagesstempel versehene Kontrollmarken der Landespostdirektion erhalten, mit denen sie am nächsten Tag bevorzugt Passierscheine erhalten können.
Neben diesen offiziellen Maßnahmen gibt es immer deutlichere Anzeichen (z. B. am 21.12.1963 wiederholt und verstärkt) der Beeinflussungs- und Bestechungsversuche gegenüber unseren Postangestellten. Zum Beispiel häuft sich das Anbieten von Genussmitteln, wurden Westzeitungen mit verleumderischem Inhalt ausgelegt und wird versucht, einen »vertraulichen« Umgang mit unseren Postangestellten zu erreichen. Mitunter gleichen diese Bestrebungen regelrechten Tests, ohne mit der Passierscheinausgabe in Zusammenhang zu stehen.