Zum Verlauf der Passierscheinerteilung an Westberliner, 8. Bericht
28. Dezember 1963
8. Bericht Nr. 806/63 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Über die Erteilung von Anträgen und die Ausgabe von Passierscheinen1 sowie über die Ein- und Ausreise Westberliner Bürger am 27.12. liegen bis jetzt folgende Angaben vor:
Am 27.12. wurden 163 757 Antragsformulare mit nach Westberlin genommen. Davon wurden am 27.12. 127 112 ausgegeben. Unbeschrieben zurückgebracht wurden 36 645. Insgesamt wurden vom 18.12. bis 27.12. 659 025 Antragsformulare ausgegeben.
Am 27.12. wurden 88 087Anträge gestellt und genehmigt, auf denen 164 387 Personen und 20 106 Kfz erfasst sind. Insgesamt wurden vom 18. bis 27.12. 423 101Anträge gestellt, auf denen 838 015 Personen und 98 949 Kfz erfasst sind.
Das bedeutet, dass 235 924 Antragsformulare
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sich noch in Westberlin befinden,
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nach Aushändigung an Westberliner Bürger verlorengingen,
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verschrieben oder vernichtet wurden oder für ungültig erklärt werden mussten.
Bis zum 27.12. wurden insgesamt 328 807 Passierscheine ausgegeben.
Seit dem 18.12. genehmigte Passierscheine (einschließlich 716 inzwischen verfallener Passierscheine) wurden noch nicht abgeholt: 6 207.
Am 28.12. sind neu genehmigte Passierscheine auszugeben: 88 087. Insgesamt: 423 101.
Nach den bisher ausgegebenen bzw. heute noch auszugebenden Passierscheinen ist am 28. und 29.12. mit folgenden Einreisen Westberliner Bürger zu rechnen:
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28.12.: 71 423 Personen, 8 632 Kfz,
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29.12.: 158 210 Personen, 20 353 Kfz.
Vorbehaltlich einer Erhöhung durch die Antragstellung am 28.12. sind für den 30.12. 31 853 Personen zu erwarten.
Am 27.12. besuchten insgesamt 23 614 Westberliner Bürger mit 2 618 Kfz das demokratische Berlin.2 Damit haben bisher insgesamt 187 258 Westberliner Bürger mit Passierscheinen die Hauptstadt der DDR besucht.
Es kam an den KPP am 27.12. zu keinen Stauungen und Wartezeiten. Die höchste Einreisezahl mit 5 833 pro Stunde lag zwischen 10.00 und 11.00 Uhr. Der Schwerpunkt der Ausreise (ca. 70 %) lag zwischen 22.00 und 1.00 Uhr.
Am KPP Oberbaumbrücke passierte eine Westberliner Bürgerin mit Genehmigung die Staatsgrenze auf einen Passierschein für den 28.12. wegen Todesfalles ihres Vaters.
Westberliner Zöllner versuchten, am 27.12. an der Staatsgrenze Angehörige der Grenzsicherungsorgane der DDR unter Bezugnahme auf den Grenzdurchbruch am 25.12.3 mit der Bemerkung zu provozieren, das nächste Mal werde von ihrer Seite aus geschossen.
Die Mehrzahl der Passierscheinstellen in den Westberliner Bezirken wurde am 27.12. wiederum vorzeitig zwischen 12.30 und 13.00 Uhr geöffnet und pünktlich geschlossen (Schöneberg und Kreuzberg 18.15 Uhr).
Allgemein herrschte verstärkter Andrang. Teilweise warteten ca. 2 000 bis 4 000 Personen bereits vor der Eröffnung an den Ausgabestellen. Es kam zu Schlangenbildungen auf der Straße, die nach und nach beseitigt werden konnten.
Der organisatorische Ablauf war im Wesentlichen unverändert. Von der Westberliner Seite wurden wiederum Kontrollmarken zur Regulierung der Abfertigung ausgegeben.
Aufgrund der Proteste der DDR-Vertreter in den Besprechungen mit der Westberliner Seite wurden am 27.12. wieder Westberliner Begleitfahrzeuge für die Kuriere eingesetzt. Teilweise fuhren sie mit Blaulicht.
An Vertreter der Großbetriebe wurden in verstärktem Umfang Anträge ausgegeben (Siemens beispielsweise 2 000, daneben Post und Reichsbahn).
Offizielle Westberliner Vertreter hielten sich in den Ausgabestellen Wedding (Bezirksbürgermeister), Tempelhof (Bezirksbürgermeister) und Kreuzberg (Leiter der Polizeiinspektion) auf. Der Bezirksbürgermeister von Tempelhof äußerte sich anerkennend über die Arbeit der Postangestellten4 der DDR und erklärte, dass er ebenfalls die Hauptstadt der DDR besuchen wolle.
Der Bezirksbürgermeister von Wedding erschien dreimal in der Passierscheinstelle mit der Forderung nach genauen Zahlenangaben, der nicht stattgegeben wurde und die er damit begründete, dass Wedding, nach den Feststellungen der Westberliner Hilfskräfte, die geringste Abfertigungsquote habe. Es wird eingeschätzt, dass die Westberliner Hilfskräfte bei ihren Feststellungen Schwierigkeiten mit der Erfassung der Antragstellung durch Vertreter der Großbetriebe hatten.
Auch am 27.12. wurden wieder Beispiele für mangelhafte Arbeit der Westberliner Hilfskräfte in den Ausgabestellen bekannt. So mussten in Kreuzberg die DDR-Angestellten die Angestellten der Westberliner Post wiederholt auffordern, bei der Verteilung der Merkblätter zu helfen. In mehreren Ausgabestellen zeigte sich wachsende Unlust zur Arbeit sowohl bei den Westberliner Postangestellten als auch den Polizeiangehörigen. In Wilmersdorf äußerte der Kriminalbeamte [Name 1], dass er sehr unzufrieden sei, weil er nicht zu seiner eigentlichen Arbeit komme.
Es wiederholten sich auch die Versuche, die Abfertigung durch Falschmeldungen zu stören. Durch den Sonderdienst des RIAS wurde am 27.12. die desinformierende Meldung verbreitet, dass die Zahl der Antragsteller in Steglitz gering und eine schnelle Abfertigung möglich sei. Dadurch entstand in dieser Ausgabestelle ein besonders starker Andrang.
In Neukölln kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der für die Außenabsicherung verantwortlichen Schutzpolizei und den Angehörigen der Kriminalpolizei in der Ausgabestelle. Während der Hauptkommissar der Schutzpolizei [Name 2] versuchte, ein geregeltes Nachrücken der Wartenden zu verhindern und die Ausgabe von Anträgen abzustoppen, war der Verantwortliche der Kriminalpolizeiangehörigen um eine schnelle Abfertigung bemüht. Nach energischen Forderungen unseres Einsatzleiters wurden die notwendigen organisatorischen Maßnahmen durchgeführt.
Provokationen im Zusammenhang mit dem Grenzdurchbruch am 25.12. traten nicht auf. Nur in Schöneberg versuchte ein Jugendlicher, in der Ausgabestelle durch Kofferradio die »Gedenksendung« des RIAS für den erschossenen Grenzverletzer zu verbreiten. Von unseren Mitarbeitern wurden die Angehörigen des Senats und der Polizei aufgefordert, diese Provokation sofort zu unterbinden. Sie kamen dieser Aufforderung nach und entschuldigten sich bei dem Leiter der Gruppe unserer Postangestellten.
Im Grenzgebiet angetroffene Westberliner Bürger folgten bereitwillig den Weisungen der Grenzsicherungskräfte oder des VP-Abschnittsbevollmächtigten. Es wurden einzelne Fälle gemeldet, in denen Clubräume für Familientreffen benutzt wurden.5
Ein besonderer Vorfall ereignete sich in der Passierscheinstelle Tiergarten. Bei der Abholung eines Passierscheines zerriss ein Westberliner Bürger sein SPD-Mitgliedsbuch, legte es auf den Abfertigungstisch und erklärte sinngemäß, nach einem Besuch in der Hauptstadt der DDR sei für ihn in der Partei von Willy Brandt6 kein Platz mehr. Unsere Postangestellten sollten das zerrissene Mitgliedsbuch mit dieser Erklärung dem Genossen Walter Ulbricht7 übermitteln. Der Leiter der Ausgabestelle übergab das Buch, nachdem der Westberliner Bürger den Raum sofort wieder verlassen hatte, einem Angehörigen der Westberliner Kriminalpolizei, da die Postangestellten der DDR es nicht entgegennehmen könnten.
Aus dem demokratischen Berlin wurden, besonders in der Zeit der Weihnachtsfeiertage, weitere Fälle gemeldet, in denen Westberliner Bürger das Grenzgebiet zu betreten versuchten. Bürger des demokratischen Berlin brachten wiederum Unklarheiten in dieser Frage zum Ausdruck bzw. äußerten sich negativ über die bestehenden Anordnungen. Es wurde gefordert, die Anordnungen durch Presse und Funk stärker bekanntzumachen.
Im Grenzgebiet angetroffene Westberliner Bürger folgten bereitwillig den Weisungen der Grenzsicherungskräfte oder des VP-Abschnittsbevollmächtigten. Es wurden einzelne Fälle gemeldet, in denen Clubräume für Familientreffen benutzt wurden. In anderen Fällen wurde festgestellt, dass sich die Westberliner Bürger zu anderen Verwandten außerhalb des Grenzgebietes begaben. Es wurden keine Zwischenfälle oder Provokationen in diesem Zusammenhang bekannt.