12. Bericht zum Verlauf der Passierscheinerteilung
3. Januar 1964
12. Bericht Nr. 4/64 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Am 2.1.1964 wurden mit nach Westberlin genommen: 138 209 Antragsformulare1. Davon wurden am 2.1.1964 ausgegeben: 58 119 Antragsformulare. Unbeschrieben zurückgebracht wurden 80 090 Antragsformulare. Insgesamt wurden vom 18.12.[1963] bis 2.1.1964 ausgegeben: 928 580 Antragsformulare.
[Tabelle 1: Gestellte Anträge][Zeitraum] | [Anzahl Anträge] | auf denen erfasst sind [Personen] | [auf denen erfasst sind: Kfz] |
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Am 2.1. wurden Anträge gestellt und genehmigt | 55 999 | 93 818 | 12 044 |
Insgesamt wurden vom 18.12. bis 2.1. Anträge gestellt und genehmigt | 676 558 | 1 282 506 | 152 933 |
Das bedeutet, dass 252 022 Antragsformulare
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sich noch in Westberlin befinden,
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nach Aushändigung an Westberliner Bürger verloren gingen,
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verschrieben oder vernichtet wurden oder für ungültig erklärt werden mussten.
[Zeitraum] | [Anzahl] |
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Bis zum 2.1. wurden insgesamt Passierscheine ausgegeben | 616 059 |
Seit dem 18.12. genehmigte Passierscheine (einschl. 1 918 inzwischen verfallener Passierscheine) wurden noch nicht abgeholt | 4 500 |
Am 3.1. sind neu genehmigte Passierscheine auszugeben | 55 999 |
Insgesamt | 676 558 |
Nach den bisher ausgegebenen Passierscheinen ist in den nächsten Tagen mit folgender Einreise Westberliner Bürger zu rechnen:
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3.1. = 65 393 Personen mit 6 639 Kfz,
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4.1. = 243 686 Personen mit 29 176 Kfz,
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5.1. = 257 792 Personen mit 32 460 Kfz.
Am 2.1. reisten in das demokratische Berlin ein: 46 437 Westberliner Bürger mit 3 967 Kfz. Damit haben seit dem 20.12.1963 bisher insgesamt 663 448 Westberliner Bürger das demokratische Berlin besucht. Die Ein- und Ausreise erfolgte auch am 2.1. zügig und reibungslos.
Insgesamt machten 9 506 Westberliner Bürger, die im Besitz von Passierscheinen für den 31.12.1963 und den 1.1.1964 waren, von der Regelung Gebrauch, erst am 1.1. wieder auszureisen. Zum Teil legten sie allerdings ihre Passierscheine für den 1.1. bei der Einreise am 31.12. nicht vor.
Am 2.1. wurde ein DDR-Bürger (Unterwachtmeister der Feuerwehr) wegen Verdachts des illegalen Verlassens der DDR unter Ausnutzung der Ausreise Westberliner Bürger festgenommen.
Am 1.1. wurden eine Westberliner Bürgerin und zwei Westberliner Bürger wegen Verdachts der erfolgten Schleusung von DDR-Bürgern nach Westberlin unter Benutzung ihrer Tagespassierscheine festgenommen. Wegen Haftunfähigkeit, verbunden mit akuter Lebensgefahr, wurde die Westberliner Bürgerin dem Westberliner DRK übergeben. Die Überprüfungen in den genannten Fällen sind noch nicht abgeschlossen.
Die meisten Passierscheinstellen wurden am 2.1. wiederum zwischen 12.30 und 12.45 Uhr geöffnet (Schöneberg bereits 12.00 Uhr, Spandau 13.00 Uhr.) Es wurde pünktlich geschlossen. Der Andrang bei Eröffnung der Ausgabestellen war unterschiedlich (Neukölln und Charlottenburg 2 000 bis 3 000 wartende Westberliner Bürger, Tiergarten und Tempelhof 300 bis 400). Die Abfertigung verlief reibungslos und es gab keine besonderen Schwierigkeiten. Vorübergehend kam es gegen 14.00 Uhr in Steglitz zu einem stärkeren Andrang mit 2 500 bis 3 000 Wartenden.
Nur in einigen Passierscheinstellen traten wieder Vertreter der Großbetriebe als Sammelabholer auf (für die AEG in Wedding 1 000 Passierscheine; für die Reichsbahn in Zehlendorf, für BVG und BEWAG in Schöneberg). In Wilmersdorf wurde am 2.1. eine verhältnismäßig hohe Zahl von Anträgen durch Senatsangestellte, Professoren und Pfarrer gestellt.
Im verstärkten Umfang versuchten in allen Ausgabestellen Westberliner Bürger, Anträge für Besuche im Randgebiet des demokratischen Berlin zu stellen. Einige beriefen sich dabei auf Meldungen des RIAS, nach denen Besuche im Randgebiet angeblich möglich seien. Andere verbreiteten, ebenfalls unter Berufung auf den RIAS, die Auffassung, Besuche seien jetzt im gesamten Bereich des S-Bahnverkehrs erlaubt. Alle derartigen Anträge wurden unter Hinweis auf die offiziell bekannten Vereinbarungen zurückgewiesen.
In Wedding verlangte der Leiter der Ausgabestelle von den Verantwortlichen des Senats, über Lautsprecher die Bevölkerung aufzuklären, dass eine Einreise in die Randgebiete des demokratischen Berlin nicht möglich ist. Trotz anfänglicher Zusage wurde diese Durchsage abgelehnt.
Am 2.1. besuchte der Bezirksbürgermeister von Steglitz die Ausgabestelle. Gespräche mit den DDR-Angestellten führte er nicht. In der Ausgabestelle Wedding erschien der stellvertretende Bezirksbürgermeister.
In Schöneberg hielt sich gegen 14.00 Uhr eine Filmgruppe auf, die Aufnahmen von Antragstellern und auch von den DDR-Angestellten machte. Die Identität dieser Gruppe konnte nicht festgestellt werden. Mithilfe des Senatsverantwortlichen wurden die Filmaufnahmen unterbunden.
Die meisten Ausgabestellen berichteten über ein im Allgemeinen korrektes Verhalten der Westberliner Sicherungs- und Hilfskräfte. Folgende Beispiele weiterer Stör- oder Einmischungsversuche wurden bekannt, bei denen es sich zum größten Teil um mangelhafte Arbeit bei der Unterstützung der Abfertigung handelt.
In Steglitz entstanden zeitweilig Stauungen an den Abfertigungsschaltern, weil die Westberliner Polizeiangehörigen alle Wartenden in den Abfertigungsraum einließen. Nach Rücksprache mit dem Verantwortlichen der Polizeikräfte wurden die entsprechenden organisatorischen Maßnahmen getroffen, um die Stauungen zu beseitigen.
In Charlottenburg versuchte die Polizei, bereits gegen 17.20 Uhr keine Antragsteller mehr in die Ausgabestelle einzulassen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Ausgabe bis 17.45 Uhr gewährleistet ist. Alle Antragsteller konnten daraufhin abgefertigt werden.
Vom sogenannten Sonderdienst des RIAS2 wurden wiederum desorientierende Meldungen verbreitet. So wurde bekanntgegeben, dass in Kreuzberg die Kapazität nicht ausgelastet sei, sodass es in dieser Ausgabestelle zeitweise zu starkem Andrang kam und ca. 500 bis 600 Personen nicht mehr abgefertigt werden konnten.
In Reinickendorf gab es wiederholt Versuche von Hilfskräften, sich in den technischen Ablauf der Aktion einzuschalten. Sie versuchten hinter die Abfertigungstische zu gelangen, um angeblich die Besetzung der Ausgabeschalter zu verstärken. Alle derartigen Versuche wurden zurückgewiesen.
Um in den Besitz von Zahlenmaterial zu gelangen, gingen Angehörige der Westberliner Kriminalpolizei in der Ausgabestelle Wedding dazu über, Vertreter der Großbetriebe zu befragen, wie viele Anträge sie abgegeben haben bzw. noch abgeben wollen.
Für Versuche von Kontaktaufnahmen wurden am 2.1. weniger Beispiele bekannt. In Steglitz richtete ein Westberliner Polizeiangehöriger an einen DDR-Angestellten die provozierende Frage, ob er nicht einen Zwillingsbruder in Westberlin habe. Auch diese Methode einer Kontaktaufnahme wurde zurückgewiesen.
Die positive Stimmung der Westberliner Bürger an den Passierscheinstellen hielt auch am 2.1. an. In zahlreichen Fällen wurden unsere Postangestellten3 zum Neuen Jahr beglückwünscht, in mehreren Ausgabestellen wieder verstärkt mit dem Versuch verbunden, kleine Geschenke zu überreichen. In Spandau musste ein Antragsteller von der Westberliner Polizei aus dem Raum gewiesen werden, da er sich nicht davon abbringen lassen wollte, einen DDR-Angestellten entweder Geld oder ein Geschenk zu überreichen.
Im Vordergrund der Äußerungen Westberliner Bürger stehen Hoffnungen und Spekulationen auf künftige Regelungen in der Passierscheinfrage. An den KPP äußerten einige Westberliner Besucher, noch nie sei eine Neujahrsansprache Walter Ulbrichts4 in der Westberliner Bevölkerung so stark beachtet worden wie in diesem Jahr. Man habe zwar bereits konkrete Mitteilungen über eine Weiterführung der Passierscheinerteilung erwartet, sei aber trotzdem sehr erfreut über die Bekundung der weiteren Verhandlungsbereitschaft der DDR. Der Senat könne weitere Verhandlungen nicht ablehnen, auch nicht mit der Begründung, dass er die DDR nicht anerkennen wolle. Der positive Eindruck, den zahlreiche Westberliner vom demokratischen Berlin und der Verständigungsbereitschaft der DDR gewonnen hätten, müsse den Senat zu weiteren Verhandlungen bewegen. Zum Teil wurden derartige Äußerungen mit der Verbreitung von Gerüchten über angeblich bereits vereinbarte neue technische Regelungen verbunden, nach denen jetzt ständig zumindest ein Verwandtenbesuch im Monat möglich sei.
Ein Kurierbegleiter der Westberliner Kriminalpolizei berichtete unter Berufung auf angebliche Meldungen des Schweizer Rundfunks von dem Gerücht, Senat und Regierung der DDR hätten sich bereits darauf geeinigt, dass nach dem 5.1. in jeden Verwaltungsbezirk Westberlins zwei Postangestellte der DDR ständig Passierscheine ausgeben.
In den Passierscheinstellen verstärkten sich am 2.1. die Anfragen von Westberliner Bürgern, ob mit einer Weiterführung der Aktion zu rechnen sei bzw. ob es zu einer ständigen Regelung der Passierscheinfrage kommen werde. Es traten verbreitet Unklarheiten in dieser Frage auf. In zahlreichen Fällen wurde versucht, Anträge für die Tage nach dem 5.1. zu stellen. In Neukölln wurde festgestellt, dass Antragsteller unausgefüllte Anträge zurückhielten, weil sie vermuten, dass sie auch nach dem 5.1. noch Gültigkeit haben.