Äußerungen Bischof Mitzenheims zum Gespräch mit Ulbricht
15. August 1964
Einzelinformation Nr. 661/64 über Äußerungen des evangelischen Landesbischofs von Thüringen Mitzenheim zu einem geplanten Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht
Wie dem MfS aus zuverlässiger Quelle bekannt wurde, hat Landesbischof Mitzenheim1 nach der Mitteilung, dass der Vorsitzende des Staatsrates, Genosse Walter Ulbricht, am 18. August 1964 auf der Wartburg in Eisenach mit ihm ein Gespräch über Probleme und Möglichkeiten der Erhaltung des Friedens führen will, im internen Kreis seiner Kirchenleitung eine Beratung durchgeführt.2 Dabei brachte er zum Ausdruck, dass er mit der Politik der DDR zur Erhaltung des Friedens, mit dem Kampf gegen die Schaffung einer multilateralen Atomstreitmacht der NATO, mit der Forderung der DDR nach Anerkennung von zwei deutschen Staaten und den Konsequenzen auf kirchenpolitischem Gebiet und mit dem abgeschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR3 völlig einverstanden sei. Er sei daher auch bereit, mit dem Staatsratsvorsitzenden über solche Fragen zu sprechen und diese Politik mit seinen Möglichkeiten als evangelischer Landesbischof zu unterstützen.
Im weiteren Verlauf der Beratung erklärte Mitzenheim, dass zur Erringung des äußeren Friedens aber auch ein innerer Frieden notwendig sei. Dieser innere Frieden würde aber in der DDR durch eine Reihe von Fragen mitunter gestört. In diesem Zusammenhang nannte er besonders zwei Fragen, die von den Pfarrern ständig an ihn herangetragen würden:
- –
getrennte Familien im Grenzgebiet würden nicht die Möglichkeit haben zusammenzukommen;
- –
in der DDR lebende ältere Personen hätten zwar die Möglichkeit, mit einer bestimmten Altersgrenze nach Westdeutschland zu übersiedeln, ihnen würde jedoch, wenn sie nicht übersiedeln wollen, verweigert, ihre in Westdeutschland lebenden Kinder zu besuchen.
Landesbischof Mitzenhein erklärte weiter, die Tatsache, dass der Staatsratsvorsitzende mit ihm auf der Wartburg sprechen will, würde seiner Meinung nach dem Gespräch ein politisches Gewicht verleihen. Dabei gab er zu erkennen, entsprechend der Bedeutung des Gespräches etwas unsicher zu sein, weil er nicht im Konkreten weiß, welche Fragen der Staatsratsvorsitzende mit ihm besprechen will.
Da sich Mitzenheim in der Zeit vom 13.8. bis 17.8.1964 in Bautzen in Urlaub befindet, hat er seinen Stellvertreter, Oberkirchenrat Lotz,4 beauftragt, für ihn eine Konzeption für das Gespräch zu erarbeiten. Oberkirchenrat Lotz soll dazu versuchen, nähere Einzelheiten über die Vorstellungen des Staatsratsvorsitzenden in Erfahrung zu bringen.
Im Zusammenhang mit der Beratung über das geplante Gespräch verwies Landesbischof Mitzenheim auf die von ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt ergriffene Initiative, im Interesse der Erhaltung des Friedens anlässlich der 50-jährigen bzw. 25-jährigen Wiederkehr des Beginns der Weltkriege eine Kanzelabkündigung an die Geistlichen seiner Landeskirche herausgegeben zu haben, in der er sich u. a. für Verhandlungen, Entspannung, Verständigung, Abrüstung und einen atomwaffenfreien Raum in Mitteleuropa ausspricht und zugleich gegen eine deutsche Verfügungsgewalt über Massenvernichtungsmittel Stellung nimmt (siehe Anlage).5
Wie Mitzenheim weiter erklärte, sei er sich darüber im Klaren, dass er sich mit dieser Kanzelabkündigung offen zur Friedenspolitik der DDR bekannt habe und deshalb Anfeindungen anderer evangelischer Bischöfe besonders aus Westdeutschland ausgesetzt sein werde. Trotzdem hat er jedoch diese Kanzelabkündigung, die am Sonntag, den 16.8.1964 oder an einem der folgenden Sonntage in allen Kirchen der Landeskirche Thüringen verlesen wird, den anderen evangelischen Bischöfen der DDR zugesandt. Er beabsichtige weiterhin, diese Kanzelabkündigung auch an die westdeutschen evangelischen Bischöfe zu übersenden mit der Bitte, sich dieser Initiative anzuschließen.
Die Information, mit Ausnahme des Textes der Kanzelabkündigung, darf aus Gründen der Sicherheit der Quelle nicht publizistisch ausgewertet werden.
Anlage zur Information Nr. 661/64
Wort des Landesbischofs [Abschrift]
In Trauer und Scham gedenken wir Deutschen zwischen dem 2. August und dem 1. September der Zeit vor 50 und vor 25 Jahren, als von deutschem Boden aus die Weltkriege begannen, die so viel ungesetzliche Verluste in aller Welt zur Folge hatten. Es dürfte auch kaum eine deutsche Familie geben, in die diese beiden Kriege nicht schmerzliche Lücken gerissen hätten. Wir beugen uns unter das Gericht, das Gott mit dem Ausgang dieser Kriege über unser Volk gehalten hat.
Stellvertretend für unser Volk haben 1945 nach dem schrecklichen Vernichtungskrieg unsere evangelischen Kirchen ein Schuldbekenntnis abgelegt und öffentlich ausgesprochen, wie tief sie bereuen, nicht mehr getan zu haben, um den Beginn des Unheils zu wehren.6 Dieses Wort verpflichtet noch heute. Wir dürfen das Gedenken an den Beginn der Kriege nicht nur als Trauertag begehen. Sie mahnen alle deutschen Menschen, nach Kräften mit dafür zu sorgen, dass nicht wieder ein neuer Weltkrieg entsteht. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, wenn auch die Völker bemüht sind, durch internationale Organisationen und Absprachen Kriege zu verhindern.
Die Kirchen in Deutschland, aber auch der Weltkirchenrat,7 der Lutherische Weltbund8 und vor Kurzem die Prager Allchristliche Friedensversammlung9 haben die Christen und die Kirchen aufgerufen zum Gebet und zur Tat für den Frieden. Dieser Ruf darf nicht ungehört verhallen. Krieg ist im Zeitalter der Atombombe kein Mittel zur Lösung politischer Fragen. Vernunft und Menschlichkeit fordern Verhandeln, Entspannung, Verständigung, Abrüstung.
Insbesondere wir Deutschen, die wir schwer an der Blutschuld des letzten Vernichtungskrieges zu tragen haben, sind gerufen, für den Frieden durch Vertrauen und Verträge, für den atomwaffenfreien Raum in Mitteleuropa einzutreten. Wir wollen keine Verfügungsgewalt oder Mitverfügung über die unmenschlichen Massenvernichtungsmittel.
Lasset uns den Herrn anrufen um Frieden für die gequälte und gefährdete Menschheit. Der Herr, der Menschenherzen lenkt wie Wasserbäche, führe uns auf den Weg des Friedens. Wir vertrauen auf das Wort des Herrn, der da verheißen hat: Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch seinen Geist geschehen.
Landesbischof D. Mitzenheim
Das vorstehende Wort des Landesbischofes an die Gemeinden ist im Gottesdienst am 12. Sonntag nach Trinitatis, dem 16. August, oder an einem der folgenden Sonntage im August von der Kanzel zu verlesen.
Eisenach, den 6.8.1964