Äußerungen des Journalisten Stehle zu Gesprächen Wendt-Korber
16. Januar 1964
Einzelinformation Nr. 42/64 über Äußerungen des westdeutschen Journalisten Stehle zu den Gesprächen zwischen Staatssekretär Wendt und Senatsrat Korber im Zusammenhang mit der Rückgabe des an Brandt gerichteten Briefs des stellvertretenden Ministerpräsidenten Stoph
Von dem westdeutschen Journalisten Stehle,1 der Verbindungen zu Senatskreisen um Pressechef Bahr2 hat und bereits mehrfach im Auftrage dieser Kreise Kontaktmöglichkeiten zu DDR-Organen sondierte und Kontaktvorschläge unterbreitete, wurden einer zuverlässigen Quelle weitere Äußerungen zu den Gesprächen zwischen Staatssekretär Wendt3 und Senatsrat Korber4 übermittelt.5 Es geht wiederum um eine offenkundige Lancierung von Auffassungen der Kreise um Brandt6 und Bahr. Es kann allerdings nicht eingeschätzt werden, inwieweit es sich dabei um subjektive Auslegungen Stehles im Sinne seiner persönlichen Ambitionen und inwieweit es sich in jeder Beziehung um konkrete Aufträge Bahrs für eine Lancierung der folgenden Einzelheiten an die Organe der DDR handelt.
Stehle betonte besonders die angeblich ihm gegenüber von Bahr geäußerte Auffassung, in Kreisen des Westberliner Senats gebe es große Befürchtungen, dass die reaktionären Kreise in Bonn, die gegen weitere Verhandlungen zwischen dem Senat und der Regierung der DDR sind, nach neuen Anlässen für eine Störung der Verhandlungen suchen. Es seien erste Anzeichen festzustellen, dass die Bonner Regierung die Taktik verfolgt, den gegenwärtigen Schwebezustand in den Verhandlungen noch über Wochen hinzuziehen. Im Verlaufe dieser Zeit könnten die reaktionären Kräfte genügend Material gesammelt haben, um eine Kampagne mit dem Ziel zu beginnen, die Schuld am Scheitern weiterer Verhandlungen der DDR zuzuschieben.
Nach Auffassung der Kreise um Brandt säßen in der Bonner Regierung genügend Leute, die in der Vergangenheit umfangreiche Erfahrungen in der Sabotage von Verhandlungen im internationalen Maßstab gesammelt hätten. Dazu komme noch, dass Brandt zzt. mit der Übernahme der Funktion des SPD-Parteivorsitzenden fast völlig ausgelastet sei. Brandt habe sich während der Tagung der SPD-Führungsgremien in Westberlin ebenfalls scharfer Angriffe aus den Reihen seiner eigenen Partei erwehren müssen.
Stehle übermittelte in diesem Zusammenhang folgende Version der Rückgabe des an Brandt gerichteten Briefs7 von Willi Stoph.8 Während des Gesprächs zwischen Wendt und Korber am 3.1. habe Korber beim Vortrag einiger Punkte hinsichtlich der Auffassungen des Senats über eine Fortführung des Passierscheinabkommens9 als Gedächtnisstütze einen Zettel benutzt. Anschließend habe er Staatssekretär Wendt angeboten, diesen Zettel mitzunehmen. Wendt habe sich nur unter der ihm von Korber zugesicherten Bedingung dazu bereit erklärt, dass dieser Zettel nicht als offizielles Dokument angesehen wird. Während der Besprechung am 4.1. habe Korber eine Zurücknahme des Zettels abgelehnt, jedoch zugestimmt, dass Wendt ihn vor seinen Augen zerriss.
Am 4.1. habe Korber dem Senat Bericht erstattet und dabei auch die Angelegenheit mit dem Zettel erwähnt. Dadurch habe sie Aufnahme in den Bericht des Senats gefunden, der am 5.1. der Bonner Regierung übergeben wurde. In einer Debatte des Kabinetts habe Mende10 dann die Angelegenheit bewusst als »Vernichtung eines offiziellen Dokuments des Senats« und »Brüskierung des Westberliner Verhandlungspartners« ausgelegt. Als »Gegenmaßnahme« sei von der Bonner Regierung gefordert worden, die Angelegenheit zum Anlass für die Rückgabe des Korber am 3.1. übergebenen Briefs von Stoph an Brandt zu benutzen.11
Stehle betonte, diese Version in einem persönlichen Gespräch von Bahr erfahren zu haben. Angeblich hätten sich die Kräfte um Brandt entschieden dagegen gewehrt, den Brief von Stoph zurückzugeben. Brandt habe ernsthaft befürchtet, dass die Verhandlungen mit der DDR daran scheitern würden. Er habe zwar unter dem politischen und auch finanziellen Druck der Bonner Regierung den Brief zurückgeben lassen, zugleich aber eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um einen Abbruch der Verhandlungen zu verhindern.
Er habe mit Korber persönlich eine Erklärung abgestimmt, dass der Senat die Rückgabe des Briefes bedauere, dass die Rückgabe aber notwendig sei, weil Westberlin nicht politisch völlig frei handeln könne, und dass der Senat auf eine Weiterführung der Verhandlungen und auf Verständnis bei der Regierung der DDR hoffe. Weiterhin habe Brandt über Stehle der Regierung der DDR die Auffassung übermitteln lassen, dass die Rückgabe des Briefes nicht als Verhandlungsabbruch angesehen werden solle. Schließlich habe sich Brandt in einem Kommentar für den »Deutschlandfunk« bewusst pessimistisch über die Aussichten weiterer Verhandlungen mit der DDR geäußert, um mögliche Angriffe der Gegner des Berliner Abkommens im Falle eines Abbruchs weiterer Verhandlungen noch vor der Rückgabe des Briefes von sich abzulenken. Der Kommentar sei jedoch zurückgehalten und erst dann gesendet worden, als der Brief schon zurückgegeben war.
Die Rückgabe des Briefs durch Korber an Wendt sei am 10.1. unter vier Augen erfolgt. Wendt habe die Rückgabe des Briefs als eine »Katastrophe« bezeichnet und erklärt, dass durch die irrtümliche Auslegung der Angelegenheit mit dem Zettel eine völlig neue Situation entstanden sei. Er habe betont, er hätte die Angelegenheit für so unwichtig gehalten, dass er zwar den stellvertretenden Ministerpräsidenten Abusch12 persönlich darüber informiert, jedoch nicht einmal einen Aktenvermerk angefertigt habe.
Nach dem Gespräch am 10.1. sei vom Senat erneut ein umfassender Bericht angefertigt worden. Er sei sowohl der Bonner Regierung, als auch, durch Senator Schütz,13 Bundespräsident Lübke14 übermittelt worden.
Stehle betonte, Bahr habe ihm ausdrücklich aufgetragen, das »ernsthafte Interesse« des Senats an einer Fortführung der Verhandlungen mit der DDR zu bekunden. Das nächste Gespräch zwischen Wendt und Korber werde vom Senat intensiv vorbereitet. Korber werde mit Gegenangeboten auf das sogenannte Ministerialprogramm eingehen, das Wendt während des letzten Gesprächs unterbreitet habe. Korber werde sich im Auftrage des Senats mit zeitweiligen Zwischenlösungen in der Passierscheinfrage wie z. B. für dringende Familienanlässe einverstanden erklären, um den Weg von Verhandlungen mit der Regierung der DDR unter allen Umständen weiter offenzuhalten.
Bahr habe Stehle auch empfohlen, am 16.1. ein Gespräch mit dem Leiter der sogenannten Treuhandstelle für den Interzonenhandel15 Leopold16 zu führen und dabei vorzuführen, ob der Boykott der Leipziger Messe17 zumindest für Westberliner Kaufleute und Industrielle gelockert werden kann. Es solle geklärt werden, ob ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen Bundesregierung und Senat zu erwarten sind, wenn der Senat einer größeren Gruppe von Westberliner Interessenten die Möglichkeit zur Teilnahme an der Leipziger Frühjahrsmesse 1964 gibt. Weiterhin solle Stehle klären, ob die Bonner Regierung mit einem umfangreichen Kreditangebot an die Regierung der DDR herantreten kann, um die Atmosphäre der Verhandlungen aufzulockern und von den direkten Verhandlungen zwischen Senat und DDR abzulenken.
Stehle teilte abschließend mit, dass er am 18.2. in Genf mit dem polnischen Außenminister Rapacki18 ein Interview haben werde. Es gehe darum, die bekannten Vorschläge Rapackis in der westeuropäischen Öffentlichkeit wieder zu aktualisieren.19
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