Auftreten von Professor Havemann an der Humboldt-Universität
19. Februar 1964
Einzelinformation Nr. 124/64 über das Auftreten von Prof. Havemann und über einige damit zusammenhängende Vorgänge an der Humboldt-Universität
Dieser Bericht beinhaltet eine Reihe dem MfS bekannt gewordener Einzelheiten zur näheren Charakterisierung des Auftretens von Prof. Havemann1 (Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität und Leiter der Arbeitsstelle für Photochemie bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften) und über einige Auswirkungen seines Auftretens insbesondere an der Humboldt-Universität.
Seine allgemein und öffentlich vertretenen Auffassungen zur Revision der marxistisch-leninistischen Politik und Philosophie der Partei werden dabei als bekannt vorausgesetzt, sodass auf die Wiedergabe von Einzelheiten dieser Konzeption verzichtet wird.
Nach den vorliegenden Informationen ist einzuschätzen, dass Prof. Havemann seine Tätigkeit an der Humboldt-Universität im bedeutsamen Maße zur Propagierung seiner revisionistischen »Theorien« ausgenutzt hat, vor allem mit seinem Vorlesungszyklus (11 Themen).2 Offensichtlich hat er die Humboldt-Universität als die für geeignetste und erfolgversprechendste Basis für die Verwirklichung seiner damit verbundenen Absichten betrachtet. Dabei stützte er sich auf die ihm bekannten Verhältnisse besonders in der Universitäts-Parteileitung, die es ihm gestatteten, in verhältnismäßig kurzer Zeit einen größeren Kreis mit seinen Auffassungen bekannt zu machen.
Hier ist besonders hervorzuheben, dass zu den Vorlesungen von Prof. Havemann die Hörerzahl ständig anstieg. In dem Maße, wie er in seinen Vorlesungen immer deutlicher herausarbeitete, in welche Richtung er die politischen Verhältnisse in der DDR verändert sehen möchte, wuchs die Zahl derjenigen Hörer, die mit der Politik von Partei und Regierung nicht einverstanden sind bzw. unklare Auffassungen oder Vorbehalte dazu haben. Die Zahl der eingetragenen Hörer, von denen anfänglich viele die Vorlesungen nicht besuchten, sondern nur die Skripten lasen, betrug Anfang Januar 1964 1 300. Bis zu seiner 8. Vorlesung3 stieg die Zahl der Direkthörer kontinuierlich bis auf 600.
Seit dem Zeitpunkt, wo Prof. Havemann in seinen Vorlesungen Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung direkt berührte, wuchs die Zahl der direkten Teilnehmer an seinen Vorlesungen jedoch sprunghaft an, sodass beim 2. Seminar4 über 1 000 Personen anwesend waren, obwohl im betreffenden Raum nur 600 Sitzplätze vorhanden sind.
Mit dem Anwachsen der Hörerzahl trat auch eine Veränderung in ihrer Zusammensetzung ein. Bis zur sogenannten Moralvorlesung (8. Vorlesung)5 setzte sich die Hörerschaft Havemanns vor allem aus Studenten naturwissenschaftlicher Bereiche wie Chemiker, Physiker, Mediziner, Psychologen, aber auch Geologen, Astronomen usw. zusammen. Einen beträchtlichen Teil der Hörer machten Assistenten und wissenschaftliche Angestellte der Humboldt-Universität aus. Der Anteil der Hörer aus gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen war dagegen gering.
Hinzu kommt ein Teil von Hörern, die ebenfalls den Vorlesungen beiwohnten, sich jedoch aus verschiedenen Gründen nicht in die Teilnehmerlisten eingetragen haben.
Nach der sogenannten Moralvorlesung wurde der Besuch vorübergehend schwächer, erreichte jedoch nach der Ankündigung Prof. Havemanns über Todesstrafe und Gefängnisse sprechen zu wollen, eine Rekordhöhe.6 Der Teilnehmerkreis erweiterte sich auf Studenten gesellschaftswissenschaftlicher Richtungen (Sprachwissenschaftler, Germanisten) und Studenten der Altertumskunde.
Wie vorliegende Informationen beweisen, hörten viele Personen den Vorlesungen von Prof. Havemann nur deshalb zu, um ihr »oppositionelles Bedürfnis« zu befriedigen. Das kam u. a. auch in den Beifallsbezeugungen nach bestimmten Sätzen und Formulierungen Prof. Havemanns zum Ausdruck, nachdem er vorher bei den Hörern bestimmte Erwartungen geweckt hatte. Nach der Einschätzung verschiedener Quellen sollen die von diesen Personenkreisen vorgebrachten Beifallsäußerungen zu Havemanns Ansichten als »Protest« gegen den in der DDR angeblich noch herrschenden Dogmatismus und »Stalinismus« und als Ausdruck für die Forderung nach Demokratie im bürgerlichen Sinne gewertet werden. Das trifft besonders auf die Reaktion zu solchen Forderungen Prof. Havemanns zu, wie z. B. nach uneingeschränkter Information aller DDR-Bürger über alle Fragen, nach uneingeschränktem Informationsaustausch, nach größerer Freiheit und Entscheidungsmöglichkeit für den einzelnen, nach Ablehnung der zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik7 usw.
Es muss jedoch auch festgestellt werden, dass ein Teil der Hörer die Vorlesungen Prof. Havemanns in der ehrlichen Absicht besuchte, von ihm wirkliche wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt zu bekommen. Offensichtlich nutzte Prof. Havemann den Umstand, dass er in seinen Vorlesungen viele Probleme auf den Gebieten der Philosophie und Einzelwissenschaften für die Hörer interessant und verständlich darzustellen versteht, für die negative Beeinflussung der Studenten aus. Verschiedene Quellen schätzen ein, dass selbst von bisher als zuverlässig bekannten Genossen diese Zweigleisigkeit im Auftreten Havemanns oft nicht erkannt wird, was dazu führt, dass sie sich von den wirklichen wissenschaftlichen Erkenntnissen Havemanns »blenden« ließen. Dazu würde auch beitragen, dass Prof. Havemann sogenannte echte, auf dogmatisches und sektiererisches Verhalten zurückzuführende Mängel kritisiert und bei einem Teil der Studenten den Eindruck hinterlassen würde, als ob er die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR vom Standpunkt des »vollendeten Kommunismus« bzw. im Interesse des Sieges des Kommunismus kritisiere.
Mit dem Auftreten von Prof. Havemann ist auch eine bestimmte Wechselwirkung dahingehend verbunden, dass einerseits von Prof. Havemann revisionistisches Gedankengut verbreitet wird und revisionistische Kräfte gestärkt werden, andererseits er aber auch von einem großen Teil der Mitglieder der Parteiorganisation der Chemiker an der Universität und der Parteigruppe der Arbeitsstelle für Fotochemie bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften direkt unterstützt wird.
Nach inoffiziellen Berichten hat sich innerhalb der Parteiorganisation der Chemiker eine »Theorie des uneingeschränkten allseitigen Kampfes gegen den Dogmatismus« herausgebildet. Neben Prof. Havemann treten in dieser Richtung besonders aktiv der Diplom-Chemiker Nieswand8 (I. Chemisches Institut), Dr. Barnikow9 (II. Chemisches Institut), Dr. Stehr10 und in etwas abgeschwächter Form Dr. Haberditzl11 (Oberassistent am Physikalisch-Chemischen Institut der Humboldt-Universität12) und Dr. Pietsch13 (vom gleichen Institut) in Erscheinung. Von den genannten Genossen werden zersetzende Tendenzen in die Parteiorganisation der Chemiker getragen, politisch-ideologische Unsicherheit gefördert und wird das Vertrauen zu übergeordneten Parteiorganen zu untergraben versucht.
Diese Haltung und Absichten kamen u. a. in Äußerungen des Genossen Nieswand zum Ausdruck, der in Gesprächen führende Genossen des Parteiapparates zu diskriminieren versuchte und darauf hinwies, das aus chinesischen Veröffentlichungen »gute politische Informationen« zu übernehmen seien.14
Zum taktischen Vorgehen der Chemiker hat Genosse Nieswand geäußert, dass die Chemiker niemals als Einzelpersonen schriftliche Stellungnahmen oder Meinungsäußerungen abgeben, sondern nur von der APO, AGL und von der Institutsleitung genehmigte Berichte, die zielgerichtet, gut fundiert und äußerst sachlich seien. Ihnen sei noch das Beispiel des Philosophen Lange15 in Erinnerung, der im Ergebnis einer abgegebenen, vorher gewünschten schriftlichen Stellungnahme im Gefängnis gelandet sei. Da man schnell im Gefängnis landen könne, wenn man für die Politik »Verbesserungsvorschläge« unterbreite, die dann als Sektierertum und Plattformerei angesehen würden, äußere man nur kollektive Meinungen. Die Chemiker würden niemals an philosophischen Debatten teilnehmen, solange sich die Philosophen vorher nicht wegen ihrer »Gefängnistreiberei« in der Vergangenheit entschuldigt haben. Die Chemiker würden auch nur öffentlich auftreten, weil allen Leuten, die »vernünftige Vorschläge« zur Änderung der Politik unterbreitet hätten, der Fehler unterlaufen sei, ins Sektiererische und in Plattformerei abzurutschen. Von dort aus sei es nicht mehr weit, konspirative Gegentätigkeit »unterstellt« zu bekommen.
Über Prof. Havemann äußerte Genosse Nieswand, dass Havemann nicht nur den Vorzug habe, schon einmal unter Hitler zum Tode verurteilt gewesen zu sein, sondern auch den Naturwissenschaftlern in der ganzen Welt bekannt sei, die eine bedeutende Macht darstellen und gegen die sich so leicht niemand erfolgreich stellen könne. Die Chemiker würden in jedem Falle gegen alle Dogmatiker zu kämpfen wissen. Außerdem wies Nieswand auf den Umstand hin, dass Prof. Havemann in der DDR »mit Ehrungen überhäuft« wurde.
In ähnlicher Richtung äußerte sich ein Genosse [Name] unter Berufung auf einen angeblichen Besuch Prof. Havemanns bei Genossen Prof. Hager. Hier habe Havemann angeblich zum Ausdruck gebracht, dass im Falle einer Einschränkung seiner Redefreiheit durch staatliche Organe der DDR nur Wasser auf die Mühlen der westlichen Propaganda gegossen und der Staat geschädigt würde.
Genosse Rauhut,16 Parteigruppenorganisator und Student im 2. Studienjahr an der Medizinischen Fakultät, hatte in einer Stellungnahme erklärt, dass die Vorlesungen von Prof. Havemann »echte sozialistische Erziehung« seien, was auch seine Popularität unter den Studenten beweise. Seiner Meinung nach betreibe Prof. Havemann marxistische Politik und habe deshalb starken Zuspruch unter den Studenten, weil das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium an der Universität uninteressant sei. Wenn die Partei gegen die Vorlesungen Prof. Havemanns vorgehe, würde dies einen beträchtlichen Entrüstungssturm unter den Studenten entfachen.
In diesem Zusammenhang verdienen auch die von Westberliner Seite unternommenen verstärkten Versuche Beachtung, Studenten der Humboldt-Universität ideologisch zu beeinflussen. Vom Vertreter Westberlins war auf einer Arbeitstagung der »Referenten für gesamtdeutsche Fragen des ASTA« schon im vorigen Jahr erklärt worden, dass es gelungen sei, erstaunlich viele Westberliner Studenten zu mobilisieren, die Kontakte zu Studenten der Humboldt-Universität aufgenommen haben und gute Ergebnisse erzielt hätten. Bereits Ende 1962 wurde an der Westberliner FU ein Studienkreis für Fragen des »gewaltlosen Widerstandes« gebildet,17 der Erkenntnisse über »gewaltlose Aktionen zur Selbstbefreiung der Deutschen« vermittelt.
Weitere Auswirkungen des Auftretens Havemanns zeigen sich auch im Verhalten des Historikers Genossen Dr. Falk,18 der zugleich Beauftragter der Universitäts-Parteileitung für eine im April dieses Jahres durchzuführende wissenschaftliche Tagung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät ist. Dr. Falk vertrat die These, dass es jetzt darauf ankomme, »Mut und Standhaftigkeit« zu beweisen. Genosse Dr. Falk nahm auch an einer Beratung teil, auf der der Philosoph Genosse Dr. Wenzlaff19 ein Programm für diese wissenschaftliche Tagung vortrug, das – nach Einschätzung einer Quelle – seinem ideologischen Gehalt nach mit der Konzeption Prof. Havemanns gleichzusetzen sei.
Neben der bereits geschilderten wechselseitigen Beeinflussung mit revisionistischem Gedankengut und gegenseitigen Stärkung und Unterstützung revisionistischer Kräfte an der Humboldt-Universität versuchte Prof. Havemann auch andere einflussreiche Personen und Personenkreise, insbesondere Wissenschaftler, in seinem Sinne zu beeinflussen und für seine »Theorien« zu gewinnen. Hier sind vor allem die Verbreitung seiner Arbeiten, insbesondere seiner Vorlesungen sowie die zahlreichen von ihm unterhaltenen engen Verbindungen zu größtenteils »gleichgesinnten« Kreisen hervorzuheben.20
Es ist bekannt, dass Prof. Havemann, als er 1956/57 erstmals mit revisionistischen Auffassungen offen hervortrat, Kontakt mit dem Verräter Heinz Brandt21 hatte. Im September 1962 trat Prof. Havemann mit seinem Leipziger Vortrag zum Thema »Hat die Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?«22 erneut mit revisionistischen Ansichten an die Öffentlichkeit. Bereits zu diesem Zeitpunkt ging er dazu über, diesen Vortrag an international bekannte Wissenschaftler im kapitalistischen und sozialistischen Ausland zu verschicken. Diesen Vortrag haben z. B. die Professoren Georg Klaus23 (Philosophisches Institut der Deutschen Akademie der Wissenschaften), Thiessen24 (Vorsitzender des Forschungsrates), Heisenberg25 und Max Born26 (Westdeutschland), Tamm27 (UdSSR), Kolman28 (ČSSR), Schaff29 und Helena Eilstein30 (Polen) von Prof. Havemann persönlich zugeschickt erhalten. Von einem Teil dieser Professoren erhielt Prof. Havemann ungeteilte Zustimmung für seinen Versuch zur »Überwindung des Dogmatismus in der Philosophie«. Andere äußerten jedoch dahingehend Vorbehalte, sie könnten nicht verstehen, dass Prof. Havemann einerseits Grundsätze der marxistischen Philosophie ablehnt und andererseits zugleich behauptet, diese Philosophie jedoch anzuerkennen. Die seinen Auffassungen zustimmenden Erklärungen versucht Prof. Havemann auszunutzen, indem er auf Tagungen, Zusammenkünften im kleineren Kreis usw., unter Weglassen kritischer Bemerkungen und Vorbehalte, damit zu renommieren versucht (u. a. mit schriftlichen Erklärungen der Professoren Born/Westdeutschland, Kolman/ČSSR und Schaff/Polen).
Für die Verbreitung seiner elf an der Humboldt-Universität gehaltenen Vorträge hat Prof. Havemann offensichtlich im noch stärkeren Maße gesorgt. Wie bekannt ist, hat Prof. Havemann seine Vorlesungen drucken lassen, wobei in jedem Exemplar sämtliche elf Vorträge enthalten sind. Nach vorliegenden Informationen sollen davon 2 000 Exemplare gedruckt worden sein. Bis vor kurzer Zeit konnte jeder beliebige DDR-Bürger sich diese Exemplare gegen Unterschrift im Sekretariat des Physikalisch-Chemischen Instituts abholen.31 Seit kurzer Zeit werden diese Exemplare nur noch an bekannte Personen ausgegeben. In der im Sekretariat ausliegenden Liste sind eine Reihe von Personen aus verschiedenen Bezirken der DDR verzeichnet. Nach einer vorliegenden, bis jetzt noch nicht überprüften internen Information beabsichtige Prof. Havemann, seine an der Humboldt-Universität gehaltenen Vorträge im Ausland als Buch drucken zu lassen.32
Enge Verbindungen unterhält Prof. Havemann zu Stefan Heym33 und Wolf Biermann.34 Nach Meinung von Quellen versuche Prof. Havemann, an der Humboldt-Uni mit Biermann »seine Kulturpolitik zu machen«, während Stefan Heym in organisatorischer Hinsicht eine beträchtliche Aktivität zu entfalten scheint. Heym war z. B. gemeinsam mit Prof. Havemann an der Organisierung des Auftretens des österreichischen Publizisten Robert Jungk35 an der Humboldt-Universität36 beteiligt, dessen Ausführungen im Wesentlichen die Forderung nach Koexistenz auf ideologischem Gebiet zum Inhalt hatten.37 Zwischen Jungk, Stefan Heym, Prof. Havemann, Prof. Dr. Lothar Kolditz38 (I. Chemisches Institut der Humboldt-Universität) und Dr. Herward Pietsch (Arbeitsstelle für Fotochemie) sei auch über eine von Jungk in Wien geplante Konferenz beraten worden, an der Wissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Schriftsteller aus Österreich, der Schweiz, Westdeutschland und aus der DDR teilnehmen sollen. Stefan Heym war im November vorigen Jahres nach Wien gereist, um sich durch Beratungen mit Jungk und Genossen Ernst Fischer39 (KPÖ) unmittelbar in die Vorbereitungen einzuschalten. (Über den Inhalt der Beratungen ist bis jetzt nichts bekannt.)
Weitere Verbindungen unterhält Prof. Havemann mit Prof. Thilo40 (Institut für Anorganische Chemie der Deutschen Akademie der Wissenschaften). Prof. Havemann, Prof. Thilo und der bereits im Bericht genannte Dr. Haberditzl (Physikalisch-Chemisches Institut) hatten auf persönliche Einladung von Prof. Warburg/Westberlin41 an der Tagung der Nobelpreisträger vom 30.6. bis 6.7.1963 in Lindau/Bodensee teilgenommen. Wie bis jetzt bekannt ist, soll die enge Verbindung zwischen den Professoren Havemann und Warburg (Forschung auf dem Gebiet der Chlorella-Algen) über den in Westberlin wohnhaften Genossen Dr. Haberditzl aufrechterhalten werden. Prof. Warburg wolle Prof. Havemann angeblich sein wissenschaftliches Erbe vermachen. Von Prof. Thilo sei die »Methode« Prof. Havemanns begrüßt worden, die Öffentlichkeit mithilfe von Druckfehlerberichtigungen (Übersetzung eines Artikels des Nobelpreisträgers Tamm/UdSSR in der Zeitschrift »Wissenschaft und Fortschritt«)42 auf seinen Kampf gegen die marxistische Philosophie aufmerksam zu machen. Prof. Thilo habe sinngemäß dazu gesagt: wenn sie nicht anders wollen, muss man es eben auf die Spitze treiben. Prof. Thilo unterhält seinerseits engen Kontakt zu dem wegen seines negativen Auftretens bekannten Prof. Mothes43 (Leopoldina).
Zu den von Prof. Havemann unterhaltenen Verbindungen ins Ausland, deren Inhalt bis jetzt noch nicht aufgeklärt werden konnte, gehören weiterhin die Nobelpreisträger Landau44 und Kapiza45/UdSSR. Diesen Wissenschaftlern hatte Prof. Havemann seinen Leipziger Vortrag ebenfalls zugeschickt.
Der Bekanntenkreis Prof. Havemanns in Westdeutschland sowie im kapitalistischen und sozialistischen Ausland ist als sehr umfangreich einzuschätzen, zumal er ständig an wissenschaftlichen Tagungen und an Veranstaltungen des Friedenskomitees teilgenommen hat. Es muss in diesem Zusammenhang jedoch auch erwähnt werden, dass zahlreiche Verbindungen Prof. Havemanns auf entsprechende Wünsche des Berliner Friedenskomitees und aufgrund von Aufträgen staatlicher Organe der DDR zustande kamen.
Zu diesen auf solche Art entstandenen Verbindungen dürften die zu Prof. Weischedel46 (Westberlin) und Margherita von Brentano47 (ebenfalls Westberlin) gehören. Bezeichnend für die Auffassungen des »Kontaktpartners« Prof. Weischedel ist seine Äußerung – mitgeteilt von Prof. Havemann –, wonach er in Prof. Havemann den künftigen Ministerpräsidenten der DDR sehen würde.
Das bekannt gewordene rege Interesse des Oberkonsistorialrates Ringhandt,48 ehemaliger Studentenpfarrer der Humboldt-Universität, am politisch-ideologischen Wirken Prof. Havemanns und seine Bemühungen, alle Vorträge Havemanns zu erhalten, deuten ebenfalls auf das Vorhandensein einer entsprechenden Verbindung hin, zumal Ringhandt auch Kontakt mit Dr. Nowak49 von der von Prof. Havemann geleiteten Arbeitsstelle für Fotochemie hat.
Von verschiedenen Quellen wurden auch Einzelheiten über einige in diesem Zusammenhang zu sehenden persönlichen Eigenschaften Prof. Havemanns berichtet, die ihn in seinem Gesamtverhalten als einen Menschen charakterisieren, der noch mit vielen für bürgerliche Intellektuelle typischen Lebensgewohnheiten behaftet ist. Er wird in diesen Berichten als ein oft etwas schnoddrig und arrogant auftretender Wissenschaftler dargestellt, der sehr schlagfertig ist und eine ausgefeilte Rhetorik besitzt. Hervorgehoben wird dabei, dass Prof. Havemann es vorziehe, seine Diskussionsgegner oft nicht durch bessere Argumente zu besiegen, sondern durch Verächtlichmachung in den Augen des Publikums. Ihm gehe es mehr um effektvolle Wirkung seiner Worte, durch die seine Gegner blamiert werden und er in den Mittelpunkt gerückt wird.
Von seinen Mitarbeitern in der Arbeitsstelle für Fotochemie wird Prof. Havemann als Wissenschaftler geachtet, wobei insbesondere sein kollegiales Verhalten auch gegenüber den einfachen wissenschaftlichen und technischen Kräften einen positiven Eindruck hinterlassen würde. Sie seien auch von seiner »Offenheit« und seinem »Gerechtigkeitssinn« beeindruckt. Er genieße außerdem noch deshalb große Achtung, weil er während der Zeit des Hitlerfaschismus zum Tode verurteilt war.
Von verschiedenen Quellen wird darauf hingewiesen, dass Prof. Havemann gegenüber Frauen oft hemmungslos und wenig wählerisch sei.
Über Prof. Havemann wird weiter berichtet, dass er in seinem Freundes- und Bekanntenkreis gern und oft von ihm angeblich bekannten »ernsten Gegensätzen« zwischen den Genossen Verner50 und Prof. Hager51 sprechen würde. Dies geschieht in einer Form, die geeignet ist, das Vertrauen zur Partei- und Staatsführung zu untergraben. So wird von ihm u. a. erklärt, dass Genosse Prof. Hager auf Genossen Verner eine »Stinkwut« habe, weil er von ihm im Jahre 1956 nach seiner Rückkehr aus Polen als Revisionist bezeichnet worden sei.52 Genosse Prof. Hager sei angeblich daran interessiert, dass Genosse Verner von Prof. Havemann und den Chemikern »eine auf den Deckel bekomme«. Prof. Havemann versucht dabei den Eindruck zu erwecken, als ob er vom Genossen Prof. Hager unterstützt werde.
Dem MfS wurden ferner zahlreiche Einzelheiten bekannt, die zur Einschätzung der Reaktion auf die am 30.1.1964 erfolgte Ablösung des Genossen Tzschoppe53 als 1. Sekretär der Universitäts-Parteileitung und auf die Kritik im Auftreten von Prof. Havemann beitragen, die gleichzeitig auch den im Bericht des Politbüros an das 5. ZK-Plenum getroffenen Feststellungen, warum der Einfluss bürgerlicher Auffassungen an der Humboldt-Universität Platz greifen konnte, entsprechen. Diese Hinweise sind u. E. auch deshalb noch von Bedeutung, weil sie die Haltung bestimmter Kräfte und Kreise in Verbindung mit der Vorbereitung der Parteiaktivtagung54 an der Humboldt-Universität näher kennzeichnen, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
Wie von verschiedenen Quellen übereinstimmend festgestellt wird, gehe aus zahlreichen Diskussionen hervor, dass eine anwachsende Zahl von Genossen Stellung gegen Prof. Havemann bezieht und die Ablösung des Genossen Tzschoppe versteht. Von einer Reihe Genossen Professoren aus den Bereichen der Gesellschaftswissenschaft und Naturwissenschaft sei zum Ausdruck gebracht worden, dass man mit dem Inhalt und der Form der Vorträge von Prof. Havemann nicht einverstanden sein kann und dass Prof. Havemann eine große Anzahl von Studenten negativ beeinflusst hat.
Trotz dieser positiven Reaktionen darf jedoch nicht übersehen werden, dass bei einem Teil der Genossen zwar ernste Vorbehalte gegenüber Prof. Havemann bestehen, aber in der Frage der Ablösung des Genossen Tzschoppe auch oft noch Unverständnis unter vielen Genossen und Parteilosen vorhanden ist und offen zum Ausdruck gebracht wird. Dabei ist auch festzustellen, dass nach der Veröffentlichung des Politbüroberichtes in bestimmten Kreisen der Chemiker eine »gewisse Ernüchterung« eintritt, sodass die extremsten Vertreter der Havemann-Richtung diesen Genossen den Vorwurf machen, sie würden sich jetzt zurückziehen und sich gegenüber der Partei um »Rückendeckung« bemühen.
Für die Haltung der Parteiorganisation der Chemiker sei, ebenfalls nach Berichten verschiedener Quellen, die Tatsache kennzeichnend, dass in dieser Parteiorganisation, in der es teilweise Auseinandersetzungen mit dem Genossen Tzschoppe gegeben habe, jetzt auf einmal festgestellt wird, Genosse Tzschoppe sei der richtige Parteisekretär an der Universität gewesen. Die Mehrheit dieser Parteiorganisation hat deshalb die Ablösung des Genossen Tzschoppe abgelehnt. Bei den Chemikern kursiert auch das Gerücht, dass Genosse Prof. Naumann55 maßgeblich an der Ablösung des Genossen Tzschoppe beteiligt gewesen sei, wobei sie Genossen Prof. Naumann als einen »mit dem Stalinkult fest verbundenen« Genossen bezeichnen.
Darüber hinaus gibt es Hinweise auf aktive Versuche revisionistischer, »oppositioneller« Kräfte, Stimmungen gegen übergeordnete Parteiorgane auszulösen, verbunden mit Bestrebungen, von der inzwischen stattgefundenen Parteiaktivtagung Stimmung für die »oppositionellen« Kräfte innerhalb der Partieorganisation der Universität zu machen. Unter anderem trat besonders Genosse Nieswand in Erscheinung, der z. B. äußerte, dass die Chemiker mit den Ausführungen der Genossen Prof. Hager, Sindermann56 und Schumann57 nicht einverstanden seien. Die Chemiker wären zu der Auffassung gelangt, dass man sie jetzt »abzubürsten« versuche. Sie würden damit rechnen, dass es Parteiverfahren und Parteiausschlüsse gebe und sich deshalb auf die Parteiaktivtagung entsprechend vorbereiten. Solchen Genossen, die sich entsprechend vorzubereiten beabsichtigen und die noch »zwischen der Linie des ZK und der Havemann-Richtung schwanken«, habe Genosse Nieswand die Empfehlung gegeben, die 10. Vorlesung58 von Prof. Havemann nochmals zu studieren.
Zum taktischen Vorgehen Prof. Havemanns und seiner Anhänger habe Genosse Nieswand geäußert, dass Prof. Havemann versuchen wolle (auf der Parteiaktivtagung), alle gegen ihn und seine Anhänger gerichteten Vorwürfe auf sich zu ziehen und sich als Märtyrer aufzuspielen. Damit soll gleichzeitig erreicht werden, dass man gegen Prof. Havemann bestimmte Vorwürfe erhebt, die von den Genossen Chemikern dann gemeinsam pariert werden sollen.
Genosse [Name] vom I. Chemischen Institut habe zum Ausdruck gebracht, jetzt würde wieder etwas Ähnliches praktiziert wie bei der Ablösung des Genossen Kotowski.59 Die Diskussionen »oben« würden aus mangelnder Sachkenntnis immer hinter verschlossenen Türen geführt, da man eine offene Diskussion fürchte. In der nächsten Zeit sei damit zu rechnen, dass Schuldige gefunden würden, gegen die ein Parteiverfahren eröffnet werde, wie es damals gegen die Genossen Keilert60 und Nieswand geschehen sei.61
Der Gruppenorganisator und Medizinstudent Rauhut äußerte die »Befürchtung«, dass jetzt der Kampf gegen den Dogmatismus eingestellt und in der Partei ein »harter Kurs« eintreten werde. Die Ablösung des Genossen Tzschoppe müsse seiner Meinung nach öffentlich exakt begründet werden, da es sonst unter den Genossen zu Unruhen kommen würde.
Wie weiter berichtet wurde, sei im Zusammenhang mit der Ablösung des Genossen Tzschoppe von einer Reihe Genossen und von zahlreichen Parteilosen zum Ausdruck gebracht worden, dass man den Genossen Tzschoppe für die Konzeptionslosigkeit der Universitäts-Parteileitung im Kampf gegen die revisionistischen Auffassungen Prof. Havemanns nicht verantwortlich machen könne. Teilweise werde auch die Kritik der Bezirksleitung an Genossen Tzschoppe gebilligt, jedoch die Form, in der die Ablösung des Genossen Tzschoppe erfolgte, verurteilt. Wiederholt wurde von Genossen geäußert, dass Genosse Tzschoppe ein guter Parteisekretär gewesen sei, der großen Einfluss hatte und die Universität ein Stück vorwärts gebracht habe. In solchen Diskussionen wurde auch die Frage gestellt, ob sich die Universitäts-Parteileitung nicht einfach als »Abstimmungsmaschine« betätigt habe.
Wiederholt wurden auch Stimmen laut, wonach bei der Ablösung des Genossen Tzschoppe das Parteistatut verletzt worden sei. Solche Ansichten seien u. a. von der Genossin Prof. Falk,62 vom Genossen Dr. Fruck63 und vom Genossen Prof. Heise64 vertreten worden. Genosse Prof. Heise und andere Genossen hätten dazu erklärt, dass sie mit der Ablösung des Genossen Tzschoppe nicht einverstanden seien und seine Ablösung einen Verstoß gegen das Parteistatut darstelle. Genosse Verner sei vor der Universitäts-Parteileitung nicht überzeugend aufgetreten. Die Mehrheit der Mitglieder der Parteileitung sei von der Richtigkeit der Ablösung nicht überzeugt, sondern in der betreffenden Sitzung nur »umgefallen«.
Neben diesen Reaktionen und Äußerungen, in denen das Nichteinverständnis mit dem Vorgehen der Bezirksleitung zum Ausdruck kommt, muss auch auf eine Reihe von Gerüchten hingewiesen werden, die in diesem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen an der Humboldt-Universität aufgekommen sind. Diese kursierenden Gerüchte beinhalten im Wesentlichen, dass die übergeordneten Parteiinstanzen gegenüber der Universitäts-Parteileitung bzw. der Parteileitung der Chemiker Misstrauen hegen und mit konspirativen Mitteln arbeiten würden. Das Entstehen dieser Gerüchte werde von folgenden Vorkommnissen abgeleitet: Genosse Verner habe in einer Auseinandersetzung mit dem Sekretär der Parteiorganisation der Chemiker Wielgosch65 mit einem Schreiben der Parteileitung der Chemiker an die Gewerkschaft operiert, das er sich, nach Meinung der Parteileitung der Chemiker, konspirativ beschafft haben müsse. Dieses fragliche Schreiben habe provokatorische Forderungen enthalten, sei jedoch nicht abgeschickt worden und sämtliche Formulare seien noch vorhanden. Genosse Verner habe, in der Versammlung dazu befragt, unter Hinweis auf ein Prinzip der illegalen Arbeit erklärt, dass er vergessen habe, wer ihm diesen Brief übergab.66
Das Gerücht über eine angebliche Überwachung der Telefone der Parteifunktionäre kursiere in besonders großem Umfang. Es sei dadurch ausgelöst worden, dass Genosse Frommknecht67 vom ZK den Genossen Tzschoppe in der Parteileitungssitzung am 30.1.1964 wiederholt und beharrlich nach dem Inhalt eines Telefongesprächs zwischen den Genossen Tzschoppe und Aßmann68 (2. Sekretär der Universitäts-Parteileitung) gefragt habe. Das Telefongespräch sei tatsächlich geführt worden. Von solchen Kräften wie dem Genossen Nieswand wurde das Kursieren dieses Gerüchts gleichzeitig mit der Verbreitung einer Reihe weiterer Parolen verbunden. Er stellte dabei solche Behauptungen auf, dass die Telefongespräche aller Parteisekretäre abgehört würden, die Chemiker sich bei Telefongesprächen mit »Guten Tag, Herr Höcherl«69 begrüßen würden, die Intelligenz sich in einer Zersetzungsperiode zu befinden scheine, der Arbeitsstil der Bezirksleitung und das Vorgehen des Genossen Verner nicht mehr zu verantworten seien usw.
Weiter wurde von der Parteiorganisation der Chemiker bekannt, dass vor der für den 31.1. angesetzten Parteiversammlung von einigen Genossen vor der Versammlung der Saal noch zweimal nach dem Vorhandensein von Abhörgeräten überprüft wurde.
In diesem Zusammenhang wird noch darauf hingewiesen, dass der Genosse Mohrmann70 (verantwortlicher Redakteur des Parteiorgans der Universität) sich vom 31.1. bis 1.2. beim Genossen Tzschoppe aufhielt. Als er am 1.2. übermüdet zur Leitungssitzung erschien, habe ihn der Persönliche Referent des Genossen Verner daraufhin angesprochen und geäußert, er würde ihm raten, nachts keine Besuche zu unternehmen. Aus dieser Bemerkung sei geschlossen worden, dass der Genosse Tzschoppe überwacht wird.