Ausführungen eines Mitarbeiters des SPD-Ostbüros
13. Mai 1964
Einzelinformation Nr. 383/64 über Ausführungen des Mitarbeiters des SPD-Ostbüros, Rudolf Maerker, vor Westberliner SPD-Funktionären zum Deutschlandtreffen und zur Lage in der FDJ
Am 8.5.1964 fand eine Funktionärskonferenz der Westberliner SPD statt, auf der der Mitarbeiter des SPD-Ostbüros, Rudolf Maerker,1 zum Deutschlandtreffen2 und zur Lage in der FDJ Stellung nahm. Nach Angaben einer zuverlässigen Quelle erklärte er u. a.:
Die FDJ habe drei Gründe, ein solches Deutschlandtreffen zu veranstalten.
- 1.
Es soll getestet werden, inwieweit die Zone durch das Bestehen der Mauer an Sicherheit gewonnen hat.
- 2.
Es soll die Stimmung in der Zone aufgefrischt werden.
- 3.
Der Osten will von seiner Seite aus die Mauer transparent machen und damit erreichen, dass dem Westen der Schwarze Peter zugeschoben wird, falls der Westen versuchen sollte, eine Teilnahme westdeutscher und Westberliner Jugendlicher zu verhindern.
Aus dem ausgewerteten Material der Arbeiterkonferenzen in Leipzig3 sei ersichtlich, dass die Verbindungsmänner im Westen von der SED gefragt wurden, ob die Existenz der Mauer einer maximalen Beteiligung von Arbeitern aus der Bundesrepublik an den Arbeiterkonferenzen hinderlich ist.
Die SED wolle nicht an die Jugendveranstaltungen in den Jahren 1948 bis 1954 in Berlin erinnert werden,4 weil bei diesen Anlässen die Jugendlichen stets nach dem Westen gegangen seien. Dadurch seien die Veranstaltungen im Osten geplatzt. Jetzt aber habe man sich etwas Neues einfallen lassen.
Es gebe viele westdeutsche Jugendliche, die bereit sind, im Osten zu sprechen, wenn ihnen auf einem derartigen Treffen Gelegenheit gegeben wird. Das sei positiv, da die sterilen Formen der Bonner Politik nicht mehr befriedigen könnten. Das sei auch, wie Maerker weiter ausführte, gefährlich. Trotzdem müsse mit diesen Gesprächen begonnen werden.
Maerker stellte folgende Fragen: Was ist mit der Jugend in der Zone los? Wird sie sich wehren können oder lehnt sie das System ab? Beides sei falsch. Von diesem System gehe eine gewisse Faszination aus. Die Jugend befinde sich – vom Kindergarten bis zur Lehre und vom Studium bis zum FDGB – an einem Fließband. Die Jugendlichen sollen Verantwortung tragen. Die SED sei dabei nicht kleinlich. In der Zone gebe es 1 500 Bürgermeister zwischen 18 und 25 Jahren. 9 000 Jugendliche bis 25 Jahre seien in den parlamentarischen Körperschaften tätig. 16 % der Abgeordneten der Volkskammer seien keine 30 Jahre alt. Im Bundestag seien es nur 2 %. An den Universitäten studieren 60 % Arbeiter- und Bauernkinder. Bei der Reichsbahn gibt es ganze Jugendzüge. In der Armee gibt es 800 Offiziere bis zum Oberst unter 35 Jahren. All das fasziniere die Jugend. Jeder Jugendliche verfalle auf die Dauer diesem Lehrgebäude. Allerdings gebe es auch Zweifel bei der Gegenüberstellung von Schein und Wirklichkeit, von Trugbild und Realität. Diesen Zweiflern könnten die Funktionäre der Zone keine ausreichende Antwort geben. Hier habe die Funktion des Westens einzusetzen. Vor allem müsste jenes Gespräch fortgeführt werden, das der Westen bis zur Errichtung der Mauer geführt hat.
Das »Mauerfestival« 1964 habe bei der Jugend der Zone die Hoffnung auf einen Durchbruch geweckt. Die Jugend der Zone sei kritisch gegenüber dem System im Osten, aber auch gegenüber der Bundesrepublik. Ohne Einwirkung des Westens werde sich also nichts entwickeln. Das sei der Kern des Problems.
Maerker kam dann auf die Lage in der FDJ zu sprechen. Die FDJ zähle zurzeit 1,3 Mio. Mitglieder. In der Zone sei also weniger als die Hälfte der Jugendlichen organisiert. 70 % der FDJ-Mitglieder würden nur ihre Mitgliedsbeiträge zahlen. 30 % seien Karteileichen. Das sei eine traurige Bilanz der Kommunisten. In der FDJ hätten sich zwei Gruppen gebildet:
- 1.
ungefähr 100 000 Jugendliche, die ideologisch überzeugt seien,
- 2.
ungefähr 100 000 Jugendliche, die im Rahmen des Möglichen Widerstand leisten würden.
Dazwischen befinde sich die große Masse der Mitglieder, die nur auf ihre persönlichen Vorteile bedacht seien. Diese große Masse habe Sindermann5 als unehrlich bezeichnet.
Abschließend erklärte Maerker, die deutsche Politik sollte sich mehr Gedanken machen, wie sie besser und wirksamer als bisher in den Osten hineinwirken kann. Eine Schwarz-Weiß-Malerei sei nicht angebracht. Die Jugendlichen der Zone würden zwar im Westen nicht ihr Ideal sehen, aber der Freiheitswille sei vorhanden, wie auch das Beispiel Havemanns6 zeige. Es müsse der Weg zum Maximalgespräch gefunden werden. Die Passierscheinregelung7 bilde dazu einen positiven Anhaltspunkt, der offensiv genutzt werden sollte. Gespräche sollten nicht mit dem Polizeiknüppel verhindert werden wie in Braunschweig, wo man FDJ-Funktionäre eingesperrt hat.8 Man sollte das Gespräch suchen, wo es zu finden ist und wo sich Möglichkeiten bieten, z. B. auch zu Pfingsten, wobei man hart sprechen sollte.
Der Charlottenburger SPD-Kreisvorsitzende Ristock9 erklärte in der Diskussion: Wir werden als SPD in die Auseinandersetzung hineingehen müssen. Wir werden klar Stellung beziehen müssen und präzise sagen, was wir wollen. Wir haben in dieser Auseinandersetzung große Chancen. Es gilt, den Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis aufzuzeigen. Es sollte z. B. darauf hingewiesen werden, dass ein volkseigener Betrieb gar kein volkseigener Betrieb ist und dass die DDR kein Arbeiter-und-Bauern-Staat ist. Im SED-Staat sei nicht die Diktatur des Proletariats nach Marx und Engels errichtet worden, sondern nach den Theorien Walter Ulbrichts. Es sollte auch gesagt werden, dass es keine Mitbestimmung in der Produktion gibt. Der Mensch sei im Gegenteil nur ein Rädchen der Maschinerie. Die Sozialdemokraten haben auf solche Fragen zu antworten. Alles, was der Auflösung dient, muss aktiviert werden. Es müssen Anlässe geschaffen werden, sich mit den Menschen aus dem Osten zu treffen, möglicherweise auch in den Ostblock-Staaten, um mit Jugendlichen aus der Zone ins Gespräch zu kommen.
Der stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Neubauer10 erklärte, es müssten vor allem praktische Fragen beantwortet werden, wie: Was ist am Tage der Wiedervereinigung? Wie steht es da mit den Existenzfragen der Bewohner Mitteldeutschlands? Werden die abgelegten Examen noch anerkannt? Verliert man seine Stellung? usw. Die SPD müsse Selbstvertrauen besitzen und den Jugendlichen der Zone positive Antworten geben.
SPD-Landessekretär Hesse11 meinte, die sozialdemokratischen Jugendlichen seien für derartige Gespräche zu wenig dialektisch geschult. Auch andere SPD-Funktionäre stellten in der Diskussion fest, dass es nicht leicht sei, mit FDJ-Mitgliedern zu diskutieren.
Ein SPD-Funktionär sagte, der Widerstand in der Zone werde nicht nur aus politischen, sondern auch aus religiösen Gründen geleistet. Man müsste versuchen, auch auf diesem Gebiet das Gespräch mit den Jugendlichen zu führen. In die Auseinandersetzungen müsste der Rundfunk stärker einbezogen werden.
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