Ausschreitungen von Jugendlichen
18. Mai 1964
Einzelinformation Nr. 399/64 über rowdyhafte Ausschreitungen von Jugendlichen in der Nacht vom 17. zum 18. Mai 1964 in Berlin
Von zwei Betreuern der Delegation Niedersachsen (Genossen aus dem Bezirk Magdeburg) wurde am Vormittag des 17.5.1964 bei der Abteilung Kultur des Organisationskomitees des Deutschlandtreffens1 angefragt, ob die Möglichkeit bestände, eine Laien-Combo aus Braunschweig (vier Jugendliche), offizielle Teilnehmer, auftreten zu lassen, die nicht im Programm vorgesehen sei.
Der verantwortliche Funktionär der Abteilung Kultur, Genosse Raupach,2 zog daraufhin Erkundigungen beim Büro der westdeutschen Delegation ein und erhielt von dort die Auskunft, dass gegen einen Auftritt dieser Combo keine Einwände erhoben würden.
Daraufhin wurde vom Genossen Raupach die Genehmigung zum Auftritt auf der Bühne in der Schillingstraße (zwischen dem Restaurant Moskau und dem Blumenladen Interflor) erteilt. Vorgesehen war, sie in der Zeit von 21.30 Uhr bis 1.00 Uhr dort zum Tanz spielen zu lassen. Durch besonders »heiße« Musik zog dabei die Braunschweiger Combo Tausende von Jugendlichen an. Das auf der Nachbarbühne spielende DDR-Orchester Siegfried Schäfer3 wurde, da es sich gegenüber der »heißen« Musik der westdeutschen Combo nicht behaupten konnte, ausgepfiffen.
Dabei wurde festgestellt, dass die Combo über einen sogenannten Manager verfügte, der sich ständig vor der Bühne aufhielt und von dort aus, offensichtlich unter Berücksichtigung der Reaktion der Jugendlichen, Anweisung gab, was zu spielen sei.
Da wegen des großen Zustroms von Jugendlichen Gefahr für die Bühne bestand, soll der Schlagzeuger der Combo von den Verantwortlichen der Bühne gegen 22.40 Uhr veranlasst worden sein mitzuteilen, die Veranstaltung würde unterbrochen und auf der Freilichtbühne am Zentralhaus der »Jungen Pioniere« (Parkaue) fortgesetzt, wo man bis 1.00 Uhr tanzen könne. Daraufhin begab sich ein Teil der Jugendlichen zum Stadtpark Berlin-Lichtenberg. Inzwischen wurde jedoch von bisher noch nicht bekannten Verantwortlichen entschieden, die Combo nicht in der Parkaue auftreten zu lassen. Da dies den Jugendlichen aber nicht bekannt war, strömten in der Parkaue bis gegen 0.30 Uhr ca. 2 000 Jugendliche zusammen, die den Auftritt der Braunschweiger Combo erwarteten und verärgert waren, dass die Versprechungen, die bei Abbruch der Veranstaltung in der Karl-Marx-Allee gegeben worden waren, nicht eingehalten wurden. Nach anfänglichen Pfiffen und einzelnen Schimpfworten ging die Menge schließlich zu Sprechchören über und rief: »Schiebung, Betrug«.
Gegen 1.00 Uhr begab sich nach den bisherigen Untersuchungen der inzwischen festgenommene [Name, Vorname] (17) aus Berlin-Lichtenberg auf die Bühne und zertrümmerte sichtbar einen Stuhl. Das wurde von anderen Jugendlichen zum Anlass genommen die Bühne zu stürmen, wobei die Filmleinwand (Rückseite der Bühne) umstürzte. In der Zwischenzeit wurden die Pfeifkonzerte und Sprechchöre immer stärker (»1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10: Schei…« und Pfui, Pfui-Rufe).
Als gegen 1.15 Uhr ein Lautsprecherwagen eintraf, von dem aus zur Ordnung gerufen wurde, bedrängte die Menge den Wagen, der sich daraufhin zurückzog. (Ein Fenster des Wagens wurde zertrümmert.) Zwei Mannschaftswagen und ein Funkwagen der VP wurden ebenfalls mit lauten Sprechchören und Schimpfworten empfangen. Ein Teilnehmer rief laut, man solle zum Organisationsbüro gehen und dagegen protestieren, dass die versprochene Kapelle nicht erschienen sei.
Daraufhin bewegten sich ca. 1 000 Jugendliche – darunter ungefähr 50 % im Blauhemd, auch Genossen – die Möllendorfstraße entlang bis zur Frankfurter Allee und diese dann weiter bis Karl-Marx-Allee. Sie benutzten dabei die linke Fahrbahnseite, riefen und johlten in der beschriebenen Art und Weise und behinderten den Verkehr, ohne Zerstörungen oder Beschädigungen an den Fahrzeugen anzurichten.
Etwa in Höhe des Filmtheaters »Kosmos« wurde die Menge durch quergestellte Kraftfahrzeuge sowie durch Genossen der VP, der Feuerwehr und des MfS zunächst gestoppt. Diese Maßnahme hatte zur Folge, dass sich der größte Teil der Jugendlichen absonderte und nur ca. 300 bis 500 Jugendliche unter Umgehung der Sperre weiter in Richtung Stadtinneres zogen. In Höhe der Fruchtstraße wurde dann die Menge durch Absperrung endgültig zum Halten gebracht und zerstreut. Durch die VP wurden dabei insgesamt 34 Jugendliche festgenommen, die sich nach den bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Feststellungen am lautstärksten beim Rufen der Losung beteiligt haben sollen. (Darunter befinden sich 20 Teilnehmer des Deutschlandtreffens, ein westdeutscher Teilnehmer und neun Berliner.)
Die gegenwärtigen Untersuchungen durch das MfS werden besonders in der Richtung geführt, inwieweit diese Vorkommnisse eventuell von einzelnen Personen aus politischen Motiven bewusst provoziert wurden.
Allgemein ist jedoch einzuschätzen, dass bei der Masse der Jugendlichen das Verhalten durch die Enttäuschung bestimmt wurde, über das Auftreten der Combo desinformiert und dadurch an der Teilnahme an weiteren Veranstaltungen gehindert worden zu sein.
Am 18.5.1964 konzentrierte sich auf dem Strausberger Platz in den Nachtstunden bis gegen 5.00 Uhr eine größere Gruppe Jugendlicher, die zur Gitarre Twist tanzten. Außerdem befanden sich dort zehn bis zwölf kleinere Diskussionsgruppen (zwischen 5 und 15 Personen je Gruppe), sodass insgesamt ca. 200 Personen anwesend waren. Der von ihnen verursachte ruhestörende Lärm machte es notwendig, diese Ansammlung zu zerstreuen. Von der VP-Inspektion Friedrichshain wurden deshalb Kräfte eingesetzt, die zuerst mit Lautsprecherwagen viermal aufforderten, den Platz zu räumen. Als diese höflich gehaltenen Aufforderungen nicht befolgt wurden, bildete die VP eine Raumkette und drängte die Jugendlichen in die Frankfurter Allee Richtung Fruchtstraße ab.
Im Verlaufe des Zurückdrängens löste sich die Ansammlung zum größten Teil auf, ohne dass es dabei zunächst zu besonderen Vorkommnissen kam. Anschließend sammelten sich jedoch noch ca. 50 Jugendliche und begaben sich zur VP-Inspektion Friedrichshain, wohin die VP-Kräfte zurückkehrten. Vor der VPI forderten Teilnehmer dieser Gruppe, die VP sollte sich für ihr Verhalten entschuldigen, denn beim Zurückdrängen seien Jugendliche umgestoßen worden. Eine Pädagogik-Studentin aus Großenhain behauptete ferner, die VP habe sie mit dem Gummiknüppel geschlagen. Trotz der Erklärungen von zwei verantwortlichen Offizieren der VPI, dass vom Gummiknüppel kein Gebrauch gemacht wurde und die Forderungen der Jugendlichen vollkommen ungerechtfertigt sind, beruhigte sich die Gruppe nicht.
Daraufhin wurden neben der bereits erwähnten Pädagogik-Studentin noch ein Algerier, ein Westdeutscher (der sich am Schluss als angebliches KPD-Mitglied ausgab) und ein Zierpflanzenzüchter aus Großenhain – die als hauptsächlichste Wortführer auftraten – gebeten, mit in die VPI zu kommen. Dort wurde ihnen nochmals die Notwendigkeit und der Verlauf der Maßnahme der VP erklärt und betont, dass es keine Anwendung des Gummiknüppels gegeben habe. Ohne dass die VPI oder die verantwortlichen Offiziere, die das Gespräch mit diesen vier Jugendlichen führten, noch einmal eingreifen mussten, überzeugten diese vier Personen die vor der VPI befindliche Gruppe, die anschließend auseinanderging. Gegen 6.30 Uhr herrschte wieder völlige Ruhe.
Die vom Westrundfunk in diesem Zusammenhang verbreiteten Meldungen, wonach gegen 21.00 Uhr vor der sowjetischen Botschaft unter den Linden eine Ansammlung von 200 Jugendlichen durch die VP aufgelöst worden sei, entsprechen nicht der Wahrheit.
In Abstimmung mit dem Zentralrat der FDJ sind Maßnahmen eingeleitet worden, um solche oder ähnliche Desinformationen, wie sie im erstgenannten Falle erfolgten, ab sofort zu verhindern. Für die entsprechende Absicherung der heutigen Abschluss- und anderen Veranstaltungen werden vom MfS genügend Kräfte eingesetzt und zusätzlich in Reserve gehalten, die mit Blauhemden bekleidet unmittelbaren Einfluss nehmen können und die notwendigen Absicherungsmaßnahmen garantieren.