Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen
6. August 1964
Einzelinformation Nr. 619/64 über Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen, die durch Fehlhandlungen von Eisenbahnern hervorgerufen wurden
Aufgrund einer Reihe schwerwiegender Eisenbahnunfälle in letzter Zeit sieht sich das MfS veranlasst, erneut auf diese Fragen aufmerksam zu machen, weil ein großer Teil dieser Unfälle, die hohe materielle Schäden hervorrufen und sich in starkem Maße auch störend auf die Volkswirtschaft auswirken, vermieden werden könnten. Es handelt sich dabei vor allem um solche Unfälle, die durch die verschiedensten Fehlhandlungen von Eisenbahnern – also subjektiv – verursacht wurden.
Obwohl insgesamt die Anzahl der Bahnbetriebsunfälle im Vergleich zu den Vorjahren eine sinkende Tendenz zeigt, steigt aber der Anteil der durch Fehlhandlungen der Eisenbahner eingetretenen Unfälle 1964 an. Von den 1963 insgesamt erfolgten 9 631 Bahnbetriebsunfällen wurden 51,2 % durch Fehlhandlungen von Eisenbahnern verursacht und im 1. Halbjahr 1964 (insgesamt 3 914 Unfälle) hat sich dieser Anteil auf 54 % erhöht.
Insgesamt kamen 1963 durch die Eisenbahnunfälle 55 Personen (1. Halbjahr 1964 zehn Personen) ums Leben. 67 Personen (1. Halbjahr 42) wurden schwer und 461 (1. Halbjahr 301) wurden leicht verletzt. Die Unfälle mit tödlichem Ausgang oder mit schweren Verletzungen ereigneten sich jedoch bei ca. 63 % aufgrund von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung an Bahnübergängen. Der durch die Unfälle entstandene Sachschaden belief sich 1963 für die DR auf 5,173 Mio. MDN, im 1. Halbjahr 1964 0,744 Mio. MDN. Hinzu kommen 1963 noch 1,523 Mio. MDN Schaden an Ladegut und im 1. Halbjahr 1964 0,392 Mio. MDN. Diese Summen drücken jedoch noch nicht den realen Schaden aus, da Folgeerscheinungen der Unfälle für die DR und die Volkswirtschaft, wie Ausfälle von Transportraumkapazitäten, Streckensperrungen, Vernichtung der Wagenladung und Ausfall von Arbeitskräften nicht erfasst werden.
Die hauptsächlichen Fehlhandlungen der Eisenbahner, die zu Unfällen führten, bestehen in
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mangelhafter Fahrwegprüfung,
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Einlassen von Zügen in besetzte Gleise ohne Verständigung des Zugpersonals,
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Überfahren von Halt zeigenden Signalen,
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Umlegen von Weichen unter den Fahrzeugen,
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Fahrt ohne Auftrag und
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falsche Handhabung von Hemmschuhen beim Rangieren.
Die nachstehend angeführten Beispiele stellen nur einen kleinen Teil jener Unfälle dar, die bei richtigem Verhalten der betreffenden Eisenbahner hätten verhindert werden können.
Am 1.10.1963 fuhr auf dem Bahnhof Plau/See ein Güterzug auf einen anderen Güterzug auf. Eine Lok und zwölf Güterwagen entgleisten. Es entstand ein Sachschaden von 70 TMDN. Die Ursache lag darin, dass Fahrdienstleiter und Weichenwärter oberflächlich arbeiteten, sich nicht der Hilfssperren im Stellwerk bedienten und damit die Einfahrt in das besetzte Gleis möglich wurde.
Am 14.10.1963 stießen auf der Strecke Weißenfels – Halle zwei Güterzüge zusammen. Es entstand ein Schaden von 350 TMDN. Die Ursache liegt beim Versagen des Fahrdienstleiters der Blockstelle Halle-Süd und des Blockwärters der Blockstelle Burg. Der Blockwärter der Blockstelle Burg hatte die Übersicht darüber verloren, wieviel Züge sich im Blockabschnitt befinden. Er unterließ es, obwohl die bestehenden Vorschriften dies fordern, Eintragungen in das Dienstbuch über Vor-, Frei- und Rückmeldung zu machen. Der Fahrdienstleiter versäumte es, trotz Ausfall der Fernbahnautomatik, Hilfssperren anzulegen.
Am 14.10.1963 fuhr auf dem Bahnhof Bagenz, Strecke Cottbus – Spremberg, ein Güterzug auf einen anderen auf. Es entstand ein Schaden von 48 TMDN. Der Fahrdienstleiter des Bahnhofes Bagenz vergewisserte sich nicht, ob der von ihm angenommene Güterzug bereits das Einfahrtsignal passiert hatte und die Einfahrt wieder frei ist. Er nahm fahrlässig den nächsten Güterzug an und es kam zum Zusammenstoß.
Am 25.11.1963 entgleisten auf dem Bahnhof Fürstenberg/Havel vom D 24 (Saßnitz – Berlin) die Lok, ein Post- und ein Schlafwagen. Die Lok stürzte um, wobei das Lokpersonal und ein Fahrmeister tödlich verunglückten. Als Ursache wurde ermittelt, dass der Zug mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h den Bahnhof Fürstenberg/Havel passierte, obwohl die Geschwindigkeit auf 50 km/h festgelegt ist.
Am 24.12.1963 entgleisten auf der Strecke Saalfeld – Jena vom D 129 (München – Saßnitz) sechs Reisezug- und ein Postwagen. Ein Reisezugwagen stürzte dabei eine Böschung hinab und legte sich quer über einen Wasserlauf. Ein Reisender wurde schwer und zehn Reisende leicht verletzt. Der Zug war insgesamt mit 250 Reisenden besetzt. Die Ursache des Zugunglücks ist in einer oberflächlichen und den dienstlichen Vorschriften widersprechenden Arbeit der Bahnmeisterei zu suchen. Bei der Ausbesserung eines Schienenbruchs wurde ein 3 m langes Passstück eingearbeitet. Dieses Passstück wurde beim Befahren des D 129 völlig zertrümmert. Die nachfolgenden Untersuchungen ergaben, dass in einer Laschenkammer des Passstückes ein alter Bruch vorhanden war, welcher zum Unfall führte.
Am 31.12.1963 gerieten auf dem Bahnhof Wilhelm-Pieck-Stadt Guben vier Kesselwagen in Brand. Die Untersuchung ergab, dass der Wagenmeister bei der Schnellreparatur eines Kesselwagens eine Karbidlampe bei sich trug und dadurch auslaufendes Rohöl in Brand geriet. Der entstandene Sachschaden beläuft sich auf 100 TMDN.
Am 3.1.1964 prallte auf dem Bahnhof Seebergen, Strecke Eisenach – Erfurt, ein Personenzug auf einen Güterzug. 32 Personen wurden verletzt. Die Ursache für diesen Zusammenprall liegt in der mangelhaften Fahrwegprüfung des Fahrdienstleiters und des Weichenwärters. Obwohl ihnen bekannt war, dass im Gleis der Güterzug stand, stellten sie für den Personenzug die Weiche und das Signal, sodass der Zusammenprall entstand.
Am 5.1.1964 fuhr ein Güterzug im Bahnhof Oderberg bei der Einfahrt einem nicht grenzzeichenfrei stehenden Güterzug in die Flanke. Dadurch entstand bei der Lok und sieben Wagen Totalschaden. Die andere Lok und vier weitere Güterwagen wurden stark beschädigt. Gesamtschaden betrug über 200 TMDN. Entgegen den Vorschriften wurde durch die Weichenwärterin und den Rangierschaffner nicht überprüft, ob der im Bahnhof stehende Güterzug grenzzeichenfrei stand.
Am 18.1.1964 prallte ein Personenzug am Schrankenposten Hohenthurm (Bezirk Halle) auf einen Lkw der Sowjetarmee. Dieser Lkw war mit sowjetischen Armee-Angehörigen besetzt und hatte ein Geschütz als Anhänger. Beim Zusammenprall wurde der Schrankenwärter tödlich, drei sowjetische Armeeangehörige schwer und drei weitere leicht verletzt. Der Sachschaden wurde auf 24 TMDN geschätzt. Der Schrankenwärter hatte unmittelbar nach dem Passieren des Güterzuges die Schranke geöffnet, obwohl er wusste, dass der folgende Personenzug bereits in den Streckenblock eingefahren war.
Am 19.1.1964 fuhr ein Personenzug von Halle kommend auf dem Bahnhof Großkorbetha auf eine Rangierabteilung auf. Dabei wurden 32 Personen verletzt. Es entstand ein Sachschaden von 35 TMDN. Der Stellwerksmeister, der für den Personenzug die Fahrstraße legte, unterließ es, entgegen den bestehenden Bestimmungen, die Schutzweichen zu stellen. Dadurch gelangte die Rangierabteilung in die Fahrstraße des Personenzuges. Begünstigt wurde dieser Unfall noch dadurch, dass der Rangierleiter und Lokheizer den Fahrweg der Rangierabteilung nicht beobachteten.
Am 20.3.1964 stießen auf der Strecke Rostock – Bad Doberan auf [dem] Bahnhof Groß-Schwaß ein Personen- und ein Güterzug frontal zusammen. 33 Personen wurden verletzt, davon sieben Schwerverletzte. Es entstand ein Sachschaden von 60 TMDN. Der Weichenwärter hatte das Ausfahrtsignal für den Güterzug gestellt, ohne einen Auftrag vom Fahrdienstleiter bekommen zu haben. Weder Fahrdienstleiter noch Weichenwärter führten, wie das die Vorschrift erfordert, das Zugfahrtensicherungsbuch. Hierdurch trat ein, dass der Weichenwärter nicht mehr wusste, ob er vom Fahrdienstleiter einen entsprechenden Auftrag erhalten hat oder nicht. Die Untersuchung ergab eine Reihe begünstigender Umstände wie
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lückenhafte Eintragungen betriebswichtiger Gespräche in die Fernmeldebücher,
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Beginn und Durchführung von Arbeiten an den Sicherungsanlagen ohne vorherige Verständigung des Fahrdienstleiters,
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mangelhafte und oberflächliche Kontrollen der einzelnen Dienstposten durch den Dienstvorgesetzten.
Auch der erst am 3.8.1964 erfolgte Eisenbahnunfall zwischen Satzkorn und Priort, [Bezirk] Potsdam, bei dem acht Wagen eines Güterzuges entgleisten, sechs davon umstürzten und ein Schaden von ca. 40 TMDN verursacht wurde, hätte vermieden werden können. Der Unfall entstand durch Heißlaufen einer Achse, wodurch ein Achsschenkel abriss. Eine Schrankenwärterin hatte jedoch bei der Vorbeifahrt des Güterzuges bemerkt, dass eine Achse heißgelaufen war. Sie hat daraufhin sofort telefonisch den Fahrdienstleiter des nachfolgenden Bahnhofes Satzkorn davon verständigt, der aber trotzdem den Güterzug durchfahren ließ.
Neben diesen Beispielen von Unglücksfällen gibt es eine große Anzahl von Zuggefährdungen, die ebenfalls Fehlhandlungen der Eisenbahner darstellen. Nur durch rechtzeitiges Reagieren anderer Eisenbahner wurden schwere Unfälle vermieden. Im Jahre 1963 kam es zu insgesamt 647 und im 1. Halbjahr 1964 zu 286 Zuggefährdungen. Die hauptsächlichsten Ursachen sind: Überfahren von Haltezeichen und Signalen [und] Einfahrt in besetzte Gleise und Streckenabschnitte durch mangelhafte Fahrwegprüfung.
Auch hierzu eine Reihe von Beispielen, wo es zu Unfällen katastrophenartigen Charakters hätte kommen können.
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Am 30.7.1964 sollte ein Kinderferienzug auf dem Bahnhof Wuhlheide umgesetzt werden. Er wurde vom diensthabenden Fahrdienstleiter auf das mit einem Sonderzug besetzte Gleis geleitet. Durch die Umsicht des Lokführers vom Kinderferienzug wurde ein Auffahren verhindert.
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Am 20.1.1964 fuhr auf dem Bahnhof Hohen-Neuendorf West ein Personenzug in ein besetztes Gleis ein. Der Lokführer konnte den Zug rechtzeitig anhalten.
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Am 1.2.1964 wurde auf dem Bahnhof Jüterbog der D 79 in ein besetztes Gleis eingelassen. Der Lokführer des D-Zuges konnte den Zug vor dem Zusammenprall anhalten.
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Am 26.5.1964 überfuhr der D 1 (Basel – Berlin) das Blocksignal in Kelberfeld, Strecke Gerstungen – Erfurt, mit einer ganzen Zuglänge. Im Blockabschnitt befand sich zu dieser Zeit eine andere Lok. Durch den Blockwärter wurde der D 1 zum Halten gebracht.
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Am 5.8.1964, gegen 17.12 Uhr, erhielt im Bahnhof Knappenrode der Personenzug 2719 Einfahrt in das mit einer Lok besetzte Gleis 2. Nur durch die Aufmerksamkeit des Lokpersonals vom P 2719 kam dieser ca. 300 m vor der stehenden Lok zum Halten.
Obwohl sich das Kollegium des Ministeriums für Verkehrswesen im Mai und Dezember 1963 mit den Fragen der Erhöhung der Betriebssicherheit, Disziplin und Ordnung beschäftigte und weitere Beschlüsse fasste, ist der gegenwärtige Stand nicht befriedigend. Die vorstehenden Hinweise lassen erkennen, dass besonders der Kampf gegen die subjektiven Ursachen von Bahnbetriebsunfällen bei der DR ungenügend entwickelt ist.
Da in der Vergangenheit ein Kontrollsystem nur unzureichend entwickelt war, blieben Beschlüsse und Weisungen in den Zwischenleitungsorganen, wie Reichsbahndirektion und Reichsbahnämter, hängen. Die anschauliche Schulung der Eisenbahner anhand eingetretener folgenschwerer Unfälle wurde gröblich vernachlässigt.
Der angeführte Unfall vom 25.11.1963 Bahnhof Fürstenberg/Havel wurde nur auf die Mängel reduziert, die unmittelbar zum Unfall führten. Eine Verallgemeinerung und konkrete Bezugnahme zur Leitungstätigkeit fand nicht statt. Ein verantwortlicher Funktionär der Reichsbahndirektion Greifswald nahm an der Auswertung nicht teil.
Die Ursachen für den unbefriedigenden Stand der Betriebssicherheit, Disziplin und Ordnung liegen vor allem in der ungenügenden Leitungstätigkeit begründet. Die Mehrzahl der Leiter orientiert nur einseitig auf die quantitative Erfüllung der Planaufgaben. Auf die Betriebssicherheit wird nur sporadisch, meist nach schweren Unfällen, Einfluss genommen. Bei schuldhaft verursachten Bahnbetriebsunfällen setzen die Dienstvorgesetzten das Prinzip der materiellen Verantwortung nicht konsequent durch. Bei Verstößen gegen die Dienstvorschriften, die durch Minderung der Bahnhofsprämie zu ahnden sind, überwiegen Loyalität und Nachsicht.
Am 22.5.1964 wurde in einer Dienstbesprechung mit den Präsidenten erneut die Frage Betriebssicherheit, Disziplin und Ordnung beim Staatssekretär eingeschätzt. Erstmalig wurden hier Disziplinarstrafen gegenüber dem Präsidenten und anderen leitenden Funktionären der Reichsbahndirektion Halle ausgesprochen.
Seit dem Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees der SED über die Erhöhung der Betriebssicherheit, Ordnung und Disziplin bei der Deutschen Reichsbahn vom 20.10.19611 hat das Ministerium für Verkehrswesen neun Befehle, Anordnungen und Verfügungen zu diesem Problem erlassen. Da diese nicht durchgesetzt sind, wurden sie durch einen neuen Befehl vom 16.6.1964 außer Kraft gesetzt.
Folgenschwere Unfälle wie am 19.7.1964 in Waßmannsdorf, am 21.7.1964 in Stendal und am 5.8.1964 auf der Strecke Lübben – Beeskow, [Bezirk] Cottbus, zeigen, dass der neue Befehl noch keine nachhaltige Wirkung hat.