Befehlsverweigerung von Angehörigen der NVA
26. August 1964
Einzelinformation Nr. 693/64 über eine Zusammenrottung und Befehlsverweigerung von Angehörigen der NVA des Objektes des MB III in Leipzig, Olbrichtstraße
Aufgrund einer Zusammenrottung und geschlossenen Befehlsverweigerung von Angehörigen der NVA im Objekt des Militärbezirks III Leipzig, Olbrichtstraße, wurde durch das MfS am 16.8.1964 eine Untersuchung eingeleitet. Im Ergebnis der Untersuchung erfolgte die Festnahme folgender Angehöriger der NVA, die als Rädelsführer aufgetreten waren:
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Gefreiter [Name 1, Vorname], Kraftfahrer im Transportzug des Flak-Regiments 3,
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Gefreiter [Name 2, Vorname], Kraftfahrer im Transportzug des Flak-Regiments 3,
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Soldat [Name 3, Vorname], Kraftfahrer im Transportzug des Flak-Regiments 3,
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Kanonier [Name 4, Vorname], Fernsprecher in der Führungsbatterie des MB III.
Zu dem Vorkommnis selbst liegen bisher folgende Untersuchungsergebnisse vor: Am 16.8.1964 fand im Kulturhaus des Objektes der Nationalen Volksarmee in Leipzig, Olbrichtstraße, eine Filmveranstaltung statt, an der etwa 300 Angehörige des Flak-Regiments 3, des Artillerie-Regiments 3, der funktechnischen Kompanie 3, der Führungsbatterie des MB III und des Panzer-Bataillons des MSR 16, die sämtlich im genannten Objekt stationiert sind, teilnahmen.
Aufgrund eines Befehls des Kommandeurs, der allen Soldaten, Unterführern und Offizieren bekannt ist, hat der Besuch derartiger Filmveranstaltungen in einer bestimmten Anzugsordnung zu erfolgen. Der OvD des Artillerie-Regiments 3 Ltn. [Name 5] kontrollierte an diesem Abend den Kinosaal und verwies dabei mehrere mit Drillich- und Trainingsanzügen bekleidete NVA-Angehörige aus dem Saal.
Nach dem Beginn der Filmvorführung, gegen 19.00 Uhr, betraten die aus dem Saal verwiesenen Soldaten durch Seitentüren erneut den Veranstaltungsraum. Die dadurch entstandene Unruhe im Saal veranlasste den OvD, die Vorführung des DEFA-Augenzeugen1 zu unterbrechen und die Saalbeleuchtung nochmals anzuschalten, um zunächst die Ursache der Unruhe festzustellen und um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen.
Der OvD stellte das nochmalige Eindringen der unvorschriftsmäßig gekleideten Soldaten fest und befahl ihnen erneut, den Saal sofort zu verlassen. Dadurch steigerte sich die Unruhe zu tumultartigen Szenen. Der OvD wurde teilweise mit gemeinen Ausdrücken beleidigt.
Ltn. [Name 5] wies daraufhin den Filmvorführer an, die Filmveranstaltung abzubrechen und den Film abzutransportieren.
Diese Entscheidung bewirkte, begünstigt durch die bei vorangegangenen Filmveranstaltungen vernachlässigte Durchsetzung des bestehenden Befehls über die Anzugordnung, dass die anwesenden Armeeangehörigen randalierten, wobei besonders der Personalbestand des Transportzuges des Flak-Regiments 3, der als Alarmeinheit geschlossen an der Veranstaltung teilnahm, aktiv hervortrat.
Der entstandene Tumult hielt auch an, als der OvD unter Pfuirufen und erneuten Beleidigungen den anwesenden Alarmeinheiten befahl, das Kulturhaus zu verlassen und in die Unterkünfte abzurücken. Ltn. [Name 5] selbst begab sich danach in sein Dienstzimmer im Stabsgebäude.
Im Kinoraum wurden zu diesem Zeitpunkt die Besucher durch Zurufe aufgefordert, sitzen zu bleiben; diese Zurufe erfolgten insbesondere von Angehörigen des Transportzuges des Flak-Regiments 3 unter maßgeblicher Beteiligung des Beschuldigten [Name 3]. Der Beschuldigte [Name 1] verlangte von den Angehörigen seiner Einheit (Transportzug) »eisern« zu bleiben und forderte die im Saal anwesenden Armeeangehörigen durch wiederholte Rufe »Alles auf zum OvD!« zu einer Zusammenrottung vor dem Dienstzimmer des OvD im Stabsgebäude des Art.-Regiments 3 auf. [Name 1] wollte dadurch, wie er selbst aussagt, die Aufhebung des Befehls durch den OvD erzwingen. Er wurde dabei durch die Soldaten [Name 2], [Name 3] und [Name 4] durch laute Zurufe mit ähnlichem Inhalt aktiv unterstützt.
Dieser Aufforderung schlossen sich ca. 200 Armeeangehörige an. Sie formierten sich gegen 20.00 Uhr zu einem Demonstrationszug und marschierten, angeführt von den vier Beschuldigten, mit starkem Lärm zum Stabsgebäude. Dort ereigneten sich erneut tumultartige Szenen mit provokatorischen Sprechchören und Einzelrufen, in denen die Aufhebung der Weisungen des OvDs verlangt wurde, die selbst von Straßenpassanten an der etwa 400 m entfernten Straßenbahnhaltestelle von der in der Umgebung wohnhaften Zivilbevölkerung und von Zivilbesuchern am Eingang des Objektes noch gehört werden konnten.
An den Tumulten vor dem Stabsgebäude beteiligten sich vor allem Angehörige des Transportzuges, wobei die vier Beschuldigten erneut als Rädelsführer in Erscheinung traten. Besonders der Beschuldigte [Name 2] trat als Initiator von Sprechchören auf, in denen u. a. der OvD Ltn. [Name 5] als Feigling bezeichnet und mit anderen vulgären Ausdrücken beleidigt wurde.
Nach Aussagen von Zeugen hat [Name 2] in diesem Zusammenhang den versammelten Armeeangehörigen lautstark zugerufen, dass die Zustände in der Dienststelle Leipzig schlimmer seien als in Nagold2 und dass der »Deutschlandfunk« am nächsten Tag über die Vorfälle am Abend des 16.8. berichten würde. (In der bisherigen Untersuchung bestreitet [Name 2], derartige Äußerungen gemacht zu haben.)
Im Ergebnis dieser Aufrufe wurden unter den aufgeputschten Armeeangehörigen Forderungen laut, die Fensterscheiben des OvD-Zimmers einzuschmeißen, den OvD totzuschlagen, geschlossen das Objekt zu verlassen und die Veranstaltung im Filmtheater »Capitol«, Leipzig, aufzusuchen.
Der OvD Ltn. [Name 5] hatte sich während des Tumultes auf der zum Stabsgebäude führenden Treppe postiert und versuchte durch Befehl die Soldaten zur Ruhe und Ordnung zu bewegen und in ihre Unterkünfte abrücken zu lassen. Diese Befehle wurden jedoch nicht befolgt, wobei offensichtlich viele Soldaten wegen des Lärmes überhaupt nichts von dem verstanden haben, was Ltn. [Name 5] angeordnet hat. Die Bemühungen des hinzugekommenen Hptm. [Name 6], die Zusammenrottung aufzulösen, blieben gleichfalls ergebnislos.
Als das auf Befehl des OvD eingesetzte Einsatzfahrzeug den Film abtransportieren wollte, rief der Beschuldigte [Name 3] dazu auf, die Durchführung dieses Befehls zu verhindern und den Lkw zu stoppen. Diese Aufforderung fand die lautstarke Unterstützung weiterer Armeeangehöriger und wurde befolgt; der Beschuldigte [Name 2] stellte dabei den Motor des Lkw ab.
Gegen 20.45 Uhr zerstreute sich die Ansammlung nach einer Aufforderung des Beschuldigten [Name 1], der befürchtete, den Tumult nicht mehr in der Gewalt zu haben und für die weiteren Folgen verantwortlich gemacht werden zu können.
Eine Unterschätzung des Vorkommnisses führte dazu, dass weder Ltn. [Name 5] am Abend des 16.8.1964 seinen Dienstvorgesetzten und die Regimentsleitung dem übergeordneten Kommandeur und dem MfS pflichtgemäß Meldung erstatteten. Dadurch wurden die Untersuchungen zur genauen Aufklärung des Vorkommnisses wesentlich erschwert.