Behandlung der Passierscheinfrage in der Evangelischen Akademie
3. März 1964
Einzelinformation Nr. 190/64 über die Behandlung der Passierscheinfrage in der Evangelischen Akademie im demokratischen Berlin
Vor der Leitung der Evangelischen Akademie im demokratischen Berlin behandelte der Leiter der Evangelischen Akademie Westberlins Dr. Müller-Gangloff1 am 21.2.1964 die Passierscheinfrage.2 Dabei legte er seinen Standpunkt zu den Verhandlungen dar und äußerte sich über die Hintergründe des Verhaltens der Bonner Regierung und die, nach seiner Auffassung, künftig einzuschlagende Taktik. Müller-Gangloff gilt als persönlicher Freund des Westberliner Pressechefs Bahr3 und auch des Bonner Außenministers Schröder.4
Im Einzelnen führte er aus, dass die Passierscheinverhandlungen im Westen zu einer ausgesprochen innerpolitischen bzw. parteipolitischen Auseinandersetzung umgefälscht worden seien. Da sich 89 % der Westberliner Bevölkerung für die Passierscheinverhandlungen ausgesprochen hätten, seien der Westberliner CDU die Felle weggeschwommen. Sie habe deshalb die Bonner CDU beschworen, diesen Verhandlungen unter allen Umständen einen Riegel vorzuschieben, da ihr sonst in Westberlin der Untergang drohe. Aus diesem Grunde seien von Bonn aus jene Argumente hochgespielt worden, die man gegen die Weiterführung von Passierscheinverhandlungen vorbringen könne.
Es stelle sich dabei jedoch die Frage, ob eine politische Entwicklung, die, nach einem »gewissen Gefälle«, sowieso erfolge, dadurch aufgehalten werden kann, dass sich der Westen »ständig auf die Hinterbeine stellt«. Dadurch sei eine »Internationale Aufwertung« der DDR nicht zu vermeiden. Müller-Gangloff erinnerte in diesem Zusammenhang an die wiederholten Äußerungen des Journalisten Haffner,5 dass die Bundesrepublik auf die Dauer um eine Anerkennung der DDR nicht herumkommen wird.
Er erklärte dazu, er würde zwar, wäre er Politiker in Bonn, die DDR auch nicht anerkennen. Er würde jedoch alles tun, um den Vorgang der sogenannten Aufwertung der DDR auf irgendeine Weise aufzufangen. Die Bonner Regierung dagegen könne mit ihrem Verhalten auch innenpolitisch nicht erfolgreich sein. Adenauers6 »harte Politik« sei unter dem »weichen und schwabbligen Erhard7« nicht möglich.
Bonns gegenwärtiges Verhalten müsse sich verheerend auswirken, weil die Bundesregierung dadurch auch bei ihren westlichen Verbündeten in die Isolierung gerate. Die Behauptung, sowohl Erhard als auch Schröder seien bei dem Abkommen vom 17.12.19638 überspielt worden, sei unsinnig. Die Bonner Regierung könne sich ihrer Verantwortung für die Sabotierung der Passierscheinverhandlungen nicht entledigen.
Müller-Gangloff schätzte ein, es sei ein politisch ungeschicktes Verhalten, in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass dahinter bestimmte parteipolitische Interessen stehen. Allerdings könne die CDU bei weiteren Verhandlungen partei-politisch nichts gewinnen. Sie könnten nur die SPD immer mehr in den Ruf bringen, »neue Perspektiven« zu haben.
Heute könne die DDR mit guten Gewissen sagen, dass eine Vereinbarung, die Weihnachten möglich war, auch Ostern möglich sein müsste. Sie könne sich umso mehr darauf berufen, da sie ihre Angebote noch vergrößert habe.
Der seit Jahren im Westen vertretene Standpunkt, durch Beschränkung oder Verweigerung von Handelsbeziehungen könne die DDR »ausgehungert« werden, sei völlig unsinnig. Er wäre nur dann sinnvoll, wenn sich eine »Aufweichung« der Position der DDR abzeichnen würde. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass auf dem Wege einer »Aufweichung« der Positionen der Politik Walter Ulbrichts, den Willi Brandt9 beschreite, politisch viel weiterzukommen sei. Diese Konzeption sei die einzige, die dem Westen gegenwärtig einige wenige Chancen biete.
Müller-Gangloff äußerte dazu, er sei durch seine Verbindungen im demokratischen Berlin darüber informiert, dass die »harten Politiker in der SED« absolut gegen eine Wiederholung des Passierscheinabkommens vom 17.12.1963 seien. Sie würden die Verhandlungen nur weiterführen, um die Angelegenheit ausklingen zu lassen. Eine nochmalige »Begegnung von Millionen« werde von der SED nicht gewünscht.
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