Brand im Erdölverarbeitungswerk Schwedt (2)
17. November 1964
Einzelinformation Nr. 1025/64 über einen Brand in der Kolonne 9 der Rohöldestillation des EVW Schwedt, [Kreis] Angermünde, [Bezirk] Frankfurt/O., und über einige Fragen des Löschwesens in der chemischen Industrie
Am 13.11.1964, gegen 15.24 Uhr, bemerkte der Hauptdispatcher des EVW Schwedt [Name 1], dass am Kopf der Kolonne 9 aus der Entlüftungsleitung des Fallwasserkastens Produkte versprüht wurden und sich entzündeten.
Trotz sofort eingeleiteter Brandbekämpfung durch die Betriebsfeuerwehr wurden Anlagenteile der Kolonne 9 beschädigt, sodass insgesamt mit einem Sachschaden von ca. 20 TMDN gerechnet wird (ohne Produktionsausfall). Nach vorläufigen Angaben von Experten wird die Kolonne 9 wegen der Reparaturarbeiten ca. 8 bis 14 Tage nicht produzieren können.
Über die Ursachen und den Verlauf des Brandes wurden bisher folgende Hinweise erarbeitet: Am 12.11.1964 sollte die Kolonne 9 (K 9) erstmalig für die Bitumenerzeugung angefahren werden. Gegen 10.00 Uhr erfolgte die Füllung der K 9 mit heißem Dieselkraftstoff, in der Absicht, sie aufzuwärmen. Dabei wurde das Versagen des Transmitters (Füllstandanzeiger) festgestellt.
Um jede Gefahr zu vermeiden, wurde zunächst der Dieselkraftstoff über die Sumpfpumpen im Kreislauf gefahren und außerdem sofort die Reparatur des Transmitters durch den BMSR-Techniker [Name 2], Abt. Betriebskontrolle, begonnen. Die Reparaturarbeiten dauerten bis zum Morgen des 13.11.1964 an, wobei schließlich erkannt wurde, dass es nicht möglich ist, den Transmitter zu reparieren.
Daher wurde am 13.11.1964, gegen 8.30 Uhr, auf Veranlassung von [Name 2] und eines weiteren BMSR-Technikers von vier Mess- und Regeltechnikern der Transmitter vom Vakuumdestillat 2 an der K 9 eingesetzt. Diese Arbeiten wurden gegen 10.00 Uhr beendet. [Name 2] und der Hauptabteilungsleiter der Rohöldestillation Diplom-Ingenieur [Name 3] meldeten die Funktionstüchtigkeit und Einsatzbereitschaft des neu eingebauten Transmitters.
Unter Leitung von [Name 3] wurde danach die Füllung der K 9 mit Dieselkraftstoff fortgesetzt.
Gegen 13.00 Uhr war die K 9 soweit vorgewärmt, dass der Dieselkraftstoff abgepumpt werden konnte. Nach Angaben von [Name 2] und [Name 3] reagierte der Transmitter sowohl auf die Entleerung der K 9 – gegen 13.00 Uhr wurde Leerstand angezeigt – als auch auf die Füllung mit Vakuumrückstand, dem Einsatzprodukt für die K 9.
Bei Schichtwechsel gegen 15.00 Uhr zeigte der Transmitter normale Messwerte an (330 mm – am Messpult der Schaltwarte).
Diese Werte werden von genannten Personen als normal bezeichnet. Nach Aussagen des Anlagenpersonals blieb die o. g. Anzeige von 330 mm bis zum Brandausbruch gegen 15.24 Uhr konstant.
Gegen 15.24 Uhr bemerkte der Hauptdispatcher des EVW Schwedt [Name 1] von seinem Arbeitszimmer aus, wie am Kopfende der K 9 aus der Entlüftungsleitung des Fallwasserkastens Produkte versprühten und sich im gleichen Augenblick entzündeten. [Name 1] verständigte sofort die Feuerwehr, die etwa vier Minuten später die Brandbekämpfung aufnahm.
Gegen 15.30 Uhr stellte der Schichtleiter [Name 4] in der Messwarte der Rohöldestillation – am Zeitschreiber – ein plötzliches Ansteigen der Kopftemperatur an der K 9 fest. Da er die Funktionsuntüchtigkeit des Transmitters an der K 9 vermutete, begab er sich sofort zur Kolonne 7. Etwa in Höhe der Kolonne 7 sah er, wie die ersten Arbeiter die Brandbekämpfung bereits aufgenommen hatten. Der Brand konnte sofort unter Kontrolle gebracht und gelöscht werden. Das stoßweise Versprühen von Produkten aus der Entlüftungsleitung hielt aber noch bis gegen 15.45 Uhr an.
Anschließend erfolgte die Leerung und Spülung der K 9, um mit den Untersuchungen und der Reparatur beginnen zu können.
Über die Ursachen des Brandausbruches werden, da diese Anlagen Neukonstruktionen darstellen und daher verfahrenstechnisch noch nicht vollständig beherrscht werden, von den Fachexperten unterschiedliche Auffassungen vertreten.
Die Untersuchungskommission stellte als vermutliche Brandursache fest, dass das am Kolonnenkopf austretende (versprühte) etwa 350°C heiße Produkt sich an der Luft oder an den unisolierten Teilen der 12-atü-Dampfbegleitheizung entzündet hat.
Das Versprühen des heißen Produkts – sogenannten Überfahren der Kolonne – ist nach Meinung dieser Fachleute auf folgenden Vorgang zurückzuführen: Der eingebaute Transmitter steuert einen Luftdruck von 0,2 bis 1,0 atü, gleichbedeutend mit einer Anzeige von 0–400 mm auf dem Pult der Messwarte.
Der Luftdruck wird am Transmitter durch ein Manometer angezeigt. Bei Eichung eines Transmitters wird die Grundstellung (gleichbedeutend mit einem Luftdruck von 0,2 atü) auf dem Manometer mit Null eingestellt. Da die Manometer eine große Fehlergrenze aufweisen, muss bei der Eichung ein geeichtes Feinmessmanometer zum Vergleich zwischengeschaltet werden.
Bei der Untersuchung der Ursachen erfolgte eine Überprüfung des Transmitters und des Manometers. Dabei wurde festgestellt, dass das Manometer des Transmitters statt 0,2 atü (Grundstellung) auf 0,26 atü eingestellt war. Offensichtlich ist durch die BMSR-Techniker beim Einbau des Transmitters der effektive Messbereich nicht exakt geprüft worden, sodass die auf den Messgeräten angezeigten Werte nicht mit den effektiven Bedingungen in der K 9 übereinstimmten. Dadurch kam es zu höheren Drücken und zum Versprühen der heißen Produkte am Kopfende der K 9. Auf die unzureichende Überprüfung des Transmitters und seines Manometers deutet auch der Umstand hin, dass nach Aussagen der Anlagenfahrer der Zeiger des Manometers konstant in seiner Lage verharrte, obwohl bei laufender Produktion ein ständiger Umlauf der Produkte in der Kolonne erfolgt. Der Umlauf der Produkte hätte bei richtiger Einstellung der Geräte ein leichtes Vibrieren des Anzeigegerätes bewirken müssen.
Durch einen an der Montage beteiligten BMSR-Techniker wurde bekannt, dass eine Prüfung mit einem Feinmessmanometer vorgesehen war, davon jedoch Abstand genommen wurde, weil die Standanzeige in der Messwarte mit den Anzeigenwerten des Manometers am Transmitter übereinstimmte.
Der verantwortliche Schichtleiter [Name 4] erklärte, nichts von einer Anweisung zur Überprüfung neu eingebauter Transmitter zu wissen, räumte jedoch gleichzeitig ein, aus Erfahrungswerten der Vergangenheit Kenntnis davon zu haben, dass beim Einbau von Transmittern Prüfungen durch geeichte Feinmessmanometer vorgenommen werden.
Der Abteilungsleiter BMSR der HA Betriebskontrolle erklärte seinerseits, bei Einbau von Transmittern sei die Anwendung des Eichmanometers selbstverständlich und daher bestehe keine zentrale oder betriebliche Anweisung darüber. Nach seiner Einschätzung ist jedoch die erforderliche Belehrung des Gruppen- und Schichtleiter sowie der Monteure nicht regelmäßig durchgeführt worden. (Gegenwärtig werden noch Überprüfungen geführt, ob in den Bedienungsvorschriften eine Weisung enthalten ist, inwieweit bei Einbau von Transmittern eine Überprüfung des Messbereiches mittels Eichmanometers vorgenommen werden muss.)
Nach Angaben von Arbeitern und Experten bestehen an der Kolonne 6 der Rohöldestillation gleiche Gefahrenquellen wie an der K 9 vor dem Brandausbruch (Mängel an der Mess- und Regeltechnik).
Die K 6 produziert Dieselkraftstoffe. Anfang November 1964 erfolgte die Umstellung der Produktion von Sommer- auf Winter-Dieselkraftstoff (DK). Bei der Destillation des Winter-DK entstanden bisher Schwierigkeiten, weil die schweren Teile des DK in den atmosphärischen Rückstand gelangen können. Diese Gefahren bestehen bei der Produktion von Sommer-DK nicht.
Von Fachexperten aus dem EVW Schwedt wird darauf hingewiesen, dass bei sowjetischen Typenanlagen und im Mineralölwerk Lützkendorf derartige Schwierigkeiten bei der Produktion von Winter-DK nicht bestehen. In diesen Destillationsanlagen bestünden Möglichkeiten, die schweren Bestandteile gesondert abzuziehen, sodass sie nicht in den atmosphärischen Rückstand gelangen können.
Bei den Destillationsanlagen im EVW Schwedt war diese Entnahmemöglichkeit ebenfalls vorhanden, wurde jedoch durch technologische Änderungen der IZ Böhlen anderen Verwendungszwecken zugeführt.
Die in die K 6 eingeleiteten Rohstoffe enthalten u. a. die schweren Teile des DK. Unter den in dieser Kolonne herrschenden Betriebsbedingungen (Druck und Temperatur) verdampfen diese Bestandteile sehr leicht und gelangen über den Kopf der Kolonne in den Fallwasserkasten der Vakuumdampfstrahler. Der Fallwasserkasten wird nur durch einen lose aufsitzenden Deckel abgeschlossen. Außerdem ist an ihm ein Entlüftungsrohr angebracht. Beide Anlagenteile befinden sich in Höhe des Kolonnenkopfes.
Die leicht verdampfbaren Bestandteile des Einsatzproduktes in der K 6, u. a. die schweren Teile des DK, gelangen über das Kopfende der Kolonne in den Fallwasserkasten. Je nach Anfall der heißsiedenden Produkte im Fallwasserkasten besteht die Möglichkeit, dass ein Teil, durch den losen Deckel bedingt, überläuft und vergast, wobei es zu Entzündungen kommen kann. Von Fachleuten des EVW Schwedt, die zum Erfahrungsaustausch in der SU weilten, angefertigte Mängelanzeigen und Änderungsforderungen an das IZ Böhlen sind bisher von den verantwortlichen Projektanten nicht anerkannt worden.
Die K 6 wird, um die Anlage warm zu halten, gegenwärtig nur im Kreislaufbetrieb gefahren. Eine Produktion von Winter-DK ist unter diesen Umständen nicht möglich.
Die Wiederaufnahme der Produktion von Winter-DK wird von den verantwortlichen Ingenieuren des EVW abgelehnt, weil nach ihrer Meinung aufgrund der bestehenden Mängel eine akute Brandgefahr besteht.
Im Zusammenhang mit diesem Vorkommnis sieht sich das MfS veranlasst, auf einige weitere Gefahrenquellen im EVW Schwedt, die beim Zusammentreffen verschiedener begünstigender Faktoren Havarien mit Katastrophencharakter hervorrufen können, aufmerksam zu machen.
Als eine solche Gefahrenquelle wird z. B. nach Einschätzung der Fachexperten die Gasfackel des EVW Schwedt angesehen. Diese Gasfackel befindet sich in der Nähe des Gasfeldes (HA – Gase), wodurch es bei einer ungünstigen Windrichtung zu einer Zündung mit nachfolgender Explosion kommen könnte.
Auch an anderen Anlagen bestehen noch Möglichkeiten von Flüssigkeits- und Gasausbrüchen. Angesichts dieser Gefahrenquellen und des Umgangs mit leicht brennbaren und hochexplosiven Stoffen entstehen erhebliche Gefahren für die Produktionsanlagen und die an den einzelnen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Ingenieure.
Nach den vom MfS geführten Überprüfungen sind jedoch nicht nur im EVW Schwedt, sondern in der gesamten Chemieindustrie keine geeigneten und wirksamen Löschmittel und -möglichkeiten vorhanden. Beispielsweise stehen gegenwärtig im EVW Schwedt und anderen Betrieben der VVB Mineralöle und organische Grundstoffe zur Bekämpfung von Flüssigkeits- und Gasausbrüchen mit Brandfolge nur Schaumlöschfahrzeuge kleinerer Größenordnung zur Verfügung. Im EVW Schwedt wurde ein Skoda-Fahrzeug zum Schaumlöschfahrzeug (Kessel mit einem Fassungsvermögen von 4 000 l) umgebaut. Nach Einschätzung von Fachexperten bietet dieses Fahrzeug beim Ausbruch von Flüssigkeits- und Gasausbrüchen mit Brandfolge keine Gewähr, größere Havarien bzw. Katastrophen verhindern zu können.
Der zur Schaumerzeugung notwendige Wasserdruck soll an diesem Löschfahrzeug durch eine Gasturbine des VEB Gasturbinen- und Entwicklungsbau Pirna erzeugt werden. Diese Gasturbine ist jedoch nach bisherigen Feststellungen noch nicht funktionstüchtig und stellt bei einem Einsatz in einer gefährdeten Gaszone wegen ihrer glühend heißen Abgase selbst eine Gefahr als Zündquelle dar.
Eine wirksame und schnelle Bekämpfung von Flüssigkeits- und Gasausbrüchen ist nach bisherigen internationalen Erfahrungswerten nur durch den Einsatz von Pulverlöschmitteln gewährleistet. Zur Bekämpfung derartiger Havarien müsste für jeden größeren Chemiebetrieb der DDR mindestens ein Pulverlöschfahrzeug mit einem Fassungsvermögen von ca. 1 500 kg zur Verfügung stehen.
Durch Fachleute wird darauf hingewiesen, dass z. B. im kapitalistischen Ausland ein Erdölverarbeitungswerk in der Größenordnung des EVW Schwedt nur angefahren wird, wenn ein Pulverlöschfahrzeug bereit steht. Beispielsweise wird auf die Staatliche Erdölraffinerie Schwechat/Österreich hingewiesen, in der ein Schaum- und zwei Pulverlöschfahrzeuge vorhanden sind.
Für das EVW Schwedt wurde zwar bei der Firma Rosenbauer/Linz/Österreich ein 8,5 t Schaumlöschfahrzeug bestellt, jedoch ist in absehbarer Zeit noch nicht mit der Auslieferung zu rechnen.
Zur Schaffung entsprechender Möglichkeiten zur Bekämpfung von Flüssigkeits- und Gasausbrüchen mit Brandfolge wird von verschiedenen Fachleuten darauf hingewiesen, eventuell in Kooperation mit der Firma Rosenbauer/Linz Pulverlöschgeräte auf DDR-Fahrzeuge montieren zu lassen. Die Aufbaukosten je Fahrzeug sollen sich auf ca. 50 TMDN belaufen.
Weiter wird es als zweckmäßig erachtet, die Forschungsgruppe unter Leitung von Diplom-Ingenieur [Name 5], VEB Industriewerk Karl-Marx-Stadt, bei der Erfüllung der Aufgaben stärker zu unterstützen. So erhielt z. B. diese Gruppe über die DIA-Elektrotechnik ein Pulverlöschgerät der Firma Unimag/Westdeutschland. Das Pulverlöschgerät, mit einem Fassungsvermögen von 750 kg, wurde durch den VEB Deutrans Mitte Juli 1964 beschädigt angeliefert. Seit diesem Zeitpunkt darf die Forschungsgruppe an diesem Gerät noch keine Forschungsarbeiten betreiben, weil die Versicherungsorgane des VEB Deutrans die Beschädigung nur schleppend bearbeiten und die Freigabe bisher nicht gestattet haben.
Mit diesem Gerät wurden zugleich drei verschiedene Sorten Trockenlöschpulver mitgeliefert, die zu Untersuchungs- und Forschungszwecken dem VEB Feuerlöschgerätewerk Neuruppin übergeben wurden. In diesem Betrieb liegen aber zzt. noch keine greifbaren Ergebnisse eines eigenen einsatzfähigen Löschpulvers vor.
Eine einheitliche und zielgerichtete Entwicklung des Feuerlöschwesens in der DDR wird auch durch das Fehlen einer einheitlichen Leitung der Feuerlöschgeräteindustrie und der Betriebe zur Entwicklung neuer Löschmittel und -verfahren erschwert. Sämtliche Betriebe der Feuerlöschgeräteindustrie befinden sich im Verantwortungsbereich der örtlichen Organe.
Nach vorliegenden Hinweisen sind selbst von der Leitung der chemischen Industrie – der HA Chemie des Volkswirtschaftsrates – in der Vergangenheit kaum Maßnahmen eingeleitet worden, um die Forschungen auf dem Gebiet der Verhütung von Bränden und Explosionen in der chemischen Industrie zu beschleunigen.
So wandte sich z. B. das Institut für Brand- und Explosionsbekämpfung im Bergbau und in der Industrie – Versuchsstrecke Freiberg – an die HA Chemie und bat um Übergabe der in den kommenden Jahren zu lösenden Forschungsaufgaben. Bisher wurde diese Anfrage überhaupt nicht beantwortet, sodass nunmehr die Probleme der Brand- und Explosionsbekämpfung in der chemischen Industrie im Perspektivplan der Versuchsstrecke Freiberg unberücksichtigt geblieben sind.