Brief von Bischof Jänicke an Bundeskanzler Erhard
29. August 1964
Einzelinformation Nr. 709/64 über einen Brief des Evangelischen Landesbischofs Jänicke/Magdeburg an Bundeskanzler Erhard
Wie dem MfS zuverlässig bekannt wurde, hat der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Magdeburg, Jänicke,1 mit Datum vom 13.8.1964 einen Brief an Bundeskanzler Erhard2 gesandt, in dem er zur Kontaktaufnahme und zu Verhandlungen zwischen den verantwortlichen Politikern der Bundesrepublik und der DDR auffordert. Abschriftlich wurde dieser Brief an den Bundestagspräsidenten Gerstenmaier3 und den Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Scharf,4 übersandt. Nach bisherigen Feststellungen ist dieser Brief von Jänicke ohne vorherige Beratung mit den anderen Bischöfen der DDR bzw. den Mitgliedern seiner Kirchenleitung verfasst worden. Nachstehend der genaue Wortlaut des Schreibens:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Im Januar dieses Jahres schrieb ich, damals unter dem Eindruck des Schreibens des Staatsratsvorsitzenden der Deutschen Demokratischen Republik, einen Brief an einige mir nahestehende Kirchenführer aus der Bundesrepublik, in welchem ich darum bat, bei den führenden Männern in der Bundesrepublik auf ein Zustandekommen von Gesprächen zwischen den verantwortlichen Vertretern des Staates im Osten und im Westen hinzuwirken. Da mir über eine Auswirkung dieses Briefes nichts bekannt geworden ist, wende ich mich nun direkt an Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, um das Anliegen, das ungezählte Deutsche im Osten wie im Westen teilen, zum Ausdruck zu bringen. (Ein Brief gleichen Wortlautes ergeht an den Herrn Bundestagspräsidenten.) Dabei ist es mir wichtig, gleich im Eingang zu betonen, dass ich hier in keiner politischen Bindung stehe und mich von jeglichem Auftrag politischer Stellen in der Deutschen Demokratischen Republik frei weiß. Ja, fast möchte ich sagen, dass ich nichts so fürchte wie eine propagandistische Auswirkung dieses Briefes in der Öffentlichkeit, weil er damit seiner Glaubwürdigkeit beraubt würde. Die Dinge liegen nun einmal so, dass jedes Unternehmen zur Vollmachtlosigkeit und Fruchtlosigkeit verurteilt ist, sobald es in den Sog der im Westen wie im Osten üblichen Schwarz-Weiß-Malerei hineingerät.
Vorausschicken möchte ich auch, dass die hier ausgesprochene Bitte nicht mit der Vorgabe der Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik verbunden sein kann. Wie die Dinge nun einmal liegen, wäre es unrealistisch, dies zu fordern. Selbst die Politiker der Deutschen Demokratischen Republik werden das nicht erwarten. Es geht mir lediglich um das Anliegen einer unmittelbaren Kontaktaufnahme zwischen den verantwortlichen Politikern im Westen und im Osten. Dieser Brief ist geschrieben zwischen den mahnenden Tagen des Gedenkens an den 1. August 1914 und den 1. September 1939. Wie sollten die großen Worte, die in diesen Wochen hierzu gesprochen werden, nicht mit Bitterkeit als unverbindliche Redensart empfunden werden, wenn nicht ein kleiner Schritt einer tätigen Buße und einer Umkehr von unfruchtbaren Wegen der Vergangenheit wirklich getan wird! Ich kann Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, versichern, dass die zahlreichen Reden und Aufsätze dieser Wochen weithin diese Reaktion auslösen. Vor uns steht dann die offenbare fortschreitende Verhärtung in Selbstrechtfertigung auf beiden Seiten und die Fülle der verpassten Möglichkeiten in den letzten eineinhalbJahrzehnten. Wie ist doch etwa die Möglichkeit eines unbefangenen Gespräches zwischen Politikern des Westens und des Ostens, wie es vor zehn Jahren im Rahmen des Leipziger Deutschen Evangelischen Kirchentages noch geführt werden konnte, heute in unabsehbare Ferne gerückt! Man kann das jetzt nur mit großer Traurigkeit, ja mit bitterer Enttäuschung feststellen.
Man kann mir natürlich einwenden: Sie sind ein Mann der Kirche und mischen sich hier in ein Amt, das Ihnen nicht zusteht. So wie Sie reden, kann nur ein politisch unterbelichteter Mann sprechen, der in schuldhafter Naivität die Dinge simplifiziert und die Kompliziertheit der politischen Situation, gewollt oder ungewollt, übersieht. Darauf kann ich nur antworten: Gerade als evangelischer Christ fühle ich mich in meinem Gewissen gedrungen, den verantwortlichen Christen im anderen Teil Deutschlands anzureden. Denn gerade als christliches Anliegen ist die Forderung gemeint, seinem Widersacher, mit dem man noch – wie lange noch? – auf dem Wege ist, wenigstens insofern willfährig zu sein (Matthäus 5.25)5, dass man sich dem Miteinander-Reden nicht versagt. Und wenn man mir sagt: Wo kommen wir hin, wenn wir jetzt anfangen wollten, die Worte Jesu in der Bergpredigt auf die Politik anzuwenden? – so kann ich darauf nur antworten: Wo sind wir eigentlich hingekommen, indem wir an diesen Worten so geflissentlich vorbeigehen, wie es die deutsche Politik in ihrer schuldvollen Geschichte bisher immer getan hat?
Und gerade als Christ nehme ich die gemeinsame Schuld aller Deutschen in der Vergangenheit, von denen die Gedenktage dieser Wochen Zeugnis geben, so ernst, wie sie vor Gottes Angesicht genommen werden muss, und kann nicht in das billige Gerede einstimmen, dass das doch nun allmählich verjährt sei und dass man nicht immer wieder von den alten Dingen reden solle und dass ja die anderen auch nicht besser seien! Schuld – so sagt es doch unser christlicher Glaube – muss vergeben werden. Wie kann ich aber die Annahme der Vergebung durch uns Deutsche glaubwürdig machen, wenn nicht in der Überwindung der Selbstrechtfertigung kleine Schritte aufeinander zu getan und damit kleine Zeichen der Sühne aufgerichtet werden? Deswegen verfängt auch nicht der Hinweis auf die Bindung an die jeweiligen Machtblöcke. Die Bedeutung dieser Tatsache ist mir wohl bewusst; aber hier sind allein wir Deutsche gefordert, weil wir miteinander durch Unrecht und Gewalt, die wir anderen Völkern angetan haben, in so ungeheuerliche Weise schuldig geworden sind. Dass ich dies hier im Osten zu sagen nicht müde werde, möchte ich eben nur erwähnen, ist aber wohl auch nicht ganz unbekannt.
Miteinander reden ist notwendig, weil uns Deutsche heute die Chance gegeben ist, als entmilitarisiertes Land der Herd einer ansteckenden Gesundheit zu werden, so wie wir in der Vergangenheit durch unsere militärische Macht und Gewaltanwendung zum Unglück für die Völker wurden. Es sollte uns doch wohl, wenn wir wirklich aus der Geschichte bußfertig zu lernen bereit sind, unmöglich sein, uns so bewaffnen zu lassen, dass jeweils der andere Teil Deutschlands das als eine Bedrohung fürchten muss. Hier zu einem vernünftigen Weg zu kommen, auf dem der Unordnung im eigenen Land gewehrt, aber eine gegenseitige Bedrohung ausgeschlossen wird, kann doch nur Gegenstand eines Gespräches von Deutschen mit Deutschen sein. Noch einmal: Das nimmt uns keiner ab, weil keiner so die Bewältigung der Vergangenheit als Aufgabe auf sich nehmen muss und kann wie wir Deutsche im ganzen Deutschland! Jeder weiß, wenn es heute irgendwo wetterleuchtet und der Friede bedroht erscheint – das geschieht ja in diesen Wochen verschiedentlich! – dass es morgen oder übermorgen so weit sein kann, dass beim Zusammenprall der Machtblöcke Deutsche gegen Deutsche die Waffen richten. Das will keiner, und wenn das über Nacht doch geschähe, wird jeder versichern, dass er das wirklich nicht gewollt habe, und man wird das sogar glauben müssen.
Wie aber kann das wirksam verhindert werden, wenn die von dieser Gefahr schrecklich bedrohten Partner es nicht einmal fertig bringen, miteinander zu reden, so lange es noch Zeit ist?
Ich kann in diesem Zusammenhang auch nicht verschweigen, dass das Gerede vom »unteilbaren Deutschland« und von dem nicht aufgegebenen Fernziel der Wiedervereinigung hier weithin nur mit Bitterkeit, ja mit Hohn beantwortet wird. Eineinhalb Jahrzehnte müssen wir nun unter diesen kaum mehr zu ertragenden Reden zusehen, wie sich die beiden Teile Deutschlands auseinanderleben und die gegenseitige Verständigung immer schwieriger wird.
Und nun frage ich: Glaubt man denn wirklich, wir könnten der Wiedervereinigung näher kommen, ohne dass Kontakte miteinander aufgenommen werden? Wiedervereinigung kann doch niemals so aussehen, dass der eine Teil Deutschlands vom andern vereinnahmt wird! Oder meint man wirklich, die vom Westen permanent erhobene Forderung sogenannter freier Wahlen könnte durchgesetzt werden, ohne dass sich die verantwortlichen Deutschen aus beiden Teilen Deutschlands über Grundsätze und Modus der Durchführung miteinander verständigen? Damit will ich zur Sache selbst noch gar nicht Stellung genommen haben, möchte aber in diesem Zusammenhang das Eine doch nicht verschweigen: Es ist psychologisch verständlich, dass viele, die die Deutsche Demokratische Republik verlassen und sich »drüben« eine neue Heimat gesucht haben, diesen Schritt, über den sie oftmals nicht ganz froh und eines guten Gewissens getrost geworden sind, damit zu rechtfertigen suchen, dass man ja unter dem System hier nicht leben könne, schon gar nicht als Christ! Diese Meinung erhält ja auch durch die Propaganda des kalten Krieges immer neue Nahrung. Sie werden es mir glauben, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, dass ich in meinem Amt von den Gewissensnöten der Christen, gerade auch der jungen Christen, etwas mehr weiß als irgendjemand aus der Bundesrepublik. Dennoch sage ich es eindeutig und ohne Einschränkung: Wer glaubt, darf so nicht sprechen! Und oft genug war die Flucht von hier eine Flucht vor der uns hier von Gott gestellten, gewiss nicht leichten, aber unausweichlichen Aufgabe. Das sage ich, ohne damit über den Einzelnen und seinen Weg richten zu wollen.
Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesen Ausführungen schon oft – und doch wohl je länger mit umso größerer Dringlichkeit – Gesagtes ausspreche. Aber vielleicht ist es doch nicht ganz unwichtig zu wissen, dass ein politisch unverdächtiger Kirchenmann politisch verantwortliche Männer bittet und beschwört, um Gottes und der Menschen willen Schritte in der Richtung aufeinander zu zu tun. Dass Kirchenmänner in beiden Teilen Deutschlands dabei zu diakonischer Hilfe gegebenenfalls bereit wären, glaube ich versichern zu können.
Und wenn ich dann auf eine Antwort rechnen dürfte – worum ich herzlich bitte! – dann möge die Antwort nicht in dem »Wort an die Zone« erfolgen, für das ja täglich neuer Stoff da sein muss und vielleicht auch ein solcher Brief einmal als willkommener Anknüpfungspunkt dienen könnte! Dass ich im Übrigen die Freiheit gebe, von der Tatsache und dem Inhalt dieses Schreibens jeden Gebrauch zu machen, möchte ich am Schluss noch ausdrücklich aussprechen.
Dem MfS wurde ergänzend zur Information Nr. 694/64 vom 26.8.1964 bekannt, dass inzwischen vom Vatikan entschieden worden ist, für die Reise von Erzbischof Bengsch6 und seiner Begleitung zur 3. Sitzungsperiode des Vatikanischen Konzils7 im September in Rom vatikanische Pässe auszustellen. Da auch das italienische Außenministerium sich bereit erklärt hat, diese Pässe mit den entsprechenden Visa zu versehen, können Bengsch und die ihn begleitenden Personen erstmalig unter Umgehung des sogenannten Alliierten Reisebüros8 nach Italien reisen.9
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