Einschätzung der politischen Situation in der IG Metall
24. September 1964
Einzelinformation Nr. 805/64 über die Einschätzung der politischen Situation in der IG Metall durch einen führenden Funktionär
Nach Angaben einer zuverlässigen Quelle schätzte ein führender Funktionär der IG Metall die politische Lage in seiner Organisation folgendermaßen ein: Zunächst stimmte er der Auffassung zu, dass sich der Vorstand der IG Metall in den letzten Monaten in politischen Grundfragen sehr zurückhaltend gezeigt hat.
Aus diesem Umstand darf man nach Meinung des Funktionärs nicht den Schluss ziehen, dass die IG Metall eine politische Kursänderung vorgenommen habe. Vielmehr sei diese Tatsache mit einer Reihe zeitbedingter Erscheinungen zu erklären:
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Durch den Fall Brandt,1 durch den die gesamte Organisation stark belastet wurde.
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Durch die Hochkonjunktur, die insgesamt die Aktivität der Mitglieder und vieler Funktionäre behindert. Vor allem tragen Überstunden und Doppelschichten dazu bei, dass politische Diskussionen nicht mehr sehr oft geführt werden.
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Außerdem ist es üblich, dass in der Urlaubsperiode eine gewisse politische Windstille eintritt.
In diesem Zusammenhang erklärte der Funktionär, dass auch der Tod Ollenhauers2 eine bestimmte Unsicherheit im Vorstand herbeigeführt hat, ohne dass jedoch die politische Selbstständigkeit der IG Metall aufgegeben wurde. Er sei überzeugt, dass innerhalb der IG Metall in den nächsten Wochen und Monaten politische Fragen in stärkerem Maße in den Mittelpunkt des gewerkschaftlichen Lebens gestellt werden. Der 8. Gewerkschaftstag der IG Metall im nächsten Jahr3 macht auf jeden Fall eine Neueinschätzung der Situation erforderlich.4 Die gegenwärtige Lage in der Organisation hat bei verschiedenen verantwortlichen Funktionären eine gewisse Beunruhigung hervorgerufen. Der Bezirksleiter der IG Metall von Essen Manowski5 erklärte u. a., dass der Vorstand umgehend Maßnahmen einleiten muss, um die politische Aktivität in der Organisation zu verstärken. Nach Meinung Manowskis ist es einfach nicht zu verantworten, dass bedeutende politische Fragen, wie z. B. das Passierscheinabkommen,6 die Notstandsgesetze,7 der vorgesehene Besuch Chruschtschows in Bonn8 und die Atomaufrüstung9 keine Rolle in der breiten Mitgliedschaft spielen. Nach Auffassung Manowskis darf die IG Metall ihre Aufgabe nicht nur darin sehen, auf den Gewerkschaftstagen gute Beschlüsse zu fassen, sondern muss auch einiges zu ihrer Verwirklichung tun.
Der führende Funktionär der IG Metall zeigte großes Interesse an den nationalen Problemen, vor allem an der Frage der Wiedervereinigung. Nach seiner Auffassung werden auch die westdeutschen Gewerkschaften früher oder später gezwungen sein, die Deutschlandpolitik neu zu durchdenken. Er hat den Eindruck, dass gegenwärtig noch vielfach ein politischer Eiertanz aufgeführt wird, anstatt den Realitäten ins Auge zu sehen. So hat es z. B. im Vorstand der IG Metall längere Debatten über die Entsendung von Mitgliedern bzw. Delegationen der IG Metall in sozialistische Länder gegeben. Dort hat der führende Funktionär den Standpunkt vertreten, dass der Vorstand den Mut aufbringen muss, für seine Entscheidungen auch in der Öffentlichkeit geradezustehen. Es geht nicht an, dass die IG Metall in die Ostblockländer Vertreter entsendet, die dort unter fremder Flagge auftreten. Man soll sich beispielsweise die westdeutsche Wirtschaft zum Vorbild nehmen, deren Vertreter in dieser Hinsicht den Gewerkschaften weit voraus sind.
Der führende Funktionär sagte, er habe zwar den Eindruck, dass praktisch alle Vorstandsmitglieder sich manchmal in ihrer eigenen Haut nicht wohl fühlen, aber nicht bereit sind, ein Tabu zu durchbrechen und damit ein größeres Risiko einzugehen. In diesem Zusammenhang äußerte der Bezirksleiter von Essen Manowski, dass sich Bonn mit seiner Deutschlandpolitik in der Sackgasse befindet. Wenn die IG Metall von einer eigenen Konzeption in der deutschen Frage sprechen will, dann muss man ehrlich genug sein zuzugeben, dass sich auch diese in der Sackgasse befindet. Die DDR ist nun einmal eine Realität und davon müssen die Gewerkschaften endlich Kenntnis nehmen. Selbst wenn einige Vorstandsmitglieder, wie auch Otto Brenner,10 der Auffassung sind, man müsse zu jedem Frühstück einige Kommunisten verzehren, dann ist das kein Ausweg. Mit dem vielfach in der IG Metall praktizierten Antikommunismus kann die deutsche Frage nicht gelöst werden.
Der führende Funktionär erklärte ferner, ihm selbst sei nicht klar, wie es überhaupt in der Deutschlandpolitik weitergehen soll. Ihm sei bekannt, dass auch viele seiner Kollegen ähnliche Sorgen haben. Seine Fragen bezogen sich auf folgende Probleme:
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Wird durch eine Anerkennung der DDR die Zementierung der Spaltung Deutschlands vollzogen bzw. tragen nicht bereits Kontakte zwischen den Gewerkschaften beider deutscher Staaten zur Zementierung bei?
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Wie und auf welchem Wege soll die Wiedervereinigung erreicht werden? (Die Vorschläge der DDR über eine Konföderation sind nur allgemein bekannt.)
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Wie stellt sich die DDR das wiedervereinigte Deutschland vor, welche soziale Ordnung soll vorhanden sein und welche Rolle sollen die Gewerkschaften einnehmen?
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Welche parlamentarische Ordnung soll geschaffen werden?
Durch die kluge und volksverbundene Politik von Chruschtschow wurde der Menschheit ein großer Dienst erwiesen. Es ist ein Glück für die Völker, dass er an der Spitze der Sowjetunion steht. Was geschieht jedoch, wenn aus irgendwelchen Umständen ein Wechsel in der Führungsspitze eintritt? Ferner stellt er die Frage nach den Ursachen und dem Wesen der chinesischen Politik, wobei er besonders erfahren wollte, wie und auf welche Weise der Konflikt beigelegt werden soll. Wie würde sich die DDR verhalten, wenn es zwischen China und der Sowjetunion zu militärischen Auseinandersetzungen kommen würde?11 Über die Entwicklung der DDR äußerte er sich positiv. Nach seiner Meinung hat die DDR nach den ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen in der letzten Zeit beachtliche Erfolge aufzuweisen. Dabei sei in bestimmten Kreisen ein auffallendes Interesse vorhanden, das neue ökonomische System in seiner Funktionsweise kennenzulernen. Falls es der DDR gelingen sollte, die anlässlich der Olympiaausscheidungen erreichten Erfolge auch auf wirtschaftliches Gebiet auszudehnen, kann er sich sehr gut einen allgemeinen Stimmungsumschwung in der westdeutschen Bevölkerung vorstellen. Vorerst hält er es nicht für angebracht, dass Parlamentarier in Westdeutschland öffentlich ihre Stimme für Kontakte mit der DDR erheben, da sie doch nur Rufer in der Wüste sein würden.
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