Fahnenflucht eines NVA-Offiziers
26. September 1964
Einzelinformation Nr. 814/64 über die Fahnenflucht des Leutnants [Name 1, Vorname] vom Ausbildungsbataillon des Grenzregiments Wittenburg am 18. September 1964 nach Westdeutschland
Am Abend des 17.9.1964 hielt sich der Leutnant [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1939, NVA seit 10.3.1958, Zugführer im Ausbildungs-Bataillon, GR Wittenburg, 3. GR-Brigade, SED seit April 1959, Parteisekretär in der 7. Kompanie, mit Gefreitem [Name 2] (gleiche Einheit) in der Gaststätte »Stadt Hamburg« in Wismar auf, wo sie gemeinsam zechten. Im Verlaufe des Abends und auf dem Rückweg zur Einheit versuchte Leutnant [Name 1] wiederholt sich [dem] Gefreiten [Name 2] unsittlich zu nähern. Gefreiter [Name 2] verwahrte sich dagegen, schlug Leutnant [Name 1] nieder und kehrte allein gegen 1.00 Uhr zum Objekt zurück, wo er dem OvD über das Verhalten des [Name 1] Meldung erstattete. Nach Rücksprache mit dem 1. Stellvertreter des Kommandeurs der GR Wittenburg Oberstleutnant [Name 3] wies dieser den OvD an, eine Streife zur Suche des Leutnant [Name 1] einzusetzen, jedoch keine weiteren Maßnahmen einzuleiten, da er persönlich am 18.9.1964 eine Klärung herbeiführen wollte.
Erst nachdem Oberstleutnant [Name 3] am 18.9.1964, 7.30 Uhr, eine Aussprache mit Leutnant [Name 1] führen wollte, wurden die Ergebnislosigkeit der Suche festgestellt und entsprechende Fahndungs- und Sicherungsmaßnahmen eingeleitet.
Die bisherigen Untersuchungen der Fahnenflucht des Leutnant [Name 1] ergaben Folgendes: [Name 1] bestellte am 18.9.1964, gegen 2.45 Uhr, von der Gaststätte »Kogge« aus ein Taxi, mit dem er von Wismar nach Schönberg fuhr. Dabei sagte [Name 1] dem Taxifahrer, dass er weder einen Urlaubs- noch einen Passierschein für das Grenzgebiet habe, aber dringend dienstlich nach Schönberg müsse. Es sei Sache des Taxifahrers, ihn dorthin zu bringen. Dem Taxifahrer gelang es auch, ohne Kontrolle nach Schönberg zu fahren. Auf dem Marktplatz in Schönberg bezahlte [Name 1] 45,00 MDN und verließ das Taxi. In der Zeit zwischen 7.15 bis 9.00 Uhr suchte er seine Wohnung in Groß-Molzahn, [Kreis] Gadebusch (Nähe der Grenze) auf, wo er sich Zivilkleidung anzog. Am 18.9.1964, gegen 9.00 Uhr, wurde durch Waldarbeiter im Bereich der Kompanie Lankow beobachtet, wie sich eine Person, mit NVA-Regenumhang bekleidet, in Richtung Grenze bewegte. Nach den bisherigen Ermittlungen handelte es sich offensichtlich um [Name 1].
Die Ehefrau gibt an, letztmalig am 15.9.1964 mit ihrem Ehemann zusammengetroffen zu sein, wobei er erklärt habe, lange Zeit nicht nach Hause zu kommen, weil er zum Ernteeinsatz ginge. Bei einer Aussprache über die weitere Perspektive sagte er seiner Frau, »dass man nie weiß, wie lange man noch Offizier ist«. Als [Name 1] am 18.9.1964 seine Wohnung aufsuchte, befand sich die Ehefrau bereits in ihrer Arbeitsstelle. Sie stellte die kurzfristige Anwesenheit des Ehemannes nur an der vorgefundenen Uniform und den fehlenden Zivilsachen fest. Nähere Hinweise über den Aufenthalt des Ehemannes konnte sie nicht geben.
[Name 1] stammt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater ist 1944 gefallen und die Mutter 1945 verstorben. [Name 1] verließ 1953 die Grundschule aus der 8. Klasse und erlernte das Malerhandwerk. Am 10.3.1958 trat er freiwillig in die NVA ein. Er besuchte von 1958 bis 1959 eine Unteroffiziersschule und von 1960 bis 1961 einen Kurzlehrgang an der Offiziersschule Frankenberg. Von 1961 bis 1962 war er Zugführer in der Grenzkompanie Lankow, GR Schönberg, in deren Bereich er jetzt fahnenflüchtig wurde. Seit 1963 war er Zugführer im Ausbildungsbataillon 6.
Aufgrund von Vorkommnissen (unsittliche Annäherung gegenüber Unterstellten) wurde er im Oktober 1963 mit zehn Tagen Arrest bestraft und zum Ausbildungs-Bataillon Wismar versetzt, wo er einen guten Dienst versah. Am 10.7.1964 erfolgte seitens des Bataillons-Kommandeurs mit [Name 1] eine Aussprache wegen Annahme von Westzigaretten von einem wegen Krankheit entlassenen Soldaten. Anfang August 1964 erfolgte vor der PKK der Brigade eine erneute Aussprache mit [Name 1], weil es wiederum Hinweise auf unsittliches Verhalten des [Name 1] gab. Bei dieser Aussprache wurde ihm im Wiederholungsfalle mit einer Bestrafung gedroht.
Die Ursachen der Fahnenflucht sind offensichtlich in der Angst vor einer Bestrafung wegen der unsittlichen Handlungen des [Name 1] zu suchen.
Durch das MfS wurde dem Kommandeur der 3. Grenzbrigade bereits im Juli 1963 vorgeschlagen, aufgrund der anormalen Neigungen des [Name 1], dessen weitere Eignung als Offizier zu überprüfen und seine Entlassung vorzunehmen. Diesem Vorschlag wurde jedoch nicht zugestimmt.